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Bühnenstück Kreatur Mensch

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29.01.2010
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Kreatur Mensch

Bühnenbild: Aufwachsaal in einem Spital. Im Fokus des Scheinwerfers ein Bett, in dem ein weißer Haarschopf und ein bleiches Gesicht sich beinah nur durch die unterschiedliche Zeichnung von Haaren und Falten gegenüber dem Webmuster der Laken, voneinander abheben.

Imaginärer Beobachter, nur als sonore Stimme hörbar, gibt eine „Einführung für die Zuschauer“: Der Patient erlebt die Gegenwart und erinnert sich fragmentarisch an die vergangenen Monate. Seine Sinne sind derzeit erheblich beeinträchtigt, was sich in seinen in Worte gefassten Gedanken spiegelt. Anfänglich erzeugte ein starkes und konstant eingesetztes Cortison-Medikament im Rahmen einer Basistherapie, in ihm euphorische Gefühle. Die Schmerzen, welche unerwartet über Nacht eingetreten waren, erfuhren erst nach zweieinhalb Monaten des Leidens, mit dem endlichen Beginn gezielter therapeutischer Maßnahmen, Beruhigung. Von seinem Hausarzt, Lehrbeauftragter an einer Universität, trennte der Patient sich mit dem Vorwurf, er habe seine Interessen und Bedürfnisse aus eigennützigen oder fahrlässigen Gründen erheblich missachtet.
Mit dem Ausklingen der Basistherapie, welcher die erkannte schwere Psoriasis-Arthritis-Erkrankung zugrunde lag, traten erneut sukzessiv starke Schmerzen und Behinderungen auf, die die Erträglichkeit infrage stellten. Die Symptome ließen vorerst auf einen erneut starken Schub dieser zerstörerischen Entwicklung vermuten. In der folgenden Untersuchung bestätigte sich dies jedoch nicht. Die radiologisch bildgebenden Verfahren, die ursprünglich erhoben wurden, zeigten im Körper einige Veränderungen, von denen eine sich für die auftretenden Schmerzen direkt anbot. Eine starke Verengung des Spinalkanals in der Lendenwirbelsäule, an drei Stellen über zwei Wirbel hinweg. – Es waren sich alle einbezogenen Ärzte einig, die Nervenbahnen wurden an dieser Stelle massiv drangsaliert. Einzig der Neurochirurg, welcher kurz vor der nun zu erfolgenden Operation beigezogen wurde, begegnete diesem Standpunkt mit Skepsis. Dem waren inzwischen drei Monate vorangegangen, in denen man versuchte, mit schwerer und sich wechselnd steigender Medikation, die Schmerzen zu unterbinden. Erfolglos – ebenso wie die Operation.

Als meine Augendeckel sich nach der Vollnarkose öffneten und wieder schlossen, wirkte es mir wie ein Blick in ein schwabbelndes Grau von Nebelschwaden. Das Bewusstsein war träge, doch die Empfindung von schmerzfrei vermochte sich auszubreiten. Dieses Gefühl war im Moment beherrschend, nichts anderes zulassend, nach Monaten mit beständigen Schmerzen, die mich - der sich nicht schmerzempfindlich wähnte -, an den Rande des Erträglichen führten. Der Höhepunkt war in der Nacht zum 24. Dezember aufgetreten, als Kreatur Mensch schien ich auf den nackten Wahnsinn gestoßen zu sein, den höchsten Schmerzlevel 10.​

Imaginärer Beobachter: Ah, er kehrt zurück. Sein Gesicht wirkt entspannter als vor der Operation, die er mit großer Erwartung antrat. Das Cortison, welches hochdosiert der Infusion beigegeben wurde, tat seine Wirkung. Sein schmales Gesicht ist bleich, die weißen Haare wirr, als hätten sie sich gesträubt und wollten sich nun keiner Ordnung fügen. Der Faltenwurf im Gesicht, die Zeichnung langanhaltender Schmerzen, bilden mit der Wirrnis den einzigen Kontrast gegenüber dem grellen Laken, das ausgenommen dieser Partie ihn zudeckt.

Einem Zeitraffer gleich öffnet sich in ihm eine Innenschau.

