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Krieks
Als Dani beobachtete, wie seine Nachbarn einzogen, lag die Nacht bereits felsenschwer über dem Haus. Im Schneidersitz hockte er auf dem Knüpfteppich, seine Nase einen Fingerbreit hinter dem Glas des Galeriefensters. Es war dem Tal und der gegenüberliegenden Gebirgskette zugewandt, die sich vor der Unendlichkeit des purpurschwarzen Firmaments erhob. Der mächtige Rücken eines schlafenden Drachens, der seine dunklen Zacken den Sternen entgegenstreckte. Hier war Danis Rückzugsort in jenem fremden Haus, in das ihn sein Papa entführt hatte. Hier saß er, um den knarrenden Holzverstrebungen und den Wänden aus kaltem Sinterstein zu entkommen. Wie so oft, wenn das Flüstern im Gebälk ihn nicht schlafen ließ, stützte er die Ellenbogen auf die Knie, hielt seinen Kopf in den Händen und blickte hinaus in die Dunkelheit.
Wolkenschleier verdeckten das Marmorgesicht des Mondes. Dani schaute Lichtstrahlen zu, die sich durch bleichen Dunst stahlen, über die umliegenden Hügel strichen und zu Tal wanderten. Silhouetten von Föhren und Lärchen standen in stummer Wacht, schwarze Scherenschnitte im Mondschein. Auf den Wiesen und den brachliegenden Feldern glitzerte Nässe. Eine sanfte Brise trug den Geruch von feuchter Erde durch das gekippte Fenster herein. Es hatte tagelang geregnet, der Bach hinter dem Haus war über die Ufer getreten und Wasser in den Keller gesickert.
Dani hatte sich einen neuen Freund herbeigesehnt. Schon viel zu lange saß er hier oben und malte sich in Gedanken aus, wie es wohl sein würde, mit einem Gleichgesinnten die Umgebung zu erkunden. Vielleicht würden sie mit selbstgebastelten Schleudern auf Blechdosen schießen und Räuber und Polizei spielen. Oder nebeneinander im Gras liegen, die schneebedeckten Gipfel beobachten und sich Geschichten von den tollkühnsten Bergsteigern ausdenken. Danach konnten sie im Schaukelstuhl auf der Terrasse sitzen und ein Glas frisch gepressten Apfelsaft trinken.
Aber es gab niemanden und das nächste Dorf lag eine Stunde zu Fuß entfernt. Er vermisste das alte Haus sehr. Das neue war ein Gefängnis, in dessen leeren Kammern er allein und ohne Orientierung herumwandelte. Hinter jeder Ecke lauerten neue, drängende Fragen, deren Antworten ihm niemand geben konnte und ihm war bereits nach wenigen Tagen schwindelig. Vielleicht hatte das etwas mit der Höhe zu tun? Sein Papa hatte gesagt, die Luft hier oben sei dünner, aber dafür viel reiner als in der Stadt. Wenn er ins Freie trat, fühlte er sich, als laste die Schwere des Hauses auf ihm, wohin er auch ging. Auf der Suche nach Antworten stolperte er lediglich über traurige Echos aus der Vergangenheit, die zwischen den Wänden dieses seltsamen Hauses widerhallten. Draußen rollten sie von den Steilhängen herab wie Gerölllawinen, die ihn unter sich zu begraben drohten. Wieso mussten sie hierherkommen? Was war mit Papa geschehen? Würde Mama sie überhaupt finden können, an diesem abgelegenen Ort?
Papa hatte einen Firmenwagen für den Umzug geliehen. Zwei seiner Kollegen halfen beim Zusammenbau der Möbel und dann waren sie runter in die Stadt gefahren, um Pizza zu essen. Dani hatte ihren Gesprächen nicht folgen können, zu sehr war er damit beschäftigt, an Mama und seinen verlorenen Freund zu denken. Aber er hörte immer wieder ein Wort, das Papas Kollegen benutzten. Es klang wie Psikater und Dani fragte sich, ob sie vielleicht eine Katze bekommen würden. Zurück in seinem Zimmer grübelte er, was seinen Papa wohl so wütend gemacht hatte. Die Fahrt über die Passstraße war unangenehm gewesen, weil Papa den Wagen viel zu schnell durch die engen Kurven steuerte. In seinem Herz gab es doch sonst immer genügend Platz für Katzen, er hatte ihm sogar eine aus Plüsch zu Weihnachten geschenkt. Nur die Vögel mochte er nicht, ja, hasste sie regelrecht. Das war eine der vielen Eigenschaften, die Dani nie an ihm verstanden hatte.
Die beiden jedoch, die jetzt unter dem schwachen Mondlicht den Kiesweg hochknirschten, besaßen weder Auto noch viel Gepäck. Dani fragte sich, wieso sie so spät eintrafen und wer sie sein mochten. Ein kleinerer, schmächtigerer Schatten ging neben einem größeren her, beide hatten sie aufgestapelte Kartons in den Händen. Dort wo sich der Weg gabelte, stand eine einzelne Straßenlampe. Dani erkannte einen Jungen, ungefähr in seinem Alter. Er trug eine rote Wollmütze und eine Jacke, die ihm viele Nummern zu groß war, sodass sie bis zu den Knien reichte und seinem Gang etwas Watschelndes verlieh. Seine Kartons drohten ihm über den Kopf zu rutschen.
Die andere Gestalt war nur schlecht auszumachen. Ihre Konturen schienen zu fließen und mit den Schattierungen der Nacht zu verschmelzen, wurden manchmal eins mit ihnen und dann konnte er sie nicht mehr unterscheiden. Dani musste sich anstrengen, damit er besser sehen konnte. Sie war hochgewachsen und dürr, ihr Rücken stark gekrümmt, als wäre das Gepäck unheimlich schwer. Ein Federkragen wippte bei jeder Bewegung auf und ab. Wenn sie einen schwerfälligen Schritt machte, zogen die Stiefel glänzende Schwärze mit sich, als wate sie durch klebriges Pech. Die Gestalt mied das Licht und wich seinem neugierigen Blick aus. Jedes Mal, wenn der Mond eine Lücke zwischen den Wolken fand, blieb sie stehen und wartete, bis sie sich wieder geschlossen hatte. Dani war unsicher, ob es sich bei der Gestalt um die Mutter oder den Vater handelte.
Vor dem Schein der Lampe blieb sie stehen. Verharrte regungslos und hob dann den Kopf, der hoffnungslos überdimensioniert erschien im Vergleich zum schlaksigen Körper, aber vielleicht gehörte das zum Spiel der Nacht und war nur eine ihrer Täuschungen. Dani hatte das Gefühl, die Gestalt blicke direkt zu seinem Fenster hoch. Instinktiv duckte er sich und biss sich dabei auf die Zunge. Ein Kribbeln wie von Sprudelwasser in seinem Mund. Erst dachte er, die Gestalt würde nicht weitergehen, sondern dort in der Auffahrt stehenbleiben und weiter zu ihm raufstarren. Doch dann legte sie den Kopf schief, als würde sie überlegen oder abwägen, was sie als Nächstes tun sollte, wandte sich schließlich ab und stakste um die Lampe herum. Von ihrem Gesicht hatte Dani nichts erkennen können. Nur eine Nase, so lang wie ein Schnabel, stach aus dem Federkleid ihres Kragens hervor.
