- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Kreislauf
Wenn draußen ein Kind schreit, schaut die Alte mit den entblößten Brüsten hin; sie scheint gierig zu sein, man sieht es, wenn man in ihre Augen blickt. Sie malt sich die Gründe aus, die dieses Kind zum Schreien verleitet haben und knetet ihren Busen.
Auf dem roten Tischtuch bemerkt man nicht das Blut, das die zweite Frau, sie ist die jüngste, verliert. Es tropft warm zu Boden. Sie stützt ihren traurigen Kopf mit der Hand, da ihre Haare ihr zu schwer sind, und versucht das schmatzende Geräusch zu unterdrücken: Das Blut tropft warm. Dann trocknet es kalt und schmatzt zufrieden, berührt man es. Sie blutet aus dem rechten Musikantenknochen. Die drei anderen Älteren hatten sie sanft am Arm genommen und mit drei Nadeln hinein gestochen. Einst habe sie Harfe gespielt, hatte sie erzählt. Es sei ein schönes Instrument gewesen.
„Ich habe etwas nettes bekommen“, sagt die Älteste mit dem neidgelben Haar. „Es ist ein Gedicht.“ Sie blickt den anderen fordernd in die Augen und erntet stummen Beifall. Die Ägyptische, mit den Federn auf dem Kopf, blickt stumpfsinnig verloren umher. Die Knochen der Ältesten, die sehr mager ist, knacken, da sie versucht, aufzustehen. Sie hat Schmerzen – das sehen die anderen, tun jedoch nichts, lassen sich nichts anmerken, und unterdrücken nur mühsam ein Grinsen – Schmerzen hat die Älteste, denn sie ist alt, und so setzt sie sich wieder hin. Draußen schreit ein Kind, und die mit dem entblößten Busen und der Schleife im Haar, fragt sich, ob es dasselbe wie vorher ist, und drückt fester zu. Die Älteste blökt, sie solle nicht immer aus dem Fenster starren, sonst würde sie gepeitscht. Aber das Rote hinter dem Fenster fasziniert sie so. Sie muss lächeln: Es ist fast, als ob die Welt gleich unterginge. Sie dreht den Kopf und blickt die Älteste an, die ein Papier hervorgezogen hat.
„Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. / Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster / zwischen die Zähne geklemmt. / Als ich von der Brust aus / unter der Haut / mit einem langen Messer / Zunge und Gaumen herausschnitt, / muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt / in das nebenliegende Gehirn. / Ich packte sie ihm in die Brusthöhle / zwischen die Holzwolle, / als man zunähte. / Trinke dich satt in deiner Vase! / Ruhe sanft, / kleine Aster!“ Als die Älteste aufschaut, beginnen die andern zu kichern.
„Schönes kleines Gedicht.“ – „Ja, wahrlich. Ist es von Goethe?“ – „Nein, nein, das kann nicht sein, das ist, ach, mir fällt es nicht ein, es ist, es ist... Mallarmé, Bargeld, nun, hm, hm, nein, Ball, Benn, Schiller?“ – „Geh, es ist keiner von denen... ein Fünkchen von Villon, vielleicht ein kleiner Brecht, Heym, Trakl?“ – „Hat etwas von Rimbaud, nein, Baudelaire, ach! Lasker-Schüler?“ – „Nein, nein, das hat keine Frau verfasst...“ – „Ja, nein... keine Frau, das ist zu grausam für eine Frau.“ – „Für eine Frau, zu grausam, ja... nein, nicht von einer Frau.“
Die mit der Schleife knetet ihren Busen. Sie blickt zum Fenster hinaus. Sie sieht, wie einer in zerlumpter Kleidung von Kindern die Straße herunter gejagt wird. Er sieht mager aus, denkt sie. Unter den Kindern ist ein Mongoloide, ein Missgebildeter. Er ist glücklich, denn die anderen gehen nicht auf ihn los. Er sieht die Alte mit der Schleife, die ihren Busen knetet, und steckt den Finger in die Luft, wie als ob er sich meldete, um in der Schule das Wort erteilt zu bekommen. Die Alte ekelt sich vor ihm, doch drückt sie noch fester zu. Der Kleine streckt den Finger noch weiter in die Luft, als wolle er jetzt abfliegen. Ein Tropfen Milch fließt aus dem Busen der Alten, ihre Hand schmerzt, sie schaut angespannt den kleinen Jungen an. Da nimmt er die Hand schnell runter und verschwindet. Sie flucht leise, lässt los und wischt ihre Hand am Tischtuch ab.
Die Ägyptische, mit den schwarz geschminkten Augen, blickt stumpfsinnig verloren umher.
Etwas schmatzt. Die Älteste erhebt sich stöhnend, und als sie steht, krächzt sie wieder los.
„Der einsame Backzahn einer Dirne, / die unbekannt verstorben war, / trug eine Goldplombe...“ – Sie macht eine Pause und schnauft. Das abgenutzte Stück Faden, das die dunkelgrüne Gardine hält, reißt. Es wird dunkel. Die Älteste krächzt nicht mehr, sondern fällt um. Man ruft um Hilfe. Man schweigt. Man sagt, man solle endlich das Licht anmachen.
Die Ägyptische, mit der großen falschen Rose an der Schläfe, blickt stumpfsinnig verloren in die Dunkelheit.
Ein Mann kommt herein. Er habe die Hilferufe gehört, sagt er. Durch die offene Türe fällt Licht auf den toten Körper der Ältesten. Sie hat den Mund weit aufgerissen, als wolle sie einen Vokal rezitieren.
Die Jüngste, deren Blut inzwischen geronnen war, zieht die Gardine wieder auf die Seite. Das rote Licht von draußen wird von einem Goldzahn im Gebiss der Ältesten reflektiert. Das habe ich nicht gewusst, denkt die mit der Schleife. Der Mann sagt, er sei Handwerker. Er nimmt eine Zange aus der Tasche.
Die Ägyptische, mit dem giftgrünen Kleid, blickt verloren auf den Mund der Ältesten. Der Mann sagt, er sei Handwerker. Er umfasst den Zahn mit der Zange, reißt ihn der Verstorbenen heraus und legt ihn auf den Tisch. Auf dem roten Tuch bemerkt man das Blut nicht. „Nein, so was“, sagt die Alte mit der Schleife, die sich nicht mehr die Brüste knetet, die nun die Älteste ist, „das habe ich nicht von ihr erwartet.“
Die Ägyptische, mit dem dummen Blick, nimmt den Zettel, den die ehemals Älteste krampfhaft festhält, und legt ihn auf den Tisch. Sie liest nicht. Sie starrt verloren auf den Goldzahn.
Auf dem Papier steht: „Der einsame Backzahn einer Dirne, / die unbekannt verstorben war, / trug eine Goldplombe. / Die übrigen waren wie auf stille Verabredung / ausgegangen. / Den schlug der Leichendiener sich heraus, / versetzte ihn und ging für tanzen. / Denn, sagte er, / nur Erde solle zur Erde werden.“