Leiden konnte ich jahrzehntelang meist als Außenstehender begleiten, die Ursachen mitfühlend verstehen zu versuchen und Lösungen anzunähern, doch wissend um die Unerreichbarkeit des subjektiv schmerzlichen Empfindens der Betroffenen. Mich hatte es vor knapp über 10 Monaten ereilt, als ich eines Morgens kaum mehr beweglich, nur noch mühselig aufstehen konnte. Kreuzschmerzen waren schnell behoben, eine Dehnungsübung für den Rücken brachte hierzu Linderung. Das Erschrecken war umso heftiger, als ich merkte, dass meine Beine, dem Befehl zu laufen, nur zögerlich nachkamen. Trippelnde Schritte waren möglich, doch kein normales Gehen, geschweige denn zügiges Fortschreiten. Eine Blockade hatte sich meiner bemächtigt, zu der ich keine Antwort hatte und auch in der einschlägigen Fachliteratur keine Lösung fand. Die Schmerzen bauten sich zusehends auf, ließen mich rätseln, welcher Facharzt mir treffende Hilfestellung bieten könnte. In jener Nacht hatte ich wie einen Arthrose-Schub im Körper verspürt, obwohl nie betroffen, ordnete ich es entsprechend so zu. Nur die Blockade wollte zu diesem Krankheitsbild nicht passen.​
Trippelnden Schrittes, der in der Öffentlichkeit heiteres Aufsehen erregte, begab ich mich nach einer Woche erfolgloser Selbstregulationsversuche in die Praxis meines Hausarztes. Einige Tage später eine erste Untersuchung, dem sich eine Anmeldung in der Radiologie anschloss, präzis dem klinischen Handbuch folgend. Der Hausarzt nahm sich inzwischen Ferien, nein eine zwischenzeitliche Behandlung von mir durch seinen Stellvertreter wollte er nicht, wie es die Praxisassistentin anregte. Ihr Gesicht hatte Verständnislosigkeit ausgedrückt, mir blieb dieser Entscheid auch unklar, doch hoffte ich auf die sedierend überbrückende Wirkung der Medikamente. NSAR, Nichtsteroidales Rheumatikum, bilden eine Gruppe entzündungshemmender Schmerzmittel, die bei bestimmten Krankheitsformen das Mittel der Wahl bilden. Ich hatte solches schon eingenommen, bevor ich meinen Hausarzt aufsuchte und die vorläufige Selbstdiagnose Arthrose stellte. Nach einigen Tagen schwoll mein Bein an, ein Ödem hatte sich ausgebreitet. Zur Not halfen eine Nummer größere Schuhe und sofortige Absetzung des Medikaments. Auch das neue Medikament, welches er verordnete, zählte zu dieser Gruppe, und er war überzeugt, dieses rufe kein Ödem hervor. Nach drei Tagen musste ich auch dieses absetzen, zu seinem Zorn, als er aus den Ferien heimkehrte. Die Zeit zog dahin, der Schmerz blieb, die Röntgenbilder zeigten einige Veränderungen, doch keine zweifelsfreien Indikationen. Nach zwei Monaten endlich, verabreichte Schmerzmittel hatten sich für mich als unzulänglich erwiesen, Überweisung an eine Fachärztin für Rheumatologie und zugleich eine in die Physiotherapie. Die Diagnose Psoriasis-Arthritis erschreckte mich nicht, war ich von Ersterem doch bereits seit zwei Jahrzehnten betroffen. Verblüffender war nach medizinischer Meinung die schnelle Entwicklung der Arthritis, welche sich ohne Vorzeichen bereits im ganzen Körper verbreitet hatte. Mit der gezielten Basistherapie schwanden die Schmerzen ins Erträgliche, bewegten sich auf einem Level, der mich aufleben ließ. Aufgrund meiner positiven Einstellung bezeichnete die Fachärztin mich alsbald als einen pflegeleichten Fall. Zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich auch als nicht Leidender, einzig das Handicap mit dem Gehen harrte noch einer Behebung. In der Physiotherapie wusste man keine Lösung für die Blockade im Gehapparat, doch das Gespräch führte ungewollt darauf zu. Um mich schneller und damit unauffälliger bewegen zu können, ließ ich mich über eine solche Möglichkeit informieren, was einen überzeichneten Bewegungsablauf mit den Armen einschloss. Noch auffälliger statt diskreter, doch nach gezieltem Einsetzen im Alltag löste sich die Blockade unvermittelt auf. Ich fühlte mich nach außen wieder als vollwertiger Mensch.​

Imaginärer Beobachter: Wie konnte es sein, das dieser gebildete Mensch, die Befunde und die Beurteilungen der Radiologie einfach so hinnahm, ohne zu hinterfragen, ob nicht unmittelbar weitere bedrohliche Szenarien bestanden. Immerhin wurden im Bericht fünf verschiedene ungünstige Veränderungen aufgezeigt, die nicht wirklich bedrohlich sein mussten, aber deren Klärung eines Behandlungsbedarfs im Einzelnen erwägenswert erscheinen ließen. Gut, die Diagnose einer Psoriasis-Arthritis nahm in seinem Denken den vollen Raum ein, weiteren Handlungsbedarf auf später verschiebend. Das Cortison gab ihm derzeit das Gefühl, trotz Erkrankung, die Leichtigkeit des Seins zu erleben.