Dani dachte nicht länger darüber nach, er war froh, endlich Gesellschaft zu haben. Morgen würde er mit dem Jungen sprechen und eine Runde ums Haus drehen, ihm die pfeilschnellen Fische im Bach zeigen, deren Schuppen bei Sonnenlicht wie kleine Sternschnuppen funkelten. Sie würden mit ihren Gummistiefeln durch die nassen Wiesen waten, hinauf auf den Hügel, wo eine verwitterte Holzbank stand und die beste Aussicht auf den See im Tal bot. Bei Tag zeigte er ein wunderschönes, türkises Leuchten. Mit diesen Gedanken schlich er zurück in sein Zimmer, bedacht darauf, Papa nicht aufzuwecken. Dessen Schnarchen drang regelmäßig aus dem Wohnzimmer und der Fernseher redete dazu leise vor sich hin. Unter Danis Sohlen knarrten die Dielen der Galerie.
»Papa, darf ich dich etwas fragen?«
»Natürlich Dani«, sagte sein Papa, blickte über den Rand seiner Zeitung hinweg und faltete sie zusammen. Legte sie neben seinen Teller, auf dem eine angebissene Brötchenhälfte lag. Seine Tasse Kaffee dampfte, hauchte ihr würziges Aroma in die Küche und weckte Erinnerungen an Zuhause, an ihr richtiges Zuhause, wo Mama noch bei ihnen gewesen war. Vor Dani stand eine Schale Cerealien, in der ein silberner Löffel steckte. Er hatte sein Frühstück noch nicht angerührt und blickte auf das Gemisch aus Haferflocken und Beeren. Honig färbte den Quark gelb.
»Wieso sind wir hierhergekommen?«
Papa räusperte sich.
»Du weißt doch, was ich dir erzählt habe? Wir müssen eine Weile in diesem Haus bleiben. Nur bis Mama zurückkommt.«
»Das dauert aber ganz schön lange.«
»Ich verstehe dich, Dani. Ein Junge in deinem Alter braucht seine Freunde.«
»Ja.«
»Und er braucht seine Mutter.«
Dani nickte und strich über die gezackte Schneide des Brotmessers, fühlte die Schärfe des Stahls. Vielleicht konnte er mit ihm die Antworten rausschneiden, aus diesen gefühlsleeren Worthülsen, die von irgendeinem verborgenen Ort im Innern des Labyrinths zu ihm hervordrangen. Papa trank einen Schluck seines Kaffees.
»Nur leider kann ich im Moment nichts daran ändern. Sie wird bald wieder da sein, das verspreche ich dir. Ich vermisse sie ja auch, sehr sogar. Aber diese Ausstellung in New York ist eine einmalige Chance für sie. So etwas wird nicht mehr so schnell passieren, das musst du bitte verstehen.«
»Aber wieso ruft sie denn nie an?«
»Sie ist beschäftigt, Dani. Sie wird bestimmt bald was von sich hören lassen. Diese Kunstsache bedeutet ihr alles. Du weißt doch selbst, wie viel Zeit sie im Atelier verbracht hat.«
»Wieso haben wir die Staffelei nicht mitgebracht? Sie könnte doch auch hier malen.«
»Dani ...«
»Ich verstehe einfach nicht, wieso wir hier in diesem seltsamen Haus auf sie warten müssen.«
»Weil ich nicht immerzu an sie denken will.« Papas Stimme war auf ein Flüstern zusammengefallen und seine Stirn in Falten gelegt, als überlege er angestrengt, was er noch sagen könnte.
»Ich will zurück nach Hause.«
»Nein, willst du nicht!« Nun waren seine Worte scharf wie das Brotmesser. »Das ganze Gebäude riecht nach ihr, selbst die Tapete im Kinderzimmer hat den Duft ihrer Haut angenommen. Du würdest kein Auge mehr zutun! Der früher so wunderschöne Wintergarten, der nun um seine welken Bewohner trauert, würde dir keine Freude mehr bereiten. All die wunderschönen Bilder ... Du könntest sie nicht mehr ansehen!«
»Papa ...«
»Das Haus raubt mir den Atem, es erwürgt mich mit seinen Erinnerungen. Und dann erst die Vögel! Die machten uns doch wahnsinnig. Wir müssen hier unseren Kopf freikriegen, Dani, einfach mal ausspannen! So wie’s Jungs unter sich halt machen, verstehst du?«
»Sie wird bald zu uns zurückkommen, versprochen«, fügte er sanfter hinzu, als er Danis Gesichtsausdruck bemerkte. »Gib ihr noch etwas Zeit. Wir wohnen hier nur vorübergehend und dann wird alles wieder, wie’s vorher war.«
»O-okay.«
»Gut. Willst du nichts essen?«
»Nein.«
»Wie du möchtest, Dani. Ich werd mal rausgehen und eine Runde an der frischen Luft drehen. Bisschen joggen, die alten Knochen fithalten. Du kannst mitkommen, wenn du willst. Schau mal, heute besucht uns sogar die Sonne. Ist es nicht schön hier?«
Er stand auf und verschwand im Badezimmer. Die Uhr über dem Esstisch tickte. Der Holzschnitt eines Buntspechts war ins Zentrum des Ziffernblatts eingearbeitet. Dani senkte den Blick und starrte auf sein Müsli. Dumpf rollten die Schläge der Uhr an sein Ohr. Tick-tock, tick-tock. Nein, hier war es nicht schön. Selbst bei gutem Wetter durchdrang etwas Dräuendes die ansonsten frische Bergluft. Ein Geruch, der ihn an das Atelier seiner Mutter erinnerte, an die vielen Farben dort. Aber hier rochen sie anders, nach Ammoniak, als wären die Chemikalien in ihnen verrottet wie faulige Äpfel.
Dani schob die Schale beiseite und lehnte sich über den Tisch, griff Papas Zeitung und schlug sie auf. Hielt seine Nase über die Buchstaben und roch die Druckerschwärze. Auf der Seite, die sein Papa zuletzt gelesen hatte, prangten mehrere viereckige Kästen. In ihnen kurze Texte mit Datumsangaben, teilweise standen kleine Kreuze daneben. Sie war komplett in Schwarzweiß gehalten und weckte mit ihrer bildlosen Schlichtheit Gefühle in Dani, als wäre der Schmerz in ein Meer aus Buchstaben geflossen. Oben am Rand stand in dicken Lettern ein Titel, den er angestrengt zu entziffern versuchte.
Als er die Spülung hörte, legte er die Zeitung zurück an ihren Platz, schnappte den Löffel und begann langsam zu essen. Aber es schmeckte pampig und nach altem Karton, da legte er ihn wieder weg. Papa hatte sich umgezogen und kam in die Küche zurück. Bevor er zur Tür hinaushuschen konnte, fragte Dani: »Papa, hast du unsere neuen Nachbarn schon gesehen?«
»Welche Nachbarn?«
»Der Junge. Und sein Vater, glaub ich.«
»Achso. Ja, stimmt, die sind heute Morgen vorbeigekommen, als du noch geschlafen hast. Der Junge scheint nett zu sein. Wirst dich bestimmt schnell mit ihm anfreunden.«
»Vielleicht kann ich nachher mal rübergehen.«
»Ich glaube, sie wollten den Bus nehmen und runter an den See fahren. Du wirst ihn sicher bald kennenlernen.«
»Schön. Vielleicht nehmen sie mich ja mal mit.«
»Ganz bestimmt. Dani?«
»Ja, Papa?«
»Was siehst du, wenn du nachts dort oben am Fenster hockst?«
»Ich denk nach. Ob ich hier Freunde finden kann. Und an Mama. An sie denke ich viel. Ich habe Angst, dass ihr etwas passiert ist.«
Da sackte Papas fröhliche Miene in sich zusammen und seine Mundwinkel zitterten, als wäre ihm plötzlich kalt. Heftig schlug er die Tür hinter sich zu, überließ Dani seiner Einsamkeit. Das Ticken der Uhr schwoll an und ab. Es klang wie das entfernte Trommeln eines Spechts, der im Innern des Mechanismus verzweifelt gegen die Zeit anklopfte.