Das Wissen um die Schwere meiner Krankheit erschütterte mich nicht, war mir doch seit jeher bewusst, dass ich die Schwelle des körperlichen Abbaus um die Zeit des 70. Altersjahrs erreichen würde. Auch als Ethiker waren meine Gedanken schon in frühen Jahren um solche Themen gekreist. Eine allgemeingültige Antwort war nicht zu finden, mehr Leitlinien und Positionssignale, die dem Einzelnen bei der Orientierung nützlich sein könnten. Für die meisten erwies sich die Angst vor Ungewissheiten und der Unausweichlichkeit eines begrenzten Lebens als absolute Hemmung, sich diesen Fragen frühzeitig und vertieft zu stellen. Mir waren die Gegebenheiten der kausalen Natur ein dienliches Indiz, wenngleich deren Gesetzmäßigkeiten keineswegs immer erkennbar, verständlich und deutbar sind. Die Kreisläufe der Vergänglichkeiten des Einzelnen, ergeben vor der sich in großen Zeiträumen immer neu entwickelnden Teilen des Ganzen, schon einen zu erahnenden Sinn, auch wenn unsere Vorstellungskraft daran scheitert, es letztlich zu erfassen.​
Nach der dreimonatigen Basistherapie, welche die Lebensqualität ungeachtet des extremen Hitzesommers auf gewohntes Niveau einpendeln ließ, unternahmen wir einen Versuch mit einem neu zugelassenen Medikament, welches einen Teil der zerstörenden Entwicklung hemmen sollte. Das Scheitern war nach wenigen Wochen gegeben, da sich zwei Unverträglichkeiten etablierten, die den Nutzen fraglich erscheinen ließen. Auch Biological, eine neue und extrem teure Medikation, erwies sich als ungeeignet, da ich nach sorgfältigem Studium der Wirkungen auf eine Eigenschaft stieß, die bei allen Medikamenten dieser Gruppe auftrat und bei mir potentiell negative Auswirkungen hätte. Also entschieden wir für das weitere Vorgehen die konventionellen Therapien.​
Knapp einen Monat später traten Schmerzen auf, die an den Krankheitsauftritt im Frühjahr erinnerten. Die Merkmale erwiesen sich allerdings als trügerisch, es war keine Intensivierung der Arthritis. Abklärungen zeigten, dass die damals in der Radiologie bemerkten Verengungen des Spinalkanals im Lendenwirbel, in dem die Nervenbahnen für den Unterkörper sich bündeln, sich als Ursache aufdrängen. Hier hatten altersbedingte Deformation und Ablagerungen durch Arthritis diese Engpässe bewirkt. Mit indizierten Schmerzmitteln war dem nicht beizukommen, auch eine Infiltration mit Cortison der betroffenen Wirbel führte zu keiner Linderung. Nach langwieriger Schmerztherapie, mit stets noch stärkeren Kombinationen, erwies sich einzig die Verbindung mit einem Morphium-Präparat als geeignet dafür, den Schmerzlevel in einem noch erträglichen Maß zu halten. Nur bedeutete dies nicht schmerzfrei und die Abhängigkeit mit seinen Konsequenzen würde sich einstellen. Ohne jegliches Zögern, da ich über Jahrzehnte die Empfindungen von Angst und eingeschränkt von Schmerzformen herabzusetzen lernte, stimmte ich einer operativen Erweiterung des Spinalkanals zu. Der sich steigernde Schmerzlevel hätte eine Notoperation angezeigt, doch ich entschied durchzuhalten und erst aufgrund sorgfältiger Berücksichtigung aller Umstände, die Knie versagten inzwischen auch ihren Dienst, was zu Stürzen führte, ordentlich terminiert operiert zu werden.​
Das Gespräch mit dem neurochirurgischen Operateur erwies sich als nicht motivierend, da er sich skeptisch über den Nutzen dieser Operation ausließ. Die Frage, was er denn für eine Ursache in den Schmerzsymptomen und dem Abbau gewisser Funktionalitäten sehe, konterte er schlicht, er wisse dies nicht. Mir Grund genug, kein Jota von meinem Entscheid operiert zu werden abzuweichen.​

Imaginärer Beobachter: Die Fassung des Patienten war schon etwas angeknackt, auch wenn er keine Miene verzog, als er unerwartet und unmittelbar vor der Operation auf eine Infragestellung des Nutzens dieser stieß. Dazu ausgerechnet von dem Neurochirurgen, der diesen Eingriff vornehmen würde. Eine Leere bemächtigte sich seiner. Sein sonst durch klare Differenzierung geprägtes Denken stand vor einem Nichts. In seinem Schmerzgedächtnis pochten die ungeheuerlichen Erfahrungen und Empfindungen der letzten zweieinhalb Monate schemenhaft aber bedrohlich, ohne sich in den Vordergrund zu schieben. Das Bewusstsein signalisierte, ohne raschmöglichstes Handeln wäre ein endgültiges Absinken der Lebensqualität unter den Nullpunkt gegeben. Mit stets zunehmender Sedierung, um der Palliativmedizin gerecht zu werden, würde letztlich erreicht werden, dass er in den Sinnen betäubt, auf den Tod hinvegetierte. Wenigstens hat er eine Patientenverfügung hinterlegt, die eine künstliche Ernährung in einer solchen Situation ausdrücklich verbot. Recht sei Dank, der Gedanke des Humanen hatte hier Oberhand.

Bühnenbild: Krankenzimmer und Teil eines Flurs. Lichtverhältnisse wechselnd mit den Tageszeiten.

Die der Operation folgenden Tage und Nächte erlebte ich zwar bewusst, aber von einer großen Menge an Schmerzmitteln durchtränkt, wie in einem unwirklichen Film. Tagesordnung war Laufen und Liegen, was infolge der schmerzfreien Betäubung sich mechanisch bewerkstelligen ließ. Das Liegen war meist von einem Dösen begleitet, das Laufen dagegen von einem vorsichtig strapaziösen tappen, da die Beine sich kraftlos anfühlten. Allerdings, das Einknicken der Knie war verschwunden.​
Die schleichende Zeit erlaubte, die vergangenen Monate erneut im Zeitraffer nochmals zu durchleben. Höhe- und Tiefpunkte blinkten auf, vermischten sich mit Gedankenfetzen, und festigten die langgehegte Erkenntnis, dass der Schmerz durchaus jedem bekannt und doch der des Andern einem immer fremd bleiben musste.​

Imaginärer Beobachter: Das Gesicht des Patienten ist maskenhaft apathisch, es vermochte schon ein Lächeln anzudeuten, doch gab es dem Betrachter den Eindruck, es sei nur ein Teil des Menschen bei dieser Funktionalität beteiligt. Nicht qualvoll gezwungen, mehr wie bei einem weggetreten sein.

In jener Nacht, als ich den stärksten je wahrgenommenen Schmerz verspürte, keine erlösende Ohnmacht stellte sich ein, fragte ich mich, worin hier noch Sinn gegeben sein sollte? Die Natur ist raffiniert und zugleich in ihrer Komplexität bei Weitem nicht durchschaubar. Sie auszutricksen mochte ein Stück weit gehen, beim Schmerzreiz jedoch beschränkt, da er sich unter Umgehung der Barrieren chemischer Keulen, neu und noch intensiver zu etablieren vermag. Liegen, stehen und laufen wechselten sich ab, die erschöpfende Müdigkeit bewirkte, dass die Lider ab und an zuklappten und wie auf Warnsignal wieder aufrissen, um nicht zu stürzen. Der erste öffentliche Sturz war mir völlig überraschend gekommen, im Parkhaus eines Einkaufzentrums, als ich auf den Lift zueilte, der gleich seine Türen schließen würde, gaben die Knie durch die beschleunigte Gangart nach. Keine Möglichkeit mich festzuhalten verspürte ich das absacken der Beine, meine Knie schlugen auf und der Dynamik folgend der Oberkörper, hart nach vorn auf den Boden aufschlagend. Ich hätte mit den Fäusten auf den Boden trommeln mögen, vermochte der unseligen Situation jedoch nur mit sanft schimpfenden Worten zu entgegnen. Am Boden auf die Wand zu robbend, gelang es mir schwerlich, mich im Winkel anstemmend langsam hochzubringen. Kein Mensch war zugegen, hier wo sonst ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, als hätte der Zeitpunkt sich mit meinem Körper verschworen, um mir eine Lektion zu erteilen. Immerhin ersparte es mir die Scham andern Leuten gegenüber, meine Hinfälligkeit auch noch in dieser Weise zu demonstrieren. Gefährlicher noch waren jene Stürze, die auf Treppen erfolgten. Obwohl eine Hand sich immer am Griff festhielt, folgte nachlassendem Halt in den Knien jeweils ein kopfüber Hinfallen über die Stufen hinweg. Verwunderlich nur, dass es bisher nicht zu Knochenbrüchen kam, da das Cortison die Entwicklung einer Osteoporose begünstigt hatte.​
Keine einzige Träne vermochte jemals den Schmerz zu begleiten. Kurz mal traten feuchte Augen auf, wenn die Gedanken an die Hoffnungslosigkeit des Gegebenen überhandnehmen drohten, doch stemmte sich da gleich der Wille dem entgegen, diesen Krieg im Körper nicht zu verlieren. Clausewitz, ein Militärstratege im ausgehenden18. beginnenden19. Jahrhundert, hatte einst den Satz geprägt, dass man eine Schlacht verlieren kann, niemals aber den Krieg. Der Schlachten waren da ihrer viele, die im Körper tobten, das Gemetzel grausam, das Leid unverständlich.​

Bühnenbild: Tristes Erscheinungsbild einer im Winter unpassenden Möblierung wie bei einem Straßencafé.

Nach zwei Tagen wollte ich wieder mal eine Zigarette rauchen, ein Genuss, den ich unter Kontrolle halte, aber schätze, was jedoch nur außerhalb des Gebäudes, in einem speziell dafür reservierten Geviert, möglich war. Diese Restriktion gilt für Patienten, Besucher und Personal gleichermaßen. Was im Sommer apart wirken mag, unter großen Sonnenschirmen standen metallene Tische und Stühle, erwies sich zu dieser winterlichen Jahreszeit als Tortur. Bei einer Temperatur wenige Grad über null saßen oder standen, alle schlotternd, die Raucher und Raucherinnen. Da ein kräftiger Wind blies, trug es die Feuchtigkeit des Regens nahezu an alle Stellen unter den Abdeckungen. Ein Areal, wie in einem Zoo musste es den dem Haupteingang des Spitals zu- oder wegströmenden Menschen vorkommen. Da war stets eine kleine Herde frierender Kreaturen, ihre Inhalation an blauem Dunst in die Luft ausstoßend. Signalisierend, ihr Sein und ihr Verlangen nicht von inhuman anmutenden Geboten verdrießen zu lassen. Wenn der eine oder andere etwa eine Lungenentzündung hineintrug, war er doch immerhin gleich am richtigen Ort, der Pflege durch das Gesundheitswesen.​

Imaginärer Beobachter: Der Patient hat schon recht, ein Anblick wie im Zoo. Die Perspektive würden sich allerdings auch wechseln lassen, da die ein- und ausgehenden Kreaturen mit verdrießlichen Gesichtern, manche mit Schirm gegen Wind und Regen kämpfend, andere in Kapuzenmäntel gehüllt, nicht minder ein komisches Bild boten. Überheblichkeit in den einen oder andern Gesichtern, das Gehege nach besonderen Artungen musternd, auf keinen Fall Blickkontakt suchend. Manche richteten den Blick starr geradeaus oder stur auf den Boden, verkniffen Gesichter, so wirkten sie nicht mitfühlend oder aufbauend, welche Art von Kranken sie auch besuchten. Pflichtübungen? Oder natürlich auch ambulante Patienten, den einen standen möglicherweise unheilvolle Diagnosen bevor.

Das unsichere Stehen, ich erinnerte mich allzu gut an die Stürze, machte mir zu schaffen. Aber sitzen, einen freiwerdenden trockenen Stuhl zu ergattern, war mir kein Anreiz. Die Kälte, durch das Metall direkt in den Körper leitend, würde unter Umständen die Wirkung der hochdosierten Medikamente unterlaufen, im Schmerzgedächtnis eine besonders perfide Form eines Reizes hervorlocken, der eine Rückkehr ins Krankenzimmer noch zusätzlich beschwerlich machte.​
Frische Luft war einzig von Labsal, nebst den wenigen aromatischen Zügen des Rauchs, im Mund an den Geschmacksnerven streichend, den Dunst dann den böigen Winden überlassend.​
Noch mochte ich mich nicht losreißen, obwohl im Visier der Zoobesucher, da die einatmende frische Luft mir ein Gefühl wie ein perlendes Wasser vermittelte. Die Kälte wurde durchdringender, die Finger langsam klamm, noch eine Zigarette, wenigstens für den Moment der Illusion mich frönend, frei entscheiden zu dürfen.​

Bühnenbild: Krankenzimmer und Teil eines Flurs.