An diesem Abend lag Dani in seinem Bett und die Leere eines weiteren verlorenen Tages füllte seinen schweren Kopf. Der Junge und sein Vater waren nicht wieder aufgetaucht, obwohl er stundenlang am Fenster auf sie gewartet hatte. Er musste sie beim Abendessen verpasst haben oder vielleicht war er kurz eingenickt.
Regen prasselte gegen das Fenster und Schlieren verwischten die Konturen des gegenüberliegenden Gebäudes zu einem unförmigen Tintenfleck. Lag der andere Junge vielleicht ebenso in seinem Bett und dachte an ihn? Bestimmt suchte auch er nach einem Gleichgesinnten, mit dem er spielen und sich austoben konnte. Väter waren einfach nicht geeignet dafür. Dani klammerte sich so fest an diese Gedanken der Zweisamkeit, dass sich seine Finger in der Bettdecke verkrampften.
Dann zog der schwarze Strudel ihn wieder in seine Kreise. Wie ein Trichter, der seinen Mund immer weiter öffnete, ihn um seine Achse drehte und stetig tiefer hinabzog, kopfüber auf das Loch in seinem Zentrum zu. Dort unten schwebte ein Lichtlein, ein zartes Glühen umgeben von undurchdringlicher Finsternis. Es flackerte und er strengte sich an, es rechtzeitig zu erreichen. Dieses Licht war kostbar und es durfte nicht auslöschen! Je intensiver er mit allen Vieren vorwärts ruderte, desto langsamer wurde die Rotation des Strudels. Schließlich erkannte er die züngelnde Flamme einer Kerze. Bevor er seine schützend ausgestreckten Hände an ihr verbrannte, hörte er ein Geräusch. Der Trichter löste sich auf und zusammen mit dem weichen Untergrund des Betts manifestierten sich der klobige Schatten seiner Kommode und der lange Hals der Stehlampe im Zimmer. Was war das? Es schien direkt aus der holzvertäfelten Wand neben seinem Bett zu kommen. Kratz. Kratz. Knacks.
Krieks.
Dani stützte sich auf und hielt ein Ohr an die Wand. Nichts zu hören, nur das Pochen des Regens trommelte eine verträumte Melodie. Da kam das Geräusch zurück. Erst leise, als würde jemand durch das Holz auf ihn zukriechen, dann lauter, wie kratzende Fingernägel. Dani lauschte angestrengt, es entfernte sich, schlug einen Bogen und kam dann erneut auf ihn zu. Es war jetzt ganz nah bei seinem Ohr.
»Ich bin hier«, flüsterte eine helle Kinderstimme. Dani machte einen Satz, riss mit einer hektischen Bewegung den Kopf von der Wand und purzelte beinahe vom Bett. In den Handgelenken drückte der Puls, in seinen Ohren das Rauschen von Wildwasser. Letzte Woche hatte er mit Papa die Stromschnellen besucht und damals entfaltete ihr Tosen eine beruhigende Wirkung, aber das war jetzt anders.
»Wer bist du?«
»Ich heiße Dilan.«
»Was ... was machst du hier?«
»Ich bin der Junge von nebenan. Ich habe dich gestern oben am Fenster gesehen. Ich dachte, vielleicht könnten wir zusammen spielen.«
Dani zögerte, dann sagte er: »Ja, das würde mir gefallen. Ich bin so allein. Dein Name klingt seltsam. Den habe ich noch nie gehört.«
Dilan lachte leise.
»Für mich klingt der ganz normal, ich hatte ja nie einen andern. Wie heißt du?«
»Ich bin Dani.«
»Dani. Ja, das klingt nett.«
»Danke. Ich sollte eigentlich schlafen. Vielleicht können wir uns morgen treffen?«
»Ja, vielleicht.«
Wieder ein Kratzen. Sägemehl rieselte aus einem kleinen Loch in der Wand. Dani hielt seine Hand darunter, damit es nicht seine Bettdecke einstäubte.
»Ich bin gleich bei dir. Komm doch etwas näher.«
Dani beäugte das Loch. Kratzte mit einem Finger daran herum, aber wollte sich keinen Splitter einfangen, deshalb legte er seinen Kopf wieder an die Wand. Späne piksten und kitzelten seine Ohrmuschel.
»Nein. Du kannst mich gleich sehen. Schau hindurch!«
»Wirklich?«
»Ja. Ich bin da.«
Das Loch war tief und schmal, verengte sich, bis hin zu einem Punkt, wo das blinzelnde Auge des anderen Jungen auf ihn wartete. In seiner Pupille spiegelte sich das Flackern einer Kerze.
»Ich habe keine Geschwister, mit denen ich spielen könnte. Meine Freunde sind alle unten im Tal geblieben«, sagte Dilan.
»Ich hab auch keine Freunde hier und meine Mama ist weit weg.«
»Dann sind wir schon zwei. Ich vermisse sie auch.«
»Bist du nur mit deinem Papa hier, so wie ich?«
»Ja.«
»Wieso wohnt ihr in diesem Haus? Es sieht nicht sehr gemütlich aus.«
»Um Heilung zu finden, hat Vati gesagt. Aber ich weiß nicht, was er damit meint. Manchmal macht er mir Angst.«
»Wieso bist du in der Wand?«
»Damit der Krieks mich nicht findet.«
»Der Krieks?«
»Ich muss jetzt gehen. Ich glaube, Vati sucht nach mir«, sagte Dilan hastig und verstummte. Sein Licht war erloschen. Der Regen hatte aufgehört und Stille nagte an den Überresten der Nacht. Dani kniete im Bett, seine fiebrige Stirn weiterhin an die Wand gedrückt. Eine Hand voll Sägemehl, das zwischen seinen Fingern auf das Kopfkissen herunterrieselte. Wie Sand, der keinen Schlaf brachte.
Auch am nächsten Tag traf Dani den Jungen namens Dilan nicht.
Er saß auf seinem Bett und blickte zum Schuppen hinüber. Nur nachts wirkte er wie ein echtes Haus, im Tageslicht zeigte er seine morsche und abgesplitterte Bretterhaut. Dort bewegte sich nichts. Hinter den rechteckigen Löchern, die von den schmutzverkrusteten Scherben eingeschlagener Scheiben gekränzt waren, gähnte nur Schwärze, dunkler noch als Teer. Aber manchmal glaubte Dani, er sehe das Flackern eines Kerzenscheins, ganz schwach, als würde jemand seine Hand davorhalten. Jemand, der durch die Finsternis stolperte und von seinem Weg abgekommen war. Dani glitt von der Bettkante herunter und ging zum Fenster.
Ja, da war ein Lichtlein. Dilans Lichtlein! Zögerlich kam es näher, drohte zeitweise auszugehen, als ziehe ein Wind durch die Ritzen ins Innere des Schuppens, obwohl sich draußen kein Grashalm regte. Dann konnte er die Kerze erkennen und die Umrisse von Dilans Gesicht. Bleiches Wachs tropfte ihm über die Finger. Sie war fast heruntergebrannt. Dani winkte ihm zu und hoffte, ihm so etwas Trost spenden zu können. Der andere Junge winkte zurück und trat noch einen Schritt näher ans Fenster heran. Legte seine Handfläche auf das kalte Glas. Dilan tat es ihm gleich, wobei er aufpassen musste, sich nicht an den kantigen Bruchstellen der Scheibe zu verletzen.