Dank Schmerzfreiheit stand meiner Entlassung am Freitag nichts entgegen. Bei der Stippvisite des Neurochirurgen überreichte dieser einen kurzen provisorischen Austrittsbericht, ein Merkblatt Verhalten nach einer Operation an der Wirbelsäule sowie einem Rezept, ausgestellt durch seinen Assistenten, fein säuberlich in einem Couvert verpackt. Sobald der Nebel sich lichtet, könnte man es dann zu Hause lesen.​
Die Unruhe des Wartens nahm seinen Lauf. Stehen war mit Anstrengung verbunden, Sitzen auf zehn Minuten beschränkt und wenn, dann auf einem Keil, der zwar das Rückgrat trimmte, doch leidlich erträglich war. Wieder einmal hinlegen, den desorientierten Gedanken geringe Aufmerksamkeit schenkend, beim Dösen von einer Aufhängung für das Skelett träumend, die mir die Last den Körper zu tragen abnehmen würde. Oder wäre Schwerelosigkeit besser, die je nach Ausrichtung Liegen oder Stehen simulieren ließe?​
Ein Physiotherapeut erschien, freudig fragte er mich, ob ich einen Rollator zu Hause habe. Nein? Nein! Dieser würde mir das Gehen erleichtern und einen aufrechten Gang ermöglichen. Einen Moment, er verschwand, und kehrte mit einem solchen Mobilisationsgerät zurück. Ich solle dies ausprobieren. Unübersehbar klebte eine Beschriftung daran, die das Gerät als Eigentum des Spitals, Chirurgische Abteilung, auswies.​
Die ersten Schritte verblüfften mich, sie entsprachen zwar nicht Schwerelosigkeit, doch ermöglichten sie mir vergleichsweise einen beinah schwebenden Gang. Der Flucht stand damit nichts entgegen, raus, in das Gehege für Raucher. Noch einmal sich den Blicken der Betrachter preiszugeben, diesmal ordentlich gekleidet, gab ich annähernd das Bild eines Besuchers ab – mit Rollator. Warum nur, hatte man mir diesen nicht früher ausgeliehen? Er hätte wenigstens ein wenig Erleichterung bedeutet.​
Kaum wieder in der Warteschleife im Zimmer ausharrend, erschien der Physiotherapeut, den Rollator wieder vereinnahmend.​

Imaginärer Beobachter: Glaubt er denn, das Spital könnte jedem gehbehinderten Patienten die bestmöglichen Mobilisationsgeräte zur Verfügung stellen? Die schon knappen finanziellen Mittel, auch wenn es Millionen sind, die sich jährlich noch weiter kumulieren, dienen wichtigeren Zwecken. Die Forschung, das wesentlichste Antriebsrad des Gesundheitswesens, zwar ein Moloch, doch das präsentabelste Vorzeigeergebnis nebst den modernsten Apparaturen, genießen selbstverständlich Priorität.
Die Unruhe passt eigentlich nicht zu ihm, jetzt in dieser noch schmerzfreien Zeit. Die Realität wird ihn noch einholen, wenn er denn endlich zu Hause einmal das Merkblatt liest und begreift, dass das Rezept nur noch beschränkt sedierende Medikamente vorgibt, die zudem abgebaut werden sollten. Es gehört zu den Nachwirkungen dieser Operation, dass in den nächsten Wochen sporadisch Schmerzen auftreten, dies sei jedoch normal.

Das Mittagessen durchbrach die zähflüssig sich hinziehende Zeit. Es war nicht schlecht zubereitet, da ich jedoch heikel bin, vermochte es meinen Ansprüchen nur gering zu entsprechen. Einzig die Abwechslung zählte.​
Eine SMS versprach um 14:00 Uhr würde ich abgeholt, eine Perspektive, die mir Auftrieb gab. Die Zeit verging, das Warten fühlte sich noch öder an, bereits eine halbe Stunde über den Termin. Ein Blick auf die Parkanlage durch das Fenster zeigte den Weg, welche die Besucher von der Busstation her schleuste. Da, unverkennbar die grazile Figur meiner Frau, die dem Eingang zustrebte. Kein Blick zum Fenster hinauf, sonst hatte ich die Hand zur Begrüßung erhoben.​

Bühnenbild: Wohn- und Schlafräume in einem Privathaus.

War es ein Fehler, noch benebelt zu Hause die Papiere zu sichten? Das Rezept war ein Fragment dessen, was ich bis anhin an Medikamenten benötigte. Der provisorische Austrittsbericht sehr dürftig und das Merkblatt markant in seiner Anordnung, das Leben behutsam anzugehen. Die Schmerzen würden in den nächsten Wochen immer wieder auftreten, was einen Widerspruch zur neu verordneten Medikation erahnen ließ. In etwa acht Wochen würde man dann den gewohnten Alltag wieder begehen können. Die Medikamenteneinnahme sollte baldmöglichst eigenständig reduziert und dann abgesetzt werden. Direkt ermutigend wirkten diese knappen Instruktionen und Hinweise nicht auf mich, zwischen den Zeilen versteckten sich da Negativaspekte, die alles oder nichts bedeuten konnten. Bei Problemen war die Telefonnummer des behandelnden Arztes angeführt.​
In der Nacht zum Sonntag machte sich der Quantensprung der Reduzierung an starker Medikation seit dem Spitalaustritt dann mit heftigen Schmerzen bemerkbar. Der Schmerzlevel vollführte Kapriolen, den Griff zu dem am stärksten wirksamen Medikament, ich hatte noch zu Hause vorrätig, unterließ ich, da es meinem Willen entsprach mich korrekt zu verhalten, der Rezeptur entsprechend.​
Der Anruf am Sonntagvormittag auf die Nummer des Neurochirurgen wurde an die Notfallstation geleitet, um die unzureichende Medikation zu klären. Nein, eine stärkere Medikation sei nicht opportun, da müsse ich durch.​
Ich stöhnte auf, das Tal der Demut, welches ich nun schon so lange beschritt, schien von variabler und sich endlos dehnender Länge zu sein. Analog erschienen mir Gebilde der Astrophysik vor Augen, die wachsen oder schrumpfen können. Also wird der Schmerz ertragen, die angeordneten Pillen geschluckt, bis in der nächsten Nacht der Schmerzlevel auf 8 hochstieg. Ein Griff zu einer morphinhaltigen Tablette ermöglichte, nach einer Stunde Warten, dann wenigstens drei Stunden Schlaf.​

Imaginärer Beobachter: Gerissen, er verbildlicht eine unumgängliche Anforderung, die sich ihm stellt, gibt ihr so eine fiktiv greifbare Gestalt, drückt Ergebenheit aus, um den Schmerz täuschend zu besänftigen. Ob es nutzt? Manchmal sollen suggestive Wirkungen durchaus auch etwas bewegen können. Obwohl, er steht derartigen Phänomenen eher sehr kritisch gegenüber, differenziert gar Wahrheit und Wirklichkeit als Glaube versus Realität./I]

Erst am Nachmittag, als eine beruhigte Phase eintrat, rief ich meine Rheumatologin an und schilderte ihr meinen Zustand. Sie meinte, die im Spital kennen mich eben nicht, ich solle durchaus selbstregulierend zum stärksten Mittel greifen, wenn ich den Schmerz als unerträglich empfinde. Und wenn es sich nicht bessert, sie anrufen, damit wir zusammen eine neue Schmerztherapie aufgleisen könnten.

In der folgenden Nacht wurde es unumgänglich, Schmerzlevel 10, dem Punkt, an dem man sich keine Steigerung mehr vorstellen konnte. Ob da das Koma folgen musste, da das Hirn vor Schmerzwahrnehmung kollabiert, den keimenden Wahnsinn dem Bewusstsein entziehend? Ein Krümmen zu embryonaler Haltung war unmöglich, der operierte Rücken verunmöglichte in dieser regressiven Form, Schutz zu suchen. Wahrscheinlich wäre es ohnehin wirkungslos, da ein solches Pressen nur bei den Bauchraum betreffenden Leiden oder seelischen Schmerzen, allfällig Milderung brachte. Griff zur hochgradigsten Tablette, nach langsam einsetzender Wirkung verebbte diese bereits nach einer Stunde. Die neue Terminvereinbarung mit meiner Ärztin wird schneller zustande kommen, als ich plante.

Imaginärer Beobachter: Was habe ich gesagt, seine kritische Differenzierung ist ihm so verinnerlicht, dass sie auch unter stärkster Folter Teil von ihm bleibt. Da vermögen auch die anhaltenden Nachwirkungen der chemischen Cocktails, welche seine Konzentration unterlaufen, nichts daran zu ändern. Mit Beharrlichkeit sucht er zwischen Kompromiss und Widerstand Wege, mit den Schmerzen umzugehen und zu überwinden.

Der Schlafrhythmus von einer Stunde, der sich seit Längerem etablierte, setzte sich auch mit der neuen Medikation fort. Die Wachphasen dazwischen wechselten wie gewohnt, je nach Schmerzempfinden, bestenfalls zehn Minuten, in der Regel eine bis zweieinhalb Stunden, in denen Stehen, Laufen und Sitzen sich abwechselten.

Ich konnte nicht sagen, ob die skurrilen Träume die mich jede Nacht einmal heimsuchten, neu waren oder nicht. In den letzten Monaten waren sie sicher vereinzelt aufgetreten, aber nun regelmäßig. Fantastisches Erleben, das sich bei bewusster Fantasie nicht derart verdichtet, zwischen Harmonie und Disharmonie schwankend, vorbeizog. Ich selbst immer im Mittelpunkt des Erlebens.

Imaginärer Beobachter: Von einem prekär starken Schmerz, der seine Zentren im Kreuz und unter dem rechtsseitigen Beckenknochen hatte, und vom Knie abwärts bis über das Sprunggelenk in den Rist hinein sich fortsetzte, aus dem Schlaf gerissen. Nach Schnellem aufstehen, reduzierte er sich verblüffend schnell./INDENT]

So war es noch nie abgelaufen, was mir einen leichten Schimmer von Hoffnung aufkommen ließ, es könnte der Beginn einer positiven Veränderung sein. Nach einer erneuten Stunde Schlaf wieder ein heftiger Schmerzschub, diesmal von noch höherem Level, dem auch eine leichte Besänftigung folgte, doch dann den ganzen folgenden Tag gegenwärtig war. Meine Zuversicht bröckelte.


Imaginärer Beobachter: An der letzten Sprechstunde bei seiner Ärztin, der Neurochirurg war telefonisch zugeschaltet, erörterten sie die Ergebnisse eines neuen MRI, das ambulant im Spital gemacht wurde. Die Ergebnisse zeigten, dass der Spinalkanal weit war und keinen Druck auf die Nervenbahnen ausübt. Andere Engpässe oder Druckstellen konnten auch nicht geortet werden.

Meine Ärztin war etwas konsterniert, sie hoffte noch immer, nach der Operation würde der Schmerz doch noch abklingen, wenn die Schwellung am Nerv sich zurückbildet. Nun wird notwendig sein, noch weitere Fachärzte beizuziehen. Die Erörterungen möglicher anderer Ursachen drehten sich im Kreis des Ausschlussverfahrens. Eine letzte Ursache, die sie noch erwog, da der Schmerz auch aus den Knochen entlang der Nervenbahn hervorgehen könnte, wären Metastasen. Ich wusste was dies bedeutet, ein unbemerkter Krebsherd musste im Körper vorhanden sein. Meine Gefühle erreichte es nicht, prallte daran ab, nur endlich Schmerzfreiheit zu erlangen.