Dani bemerkte, dass ihm der Junge auffallend ähnlich sah. Er trug immer noch seine rote Wollmütze und darunter lugten ein paar blonde Haarsträhnen hervor. Auch Dani hatte eine Wollmütze, seine war blau, und wenn er sie trug und sich im Spiegel beobachtete, wie er das manchmal tat, schaute ebenso ein blonder Schopf darunter hervor. Dilans Nase war kurz und stupsig, genau wie seine eigene. Eine kleine Schweinchennase, so hatte Mama sie immer genannt. Sogar das kleine Grübchen auf der Wange, das von einer Narbe herrührte, die er sich beim ersten Versuch im Treppensteigen zugezogen hatte, war identisch. Wenn auch auf der linken anstatt auf der rechten Backe. Dani strich mit einem Finger darüber und sie kitzelte. Als Dilan gleich darauf dasselbe tat und zu ihm herüberlächelte, fühlte er eine tiefe Verbindung zu diesem anderen Jungen.
Aber da, hinter ihm bewegte sich etwas! Ein hoher, dürrer Schemen schälte sich aus der Finsternis des Schuppens und franste in zahlreiche Gliedmaßen aus. Wie eine schwarze Hand mit zu vielen Fingern legte er sich über den Jungen, als wolle er ihn in seiner Schattenfaust zerdrücken. Bevor Dilans Kerze erlosch, sah Dani die Zähne. Hunderte spitzer Zähne, unterarmlang und gebogen in alle Richtungen, die in einem so grotesk aufgerissenen Schnabel saßen, dass er zu hören glaubte, wie sich die Lederhaut in seinen Winkeln spannte. Dieser Schnabel stülpte sich über den Kopf des Jungen und der ausladende Kragen fächerte gierig auf, ein zweiter Rachen aus Federn. Dann wurde es schlagartig finster hinter dem Fenster. In Danis Kehle klemmte ein Schrei. Er fuhr herum und blickte mit tränenverschleiertem Blick durchs Zimmer. Papa stand in der Tür.
»Was ist los?« In seiner Stimme schwang ernsthafte Besorgnis mit.
»Ich habe etwas gesehen. Dort drüben!«
»Vor dem Fenster? Was ist da?«
»Der andere Junge. Er ist eingesperrt in dem Haus! Ich glaube, er ist in Schwierigkeiten.«
»In welchem Haus?«
Dani drehte sich um, hob seinen Arm, um auf den Schuppen zu zeigen. Aber dort lag nur die einsame Auffahrt. Der halbkahle und knorrige Apfelbaum fächerte mit seinen Ästen Sonnenstrahlen auf.
»Eben war es noch da.« Dani spürte frische Tränen, sie zogen heiße Spuren über seine Wangen. Liefen über das Grübchen hinab und tropften auf sein T-Shirt.
»Ich weiß wirklich nicht, was du gesehen hast, Dani. Muss ich mir Sorgen machen? Dort draußen ist nichts.«
»Papa ...« Es war nur ein Flüstern.
»Komm, setz dich mit mir in die Küche. Dann reden wir darüber, okay?«
Er nickte widerwillig. Papa versuchte ein Lächeln und drehte sich um, stapfte durch den Flur davon. Dani schaute noch einmal aus dem Fenster, aber der Schuppen blieb verschwunden. Im Apfelbaum jagte sich eine Gruppe Krähen durchs verbliebene Blätterwerk.
Als Dani die Küche betrat, saß Papa versteinert da und starrte die Tischplatte an.
»Sag mir, was passiert ist«, murmelte er, ohne aufzublicken, und wartete dann stumm, bis sich Dani an den Tisch gesetzt hatte und mit erzählen begann.
Seine Stimme klang dünn und sie zitterte, frische Tränen rannen ihm über die Wangen, er schmeckte Salz und Rotz auf den Lippen. Er musste seine Geschichte immer wieder unterbrechen, weil er sich an ihren Worten verschluckte und sie ihm im Hals stecken blieben. Bei der Stelle angekommen, an der Dilan von dem Wesen mit den vielen Zähnen verschlungen wurde, überschlug sich seine Stimme und Papa hob den Kopf. In seinen Augen lag ein eisiger Glanz, eine sonderbare Leere. In ihr Danis Spiegelbild, das aus ungreifbaren Tiefen heraufschimmerte, ein verlorener Punkt am Boden einer Gletscherspalte. Dani fühlte sich, als falle er in diese starrenden Augen hinein. Ihm gegenüber saß nicht mehr sein Papa.
»Moment mal, soll das witzig sein?«, fragte der Andere und hatte nicht nur Papas Aussehen gestohlen, sondern auch dessen Sprechweise. »Dilan. Ich bin dir auf die Spur gekommen, junger Mann! Bist ein ganz schön schlauer Kerl. Ist Dilan vielleicht dein Phantasiefreund?«
»Nein, er ist echt. Ich hab ihn gesehen!«
»Dani, hör auf damit.«
»Du glaubst mir nicht.«
»Es gibt keinen Jungen namens Dilan und sein Vater ist auch nicht verrückt. Das hast du dir nur eingebildet. Das alles nimmt dich ganz schön mit. Aber weißt du, deshalb sind wir hier. Um Heilung zu finden.«
»Was soll das sein?«
»In deinem Körper, Dani, befinden sich jede Menge Nerven. Sie laufen in deinem Hirn zusammen. Mit ihm, dem Gehirn, fühlst du auch das in dir drinnen, deine Gefühle. Manchmal aber reagieren die Nerven so heftig und der Druck wird so stark, das man eine Pause braucht. So wie wir. Eine Pause, um sein Inneres wieder zu heilen. Kinder fühlen es auch, aber Erwachsene noch viel stärker. Verstehst Du?«
»Ich möchte das nicht fühlen.«
»Dann hör auf, ständig dran zu denken. Du bildest dir offensichtlich schon Dinge ein, das ist nicht gesund.«
»Was ist mit dir?«
»Was soll schon mit mir sein?«
»Du siehst ... so anders aus.«
»Aber du bist doch derjenige, der sich verändert hat, Dani.«
»Ich will, das Mama endlich anruft.«
Aus dem Flur schrillte das Klingeln des Telefons. Dani krallte sich an die Tischplatte und der Andere schwenkte seinen Kopf hin und her, auf der Suche nach der Quelle des Geräuschs, als wäre er schwerhörig. »Aber sie ruft doch an«, höhnte er mit einem Kichern in der Stimme, das Gesicht dabei eine Mimikry der Steinwände. »Hörst du’s denn nicht? Lauf hin und heb ab!«
Dani zögerte, aber er konnte den Andern nicht länger ansehen, also glitt er vom Stuhl. Seine Knie fühlten sich an wie Wackelpudding. Ohne sich umzudrehen, tapste er in den Flur. Kaum hatte er ihn betreten, strauchelte er und der Fußboden sprang ihn an, kam ihm auf der einen Seite gefährlich nahe, als hätte er sich geneigt und würde gleich unter ihm wegkippen. Dani musste aufpassen, mit seinen Wollsocken nicht abzurutschen, und wollte sich abstützen, aber griff ins Leere. Sein linker Fuß stand nicht mehr auf der Höhe des rechten. Der Flur schwankte hin und her, seine kahlen Wände drängten nach innen, klemmten ihn ein, dazwischen hörte Dani seinen eigenen erstickten Atem, und der Flur erstreckte sich immer länger, hin zu einem winzigen, dunklen Viereck an dessen Ende. Dort stand das Telefon auf einem Möbelchen und klingelte drängelnd. Über ihm hing ein Lampenschirm, in dessen Innern nervös eine Birne flackerte. Sie erinnerte ihn an Dilans Kerze. Das Klingeln des Telefons veränderte sich, es klang gedämpft, weiter entfernt. Er musste den Hörer unbedingt erreichen! Dani wollte losrennen, aber da bemerkte er, dass er bereits direkt neben dem Apparat stand.