Ihr waren die erhöhten PSA-Werte aufgefallen, die nicht besorgniserregend sind doch als Indiz auch nicht übersehen werden können. Seit Jahren hatte ich einen entsprechenden Test und eine Biopsie abgelehnt, da internationale Studien auswiesen, dass ein nicht Anrühren dieser allfälligen Krebszellen, die Lebensqualität bewahrt und die Chance sehr hoch ist, Jahre später an etwas völlig anderem zu sterben.

War ich nun einer jener, die die Ausnahme bildeten, der Herd sich wohl bis anhin zurückhaltend verhielt, doch nun eine Streuung von Metastasen in den Knochen des Beins einsetzte? Die zunehmende Mühe, das Bein beim Gehen normal einzusetzen, wirkten mir bestätigend.


Auch in den folgenden Tagen und Nächten, die ein Wechselbad aus geringem, stärkeren aber erträglichen Schmerz und handkehrum heftigen Attacken bestanden, war die Hoffnung grösser die Ursache gefunden zu haben, als daraus eine Angst zu entwickeln. Dem setzte ich mir einen Überblick gegenüber, welche Behandlung mir angezeigt erschien, um baldmöglichst aus diesem schmerzhaften Dilemma zu entkommen. Es müssten der Herd und die Metastasen behandelt werden.


Imaginärer Beobachter: Er bleibt sich ganz selbst, das Kalkül obliegt, was ihm am ehesten entspricht. Diesen Patienten aufgeben zu beobachten, fällt mir dereinst direkt schwer. Er war ein interessantes Objekt, das sich nicht einfach mit einer Norm bemessen ließ.


Bühnenbild: Im Fokus des Scheinwerfers nur der Haarschopf und das Gesicht, auf beiger Satinbettwäsche.

Ah. Allmählich hat sich der Schmerz beruhigt, der seit Stunden meinen Körper quälte. Die Kreatürlichkeit des Menschen zeigt sich mir mal nicht als Außenstehender, der Seitenwechsel lässt mich voll und ganz teilhaben an den Grenzen des Erträglichen. Doch das Prinzip Hoffnung begrabe ich nicht, was auch kommen mag. Weder über die Schmerzüberwindung, noch über das, das den Menschen als ein an sich humanes Wesen auszeichnet, auch wenn Entartungen auftreten mögen.


In voller Intensität bricht die nächste Schmerzwelle über mich herein.

 

Hallo Anakreon,

Die zweite Version Deines Stücks habe ich so auf mich einwirken lassen, als ob ich in einem Kleintheater sitzen würde. Es löst Betroffenheit, aber auch Ermutigendes aus. Denn ich erlebe einen Menschen, der mit Krankheit, starken Schmerzen und widerlichen Umständen kämpft und der durch alles hindurch die Hoffnung nicht aufgibt.

Natürlich ist für mich die Sinnfrage allgegenwärtig. Der bekannte Wiener Psychiater und Begründer der Logotherapie Victor Frankl, der mehrere Konzentrationslager überlebt hat, ist auf Grund zahlreicher Untersuchungen davon überzeugt, dass das Leben sinnvoll gestaltet werden kann, selbst dort, wo jemand mit einem Schicksal konfrontiert ist, das sich nicht ändern lässt, zum Beispiel mit einer unheilbaren Krankheit.
Er sagt unter anderem, dass das Leben bis zum letzten Atemzug nicht aufhört Sinn zu haben. Und dass in der Weissglut des Leidens, das Leben Form und Gestalt gewinnt.

Die Sinnfrage, vor allem die Sinnfrage des Leidens, ist nicht leicht zu beantworten. Oft hat man keine Antwort. Einmal aber, und davon bin ich fest überzeugt, werden wir verstehen, dass alles seinen tiefen Sinn hatte und wie die Bibel sagt, alle Dinge zum Guten mitwirken müssen, dem der Gott vertraut.

Lieber Anakreon, ich wünsche Dir von Herzen alles Gute.
Marai

 

Hallo Friedrichard und Marai

Ich freue mich sehr, dass das erneut Ungelenke in der 2. Fassung Euch als treue Leser nicht abzuschrecken vermochte.
[Alle paar Zeilen aufzustehen und umherzugehen, mag bei einem Denker würdig erscheinen und sein ringen um die treffende Formulierung ausdrücken, doch bei mir ist es nur der Kampf mit dem Körper, um eine Steigerung des Unliebsamen zu verhindern. Diese künstlichen Pausen lassen die Gedanken weiter zirkulieren, beflügelt von der kontinuierlichen Dosis Morphin. Da die Konzentration sich zunehmend wieder verbessert, vermag es jedoch eigentliche Gedankensprünge unterbinden und die Antwort dann wieder fortlaufend anzugehen. Doch dehnt es die Zeit, - da wären knappe, überschaubare Sätze, wie Du sie Friedel Dir im Text wünschtest, auch aus meiner Sicht zu angezeigt. Ich werde mich bemühen, Wortkaskaden – wie hier aufgebaut - möglichst beiseitezulassen.]

Den Gleichklang der beiden Personen ahnte ich unterschwellig, erfasste dies aber noch unzureichend. Ich werde dem meine volle Aufmerksamkeit widmen. Beim Schreiben verlor ich die Rolle des imaginären Beobachters wohl aus dem Griff, doch auch dem Patienten, muss ich die Zügel straffen, um seiner selbst gerecht zu werden. Danke für diesen Hinweis, der mir zu einem Gelingen von Wichtigkeit erscheint.