»Ja ... Hallo?«
»Hallo Dani.«
»Wer ist da? Dilan?«
»Nein.«
»Wer bist du?«
»Ich bin hier. Bei Mama.«
»Wo ist sie?«
»Du musst mir jetzt gut zuhören.«
»...«
»Versteck dich. Irgendwo, wo der Krieks dich nicht findet.«
»Wo?«
»Kriech in den Backofen. Kopf voran. Dort hast du genug Platz und bist sicher vor seinem Blick.«
»Ich will dort nicht rein.«
»Du darfst ihm nicht in die Augen schauen, hörst du? Egal was du tust, schau ihn ja nicht an!«
»Du machst mir Angst.«
»Warte, bis er weg ist, und dreh dich niemals um. Bis du dir ganz sicher bist. Hast du das verstanden, Dani?«
»J-ja ... Wer bist du?«
Darauf kam keine Antwort, nur ein Knacksen in der Leitung. Die Glühbirne war mit einem Poff! ausgegangen und er lauschte verkrampft, den Hörer an den Kopf gepresst. Unter das Schweigen schlich irgendwann ein unstetes Rauschen, an- und abschwellend wie Atemzüge, zusammen mit einem sich steigernden Klicklaut, bis Dani glaubte, der Hörer beiße ihn ins Ohr. Rasch ließ er ihn sinken. Vor seinen weit aufgerissenen Augen verformte sich der Apparat zu einem schnabelförmigen Ding voller Zähne, die aus dem aufgeweichten, tropfenden Plastik stachen so lang und spitz wie Nadeln. Bevor sie zuschnappen konnten, ließ er den Hörer fallen.
Aus der Küche erklang unterdrücktes Krächzen.
Dani schlich auf leisen Sohlen durch den Flur, der aufgehört hatte, sich zu verformen, aber nach wie vor keine rechten Winkel bildete und irgendwie schief hing, als wäre ein Teil des Fundaments weggebrochen. Langsam setzte Dani einen Fuß vor den anderen. Er wollte nicht in die Küche zurückgehen und vor allem wollte er nicht in den Backofen kriechen. Auf seiner Brust saß ein Klotz, der ihm unaufhaltsam auf Herz und Lungen drückte. Was passierte mit Papa? Die Geräusche aus der Küche wurden lauter, zu dem Gekrächze kam ein Zerren und Poltern, als würde er den Tisch verschieben oder Stühle umwerfen.
Gegen seinen Willen, festgefroren vor Angst, aber dennoch erfüllt von kindlicher Neugier, blickte er in den Raum. Er vermied es, Papa anzusehen. Durch die Küchenfenster fiel kein Tageslicht, dort draußen gab es nichts mehr, die Hügel und die Auffahrt waren verschwunden, die Bergkette und das Tal von einer undurchdringlichen Finsternis verschluckt, als hätte nie etwas anderes existiert. Auf Tisch, Waschbecken und Kochnische brannten Dutzende Kerzen. Wachs tropfte stetig an ihren bleichen Fingern herunter. Sie tauchten den Raum in rötlich-gelbes Licht, das Schatten über die Wände tanzen ließ. In ihnen wurde Dani Zeuge einer schrecklichen Verwandlung.
Der größte dieser Schatten gehörte Papa, aber bald hatte er nichts mehr an sich, was ihn als Menschen erkennen ließ. Seine Arme waren zu geschwungenen, krallenbesetzten Auswüchsen verformt, die ihn an die Flügel von Fledermäusen erinnerte. Zu viele, als dass sich Dani darauf konzentrieren konnte, sie zu zählen, aber es mussten mindestens vier pro Körperseite sein. Mit ihnen flatterte er herum und verwirbelte einen ätzenden und stickigen Gestank in der Luft, blies die Kerzen aus, die zu nahe bei ihm standen. Anstelle eines Halses besaß er einen von Spitzen besetzten Kragen, aus dessen Zentrum ein langer, gebogener Schnabel herausstach. Wenn er ihn öffnete, so wusste Dani, würde er auf der Wand die Schatten seiner messerscharfen Zähne sehen können.
Darauf wollte er nicht warten. Er bemerkte das schwere Ticken der Uhr über dem Esstisch. Die Schläge schienen sich zu verlangsamen und dann gänzlich zu stoppen. Fasziniert beobachtete Dani, wie sich der Buntspecht aus ihrem Ziffernblatt löste. Zuerst stak nur der Schnabel aus dem Holz, dann erschien das blau und rot gefiederte Köpflein, feine Holzspäne rieselten herunter, als er es schüttelte. Schließlich presste er seine Flügel durch das Loch und flog mit einem kräftigen Zwitschern aus der Uhr hervor, raste an Dani vorbei und den Flur hinunter. Ohne zu überlegen, weshalb er das tat, rannte Dani dem Vogel hinterher.
Er bog ab, flog durch die offenstehende Kellertür und verschwand. Einen Augenblick zögerte Dani, dann krachte der Tisch gegen die Wand und er folgte ihm. Tapste, so schnell es ging, die steilen Stufen der Treppe hinunter, musste acht geben, nicht zu stürzen, weil sie für seine kurzen Beine viel zu hoch waren. In Nischen, die in die Wände eingelassen waren, standen Kerzen und es fühlte sich an, als würde er in das uralte, vergessene Burgverlies hinabsteigen, dass er einmal in einem Ritterfilm gesehen hatte. Hinter sich hörte er das Klicken von Krallen auf dem Steinboden. Der Krieks war ihm auf den Fersen und holte auf! Wo nur war der Specht geblieben? Dani hoffte, dass er ihm den Ort zeigen würde, wo alles wieder normal war, dass er einen Weg dorthin kennen würde, falls es in diesen endlosen labyrinthischen Kammern überhaupt irgendwo einen Ausgang gab.
Dani kletterte die letzte Stufe hinunter und stand im Keller. Eiskaltes Wasser schwappte ihm um die Beine, durchnässte seine Hosen bis zum Bund. Fröstelnd schaute er sich um. Stetig troff Wasser aus den Wänden, presste sich durch Ritzen im Gestein, die sich wie weitverzweigte Narbenlandschaften darüber zogen. Auf einem Werkzeugregal hockte der Specht und zwitscherte lautstark, um Danis Aufmerksamkeit zu erregen. Mit dem Schnabel zeigte er energisch gegen die Wand, dort hinter den Metallstreben des Regals befand sich eine dunkle Stelle, ein Fleck auf dem Mauerwerk, der ihn magisch anzog. Dani konnte nichts erkennen. Er musste weiter in den Raum hinein. Das Klicken der Krallen auf der Treppe war nah und er hörte den Schnabel des Krieks an den Wänden entlangschaben.
Gelenkt von Panik platschte Dani durch diesen unterirdischen See voller Kälte, die in ihn hineinkroch und sich in seine kleinen Knochen legte. Bereits in der Hälfte fühlte er seine Zehen nicht mehr. Bevor er den Specht erreichte, spürte er ein Ziehen um seine Beine. Das Wasser floss immer stärker und schneller auf diesen einen Punkt unter dem Regal zu, zog ihn von den Füßen und er fiel rücklings in die Fluten. Vor Schreck nahm er einen Schluck, Eis rann ihm die Kehle hinab, es schmeckte brackig und nach Erde. Ein unaufhaltsamer Sog zerrte ihn weiter nach vorne, beschleunigte ihn, als würde er Stromschnellen hinunterschießen. Dann verschwand er in dem kleinen Loch, das sich unter dem Regal in der Wand befand. Dani verstand nicht, wie er überhaupt dort hindurchpassen konnte, es war viel zu klein, dennoch verschluckte es ihn mit Haut und Haar. Das Letzte, was er hörte, war das wütende Krächzen des Krieks und wie seine Flügel das Wasser aufspritzten, das Bersten und Splittern von Regalen. Danach war es still und nur ein leises Rauschen, irgendwo weit unter ihm in der Erde, drang an seine Ohren.
Verwundert schaute er sich um.
Er lag auf einem schmalen Balkon, der mit einem farbenprächtigen Blumenmosaik überwachsen war und ihm Sicht über eine weitläufige Höhle bot, von deren Decke Stalaktiten, so krumm wie Wurzeln und so spitz wie Dornen, herunterhingen. Aus verschiedenen Nebengängen fiel Wasser und raunte in abgrundlosen Tiefen. Im Zentrum der Höhle erhob sich ein Gebilde aus Stein, thronte auf einem massiven Sockel aus nacktem Fels, dessen Wände in ewige Dunkelheit abfielen. Dieser Monolith hatte die Proportionen eines Vogels mit angelegten Flügeln und die Struktur von Marmor. Die schwarzen Adern bildeten verworrene Muster, die ihn schwindlig werden ließen, je länger er sie bestaunte. Dani konnte die Ausmaße dieses Wunderwerks nicht erfassen.
Außerdem schien es bewohnt zu sein. Im Innern musste sich eine Stadt befinden, denn das Äußere war übersät mit kleinen viereckigen Öffnungen, hinter denen Fackeln brannten. Winzige Türmchen und Erkerchen zierten seinen Bauch und die mächtigen Flügel, bildeten das Federkleid des steinernen Riesenvogels. In seinen massiven Schnabel waren die Ziffernblätter Hunderter Uhren eingearbeitet. Ihr knochenweißes Rund und die Zahlen darauf teilweise asymmetrisch, als wären sie unter starker Hitze zerschmolzen und tropften nun langsam in den Schlund hinab. Sie besaßen keine Zeiger und schienen nicht zu funktionieren.
Dani überlegte, was für eine Art von Vogel das Gebilde darstellte und entschied, dass es sich um einen Specht handeln musste. Da flog sein gefiederter Freund an ihm vorbei und setzte sich auf die Brüstung des Balkons. Schlug zweimal kräftig gegen das Holz unter dem Blumenteppich, ließ goldene Sporen aufstäuben. Ein Fünkchenregen, Traumsand, der in die Finsternis entschwebte. Was wollte er ihm diesmal zeigen? Dani musste ihm vertrauen, es blieb nichts anderes übrig.
Er erhob sich, achtete darauf, nicht zu viele Blütenköpfe zu zertreten, und stellte sich neben seinen gefiederten Freund. Dieser zeigte mit seinem Schnabel hektisch nach unten. Aber dort war nichts zu sehen und Dani musste sich abwenden, weil das Gefühl, in diesen bodenlosen Schacht runterzufallen, ihn überwältigte, selbst wenn er nur kurz hinschaute. Doch der Specht ließ nicht locker. Wieder und wieder wippte er nach vorne, zeigte mit seinem Schnabel in den Abgrund. Dann hob er ab, schoss wie ein Stein in die Schwärze und flatterte erneut nach oben. Das wiederholte er ein paar Mal und setzte sich zurück zwischen die Blumen.
Nein, das konnte er nicht verlangen! Nie im Leben würde sich Dani dort hinunterstürzen. Wieso musste er das tun? Der Vogel blickte ihn an. Komm, schien er zu sagen, fliege mit mir hinab, hab keine Angst vor den Gefühlen, auch wenn dir dein Papa was anderes beigebracht hat. Ergründe mit mir die Wurzeln all deiner Fragen und gemeinsam trocknen wir sie aus. Folge mir und finde Erkenntnis in den finstersten Kammern dieses Hauses, das auf einem fremden Berg steht, über einem fremden Tal und einem unbekannten See, das Gebäude selbst ist ein Rätsel, aber in seinem Innern birgt es eine ganze Welt voller Antworten. Vergraben zwischen den feinen Schattierungen der Dunkelheit, die so viel mehr ist als nur Schwarz, sollst du sie finden. Erkenne auch in ihren düstersten Windungen ein Abglanz vom Licht. Scheue nicht, bis zuunterst in diese Dunkelheit einzutauchen, denn nur in ihrem Grund liegt die Wahrheit begraben. Selbst Erwachsene spüren Furcht, sich ihr zu stellen, da sie oft einen bitteren Geschmack hinterlässt und nur selten Erlösung bringt, aber immer eine Form der Erkenntnis. Du bist stärker und tapferer als so manch einer von ihnen! Folge mir und deine Suche wird ein Ende haben. Das verspreche ich dir.
War das wirklich die Lösung? Sich in den Schlund zu stürzen? Ansonsten blieb ihm nur, sich dem Purgatorium dieses seltsamen Ortes zu ergeben und für immer hier gefangen zu bleiben. Dagegen schien selbst der Tod die bessere Wahl. Er hatte nicht viel von dem verstanden, was ihm der Vogel mitteilen wollte, die Worte waren in seinem Kopf verhallt, ein verwirrendes Durcheinander, doch sie brachten die Erinnerung an Danis Lichtlein zurück. Vielleicht hatte der Vogel das damit gemeint, als er vom Licht in der Dunkelheit gesprochen hatte.
So wischte er die frischen Tränen von seinen Wangen und mit einer Courage, die ihn selbst erstaunte, drehte er sich um, trat einen Schritt von der Brüstung weg und schloss die Augen. Mit den Füßen stieß er sich ab, machte einen hohlen Rücken, um seinen Körper über das Geländer schieben zu können, kreuzte die Arme vor der Brust und fiel nach unten.
Als er seine Augen öffnete, bemerkte er zuerst den Schnee.
Er fiel von einem kaleidoskopischen Himmelsgewölbe ohne Sterne, das im Zenit zu einem gefrorenen Tintenfleck verlief, wo sich das spärliche Restlicht wie in Kristallglas brach. Um ihn herum wirbelten weiße Wolken im Kreis, bildeten eine hohle Säule, durch deren windlosen Tunnel die Eiskristalle auf ihn herunterrieselten und mit feinen Nadelstichen auf der Haut zergingen.
In Danis Rücken piksten spitze Gegenstände und er drehte seinen Kopf zur Seite, bemerkte ein Geflecht aus abgebrochenen Hölzern und Stängeln, die kunstvoll ineinandergewoben und so arrangiert worden waren, dass sie einen Kreis von mindestens drei Metern Durchmesser bildeten. Auf seltsame Weise erinnerte ihn das Gebilde daran, wie gerne er früher Mama dabei zugeschaut hatte, wenn sie Adventskränze flocht. Zwischen den Ästlein bemerkte er etwas, das aussah wie graue Wollknäuel.
Dani erhob sich und Frost küsste sofort seine Wangen. Er krabbelte an den Rand des Nests, dabei stachen ihn die Spitzen der Hölzer in die Haut und er schrammte sich das Handgelenk auf. Weinend vor Erschöpfung schmiegte er sich in den schützenden Wall aus Zweigen, der ihn davor bewahrte, weiter in dieser endlosen Tiefe zu versinken. Er hatte das Gefühl, nun ganz unten angekommen zu sein. Hiervon musste der Specht gesprochen haben. Aber wo waren die Antworten? Wo das Licht? Wieder gab es nur Fragen, sonst nichts, dieser Ort schien aus ihnen zu bestehen, eine Materialisierung seiner Verzweiflung, die leise im Wind flüsterte. Wie hatte er so töricht sein können, zu glauben, es wäre vielleicht diesmal anders. Der Specht hatte ihn betrogen!
Kaum war der Gedanke verhallt, hörte er das Gekrächze des Krieks. Ein Gelächter, das von allen Richtungen auf ihn eindrang, Geräusche so markerschütternd, als würde jemand qualvoll gefoltert, aber zöge auf irgendeine verdorbene Weise, die Dani nicht verstand, Freude oder Belustigung aus einer solchen Tortur. Für ihn stellte es die Verkörperung des absoluten, puren Wahnsinns dar. Je lauter es wurde, desto rapider sank die Temperatur. Wölkchen bildeten sich vor Danis hektischer Atmung.
»Daniel! So hast du mich also gefunden. Ich habe immer gewusst, dass du ein kluger Junge bist. Na, wie gefällt’s dir?«, kreischte der Krieks, wirbelte auf seinen acht Schwingen durch den Wolkentrichter und riss faserige Löcher hinein.
Dani fehlte die Kraft, irgendetwas zu erwidern und wenn er es tat, so war es nur ein Flüstern, das im dämonischen Tumult des Krieks unterging. Er kauerte sich in den Holzkranz, machte sich so klein wie möglich, damit er dem geflügelten Ungeheuer möglichst wenig Angriffsfläche bot. Vielleicht hatte es eine Schwachstelle, überlegte er. Doch um diese zu finden, musste er hinsehen. Musste den Krieks ansehen, sich seiner Angst stellen, bis aufs Letzte und Äußerste, musste die Essenz des Krieks verstehen, vielleicht fand er dann etwas, womit er ihn besiegen konnte.
»Was siehst du mich so an, Dani? Hast du etwas anderes erwartet? Es ist nicht der schönste Ort, aber wir werden es überleben. Wir sind stark, hörst du? Hier unten sind wir sicher, hier kann uns niemand was antun.«
Danis Kehle fühlte sich an, als stecke ein glitschiger Aal in seinem Hals fest. Er hustete und der Krieks kreiste mit grausamem Lachen über ihm. Mit jedem seiner Flügelschläge geriet der Wolkenstrom mehr in Bewegung, zirkulierte schneller und schneller, bis Dani sich im Auge eines Wirbelsturms fand, der gefährlich am Astwerk des Nests zerrte. Mit Schrecken stellte er fest, dass sich bereits vereinzelte Zweige lösten und graue Wollbällchen mit dem Schnee durch die Luft stoben.
»Du musst wissen, ich kann nichts dafür, das alles so geworden ist. Du bist mein Sohn. Ich beschütze dich, das ist meine Aufgabe. Da draußen in der Welt gibt es gefährliche Dinge, Dani. Dinge, die erbarmungslos sind, für Väter ebenso wie für deren Kinder. Sie können uns tief verletzen, aber ich bin da für dich. Für immer und ewig. Das ist unser Versteck und niemand weiß, das wir hier sind.«
»Und was ist mit Mama? Wieso willst du nie über sie sprechen?« Es war so leise, dass er seine Worte wiederholte, diesmal bestimmter. Der Krieks hielt inne in seinem Wirbeln und stürzte mit gespreizten Krallen auf ihn herunter, verfehlte das Nest um Haaresbreite, nur um sich erneut mit lautem Gekrächze emporzuschwingen.
»Mama ist an einem anderen Ort, weit weg von hier. An einem Ort, wo wir sie nicht erreichen können. Irgendwann werden wir sie wiederfinden, aber erst nachdem unser Heilungsprozess abgeschlossen ist. Bis dahin halten wir sie in unseren Herzen verborgen, weil wir sonst krank werden und an unserer Verzweiflung ersticken.«
»Das ist eine Lüge.«
»Waas?«
»Du lügst. Du willst nur, dass ich sie vergesse, damit ich bei dir bleiben muss!«
»Gemeinsam werden wir das durchstehen, diese drängenden Fragen aus deinen Augen wischen. Hör mir zu und du wirst alles verstehen.«
Der Krieks stieß erneut auf ihn herunter und Dani rollte im letzten Moment zur Seite, wo er sich kurz zuvor noch zusammengekauert hatte, rissen die Krallen Material aus dem Nest und ein Regen aus Zweige prasselte auf ihn nieder. Selbst vor der Zerstörung seines eigenen Zuhauses machte der Krieks keinen Halt. Dani war sich sicher, wenn er ihn erwischte, brachte er ihn um, es war egal, was er behauptete. Ob Vater oder Krieks, Mensch oder Ungeheuer, die leeren Worte blieben dieselben und machten keinen Unterschied.
Immerzu sprach er von ihm. Seinem Sohn. Aber er wollte nur das absolut Schlimmste für ihn, vielleicht war das der Grund, warum der Krieks überhaupt existierte. Bedeutete das, er selbst, Dani, den er immer noch liebte, war seine Schwäche? Konnte er damit den Fluch brechen, unter dessen Herrschaft er so lange gelitten hatte? Entweder schaffte er es, ihn mit diesem Wissen zu vernichten, oder es erwartete ihn lebenslange Sklaverei im Hort des Krieks. Dani musste einen letzten Versuch wagen, bevor der Funke, der jetzt zögerlich wie Dilans Lichtlein in ihm glomm, endgültig erlosch. Das schuldete er sich selbst.
Da kam ihm ein Gedanke und er kniete sich nieder, ignorierte das tosende Gelächter über ihm so gut es ging, riss Zweige und verbliebene Knäuel aus dem Gewirr des Nests, warf sie achtlos hinter sich und legte eine kahle, knöchrige Fläche frei, deren Wölbung er bald unter seinen klammen Fingern spürte. Im Nest, verborgen unter Zweig und Ast, lag ein Ei.
Dani schöpfte neue Zuversicht. Je mehr er von dem Ei freilegte, desto aggressiver wurden die Schreie des Krieks und er intensivierte seine Sturzangriffe. Aber Dani war klein und wendig, obwohl ihn der Frost gebissen hatte und er am ganzen Körper schlotterte. Das letzte Aufbäumen verlieh ihm neue Kraft, eine Kraft, die er bisher nicht gekannt, die sein Leben lang irgendwo in seinem Innern geschlummert und darauf gewartet hatte, endlich aufgeweckt zu werden.
Musste er das Ei zerstören, um dem Krieks zu schaden? Mit seinen Knöcheln klopfte er dagegen, es schien hart wie Stein. Dunkle Adern, in denen Fäulnis pochte, überzogen dessen bleiche Oberfläche und trotz seines tristen Erscheinungsbilds strahlte eine Wärme von ihm ab, als wäre eine Sonne unter seiner Schale eingesperrt.
»Was tust du da?«, schrie der Krieks, vollkommen außer sich. Sein Getobe steigerte sich ins Unermessliche, Wind riss einen Großteil des Holzkranzes mit sich und Äste und Schnee wirbelten in einem wilden Durcheinander um Dani herum, so dass er kaum noch etwas erkennen konnte. Entschlossen drückte er mit beiden Händen auf das Ei, stemmte sein ganzes Gewicht dagegen, in der Hoffnung, die harte Schale würde unter dem Druck nachgeben und aufbrechen. Vogeleier waren nicht sehr hart und man musste vorsichtig mit ihnen umgehen, das wusste er von Mama, sie hatte ihm oft davon erzählt, wenn sie vor der Voliere sassen und deren Bewohner auf ihren Schätzen hockten und sie ausbrüteten.
Als hätte dieser Gedanke die Schale aufgeweicht, spürte er, wie sie plötzlich nachgab. Das war seine Chance! Mit aller verbliebenen Kraft schlug er beide Fäuste auf das Ei. Seine Hände brachen durch und versanken in warmer, fleischiger Substanz, die ihm wie schwarzes Blut an den Fingern klebte. Das Geschrei des Krieks hatte sich verändert, in Wut oder Schmerz oder beides zusammen, so genau wusste Dani es nicht, seine Konzentration galt nur dem Ei. Als der Krieks zu einem weiteren Stoß ausholte, war das Loch in der Schale groß genug, dass Dani sich hineinzwängen konnte. Die Krallen schabten über die Oberfläche des Eis hinweg, kurz nachdem er im Innern verschwunden war, und rissen einen Teil der Schale fort.
Nun war es still, Dani hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können, dass die zähe Flüssigkeit ihm Nase und Mund verstopfte, aber dennoch strömte ungehindert Luft in seine Lungen. Ein grelles Licht flutete seine Wahrnehmung, blendete alles andere aus. Wärme schmolz das Eis aus seinem Körper. Eine Kontur zeichnete sich vor dem weißen Schleier ab, zuerst ein unförmiger Torso, danach wuchsen ihm Arme und Beine, schließlich ein Kopf und dann sah er sie: Hier war Mamas Gefängnis, im Ei des Krieks. Die Schatten wichen aus ihrem bildhübschen Gesicht und sie lächelte ihm entgegen. Ein Engel aus Licht.
»Dani«, sagte sie und ihre Stimme klang genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. »Du hast mich gefunden. Ich hatte Angst, dass du mich vergessen hast.«
»Niemals«, schluchzte Dani und rannte auf sie zu, stolperte über unsichtbare Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten. »Der Krieks wollte mich davon abhalten, aber ich habe ihn überlistet.«
»Du bist ein tapferer, kleiner Mann.«
»Ich liebe dich, Mama.« Nun konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, aber zum ersten Mal seit langer Zeit waren es Tränen des Glücks und der Erleichterung. »Wie kommen wir hier heraus?«
»Du kannst jederzeit gehen, Dani. Aber ich fürchte, dass ich nicht mit dir mitkommen kann.«
»Aber wieso denn nicht?«
»Du musst etwas verstehen. Es ist sehr wichtig, dass du es verstehst. Eigentlich weißt du es bereits, aber du willst es nicht wahrhaben. In dieser Beziehung bist du ganz dein Vater. Ich bin tot, Dani, und es gibt kein zurück mehr für mich.«
»Nein!«
»Magst du dich erinnern, wie ich mich immer öfter ins Atelier zurückgezogen habe, um zu malen? Ich verschloss mich damals vor der Wirklichkeit, genau wie du. In mir wuchs ein Schatten, der immer stärker mein Bewusstsein trübte, mich aus meinem eigenen Körper verdrängte. In meinem Kopf waren schlimme Gedanken, die ich nicht abstellen konnte, sie drehten sich wie eine Spirale und ich fühlte mich so leer und allein. Der Schatten raubte mir alles und wegen ihm ist irgendwann auch meine Beziehung zu Papa in tausend Scherben zerbrochen. Wir wollten uns trennen, aber wussten nicht, wie wir dir das sagen sollten. Siehst du, auch uns fehlen manchmal die richtigen Worte.«
»Also lebst du noch.«
»Nein. An diesem Abend, als wir zu meiner letzten Ausstellung fuhren, hatte dein Papa zu viel getrunken, weil er es mit mir nicht mehr aushielt. Er konnte nicht mehr fahren und wir verunglückten. Für mich war dieses Ereignis tödlich, Papa hat es knapp überlebt. Sie haben ihn eingesperrt, er sitzt jetzt im Gefängnis.«
»Aber ...«
»Du wohnst bei deinen Großeltern, Dani. Sie kümmern sich gut um dich, aber sie sind schon alt und ich fürchte, sie werden nicht mehr allzu lange leben. Deshalb musst du jetzt deine Augen öffnen und deinen eigenen Weg im Leben erkennen. Es gibt viele Pfade, die aus der Düsternis herausführen. Finde den deinen, bevor es zu spät ist. Es tut mir so unendlich leid.«
Ihren letzten Worten fehlte die Kraft und Dani hatte Mühe, sie zu verstehen.
»Ich kann das nicht«, flüsterte er.
»Ich weiß, es ist schwer. Aber du bist schon so weit gekommen. Wenn du in den Himmel schaust und die Vögel siehst, wirst du wissen, dass ich bei dir bin.«
»Die Vögel ...«
»Ja.«
»O-okay.«
»Dann öffne jetzt deine Augen.«
Das Licht verlor an Saturation. Aus dem Weiß formten sich die Konturen eines Hauses, eine Veranda, darauf ein Schaukelstuhl, weiter weg die Silhouetten von Nadelbäumen. Das war ein ihm sehr vertrauter Ort, das spürte er, konnte ihn jedoch nicht richtig einordnen. Jemand rief seinen Namen.
»Dani!«
Er kniete am Boden und seine Hosenbeine waren mit Dreckwasser vollgesogen. Vor ihm stand die ausladende Voliere. Bunte Vögel flatterten darin umher oder turnten akrobatisch über das Astwerk. Sie zwitscherten vergnügt. Schwerfällig stand Dani auf, seine Beine waren ganz wackelig. Er drehte sich zu der Stimme und erkannte, wer da gesprochen hatte. Sämtliche Last fiel von ihm ab, ein schwerer Rucksack, dessen Träger er endlich abstreifen konnte und er glaubte ihn in den Dreck platschen und im matschigen Gras versinken zu hören, als wäre diese Last etwas Körperliches gewesen, das er nun abgestoßen hatte, etwas, das einmal ein reales Gewicht besessen hatte, aber jetzt nurmehr so flüchtig war, wie der Atem, den er in kräftigen Zügen in seine Lungen sog. Er fühlte sich wie ein schwebender Luftballon.
»Hast du wieder fremde Vögel gefüttert?«, fragte Großmutter und kam herüber, erhob dabei ihre von Altersflecken übersäten Arme und machte Bewegungen, als wolle sie einen Störenfried verscheuchen.
»Kusch!«
Eine Krähe stob protestierend zum Himmel und setzte sich in den Apfelbaum neben dem Haus. Dann erfüllte eine ungewohnte Stille Danis Kopf und er spürte das Sonnenlicht auf seinem Gesicht. Trotz der Wärme hatte er eine Gänsehaut. Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte er. Großmutter strich ihm über den Kopf, stieg dazu auf die Zehenspitzen, weil er so viel größer war als sie, und da erinnerte er sich, wusste, wo er sich befand und dass er nun in Sicherheit war. Lachend umarmte er sie.