Auch in den andern Passagen ist Entflechtung und präzise Hinführung zu den Aussagen, ein unumgängliches Ziel der Arbeit, die mir noch bevorsteht. Dabei werde ich kaum wie Kleist, die Fähigkeit aufbringen können, Satzzeichen gar als Regieanweisungen einzusetzen. Das würde bei mir dann wohl eher wie eine Performance ausarten. Doch am mir Möglichen, werde ich arbeiten.

Das „Anrühren“ unter den Trivialitäten liess mich schmunzelnd erinnern, welch boshafte Moritat (ohne Versform und Gesang) ich seinerzeit mit „Frohes Fest, kleine Assel“ zu Weihnachten servierte. Dass es nochmals aufleben könnte, hätte ich nie gedacht.

Aber es geht allemal voran!

Da bin ich froh, dass dies bemerkt wird und nicht ins Leere zielt.

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Das Stück als Besucherin einer Aufführung in einem Kleintheater auf Dich einwirken zu lassen, Dich einer atmosphärischen Suggestivkraft bedienend, finde ich ein sehr schönes Herangehen. Danke Dir Marai, für diese sensible Auseinandersetzung damit.

Beim Thema „Sinnfrage“ an Viktor Frankl vorbeizukommen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, wenn jemand sich tiefgehender damit beschäftigen will. Während er bei Sigmund Freud einen Willen zur Freude als Wurzel aller menschlichen Motivation postuliert hatte und Alfred Adler einen Willen zur Macht, wählte er zu seiner Lehre einen Willen zum Sinn. Es schmälert die Wertigkeit um keine Nuance, wenn man weiss, dass sein erstes von drei Motiven, die Logotherapie als eigenständige Lehre aufzubauen, eigentlich einem materiellen Grund entsprungen war. Im Futter seines Mantels eingenäht fanden KZ-Schergen sein Manuskript „Ärztliche Seelsorge“ und vernichteten es. Seine frühe Erkenntnis als Arzt war, dass in den medizinischen Hochschulen die Gefahr des Reduktionismus bestand, indem alle Dinge sich auf Physiologie zurückführen liessen. Er machte es sich zum Ziel, die physiologische Sicht mit einer spirituellen Perspektive auszubalancieren und betrachtete dies als einen bedeutenden Schritt hin zur Entwicklung einer wirkungsvolleren Behandlung. Noch im KZ machte er sich daran, auf Papierfetzen das vernichtete Manuskript wieder zu rekonstruieren und damit einleitend seine Theorie der Logotherapie aufzubauen. Bei seinen Mitgefangenen erkannte er differenzierend so manche Elemente und Wirkungen, welche ihn bestärkten, dass solch individuellen Sinnfindungen trotz unsagbaren Leidens diesen Menschen Kraft gab und sie durchhalten liess. Parallelen zu solchen Erkenntnissen finden sich heute etwa in der Verhaltensmedizin. Einer der Frankl in seiner Grundtheorie nahesteht ist R. Grossarth-Maticek der darin von einer Gott-Mensch-Beziehung als wichtiger Teil der Heilungsfaktoren spricht. Doch ist Letzteres reine Fachliteratur während Frankl in seinen Büchern auch ein breites Publikum anzusprechen vermochte. Kritik findet Frankl bei Religiösem nicht Nahestehenden, doch ist der Respekt vor seiner gesamten Aufarbeitung auch bei diesen gegeben. Andere Quellen für Selbstregulation als gesundheitsfördernder Faktor und selbstverständlich auch Sinnfindung lässt sich bis in die Antike und quer durch alle Kulturen verfolgen. Der Gedanke individuell dem entgegenzutreten, eigene Kräfte zu mobilisieren, hat von dem her schon immer bestanden. Das mehr oder weniger Gelingen ist dann wiederum von verschiedensten Faktoren abhängig. Diesbezüglich finde ich Deine Erwähnung von Frankl eine treffende Einflechtung.

Dem entgegengesetzt steht das absurde Theater. Es zeigt den hoffnungslosen, leidenden Menschen in einer Welt der Absurditäten. Der Einzelne kämpft verzweifelt gegen diesen Moloch an, der Sinn entgleitet ihm mehr und mehr, auch der Stärkste wird in dieser Wirrnis hin und her geschüttelt, er gerät immer mehr in den Sog der Destruktion. Das Ende bleibt offen, ein Vakuum erzeugend, hier bleibt der Zuschauer dann auf sich selbst zurückgeworfen, seinen eigenen Gedanken ausgeliefert. Es wird ihm meist die Sinnfrage erzeugt, wobei die Sinnfindung sich nur individuell und schwer finden und entschlüsseln lässt. In diesem letzten Punkt stehen sich absurdes Theater und Frankls Theorie wieder sehr nahe.

Dass in allem Geschehen ein Sinn steckt, zweifle ich nicht, da ich kausale Gesetzmässigkeiten der Natur annehme. Diese sind in vielen Belangen jedoch von unendlicher Komplexität und entziehen sich zu grossen Teilen dem Vorstellungvermögen von uns Menschen. Hier ist der Raum gegeben, in dem sich hypothetische Annahmen ausbreiten, im Bemühen zu begreifen. Anderseits muss Sinnfindung nicht bedeuten, auf alles auch eine Antwort zu haben.
Ich selbst bin begünstigt durch ein erfülltes und erfolgreiches Leben, die Suche nach Sinn stellt sich mir selbst so nicht (mehr). Doch die Konfrontation mit einem Erleben, das mir bisher gekannte Grenzen weit überschreitet und mir zudem bewusst macht, damit nicht unbedingt das Äusserste erfahren zu haben, stellt mich vor eine Herausforderung, bei der die Endlichkeit des Lebens nicht von Bedeutung ist, in der Sache jedoch Erträglichkeit abfordert.

Danke Marai, die neuerlichen Impulse werden im Gesamtbild des Stücks, das sich in seiner Intensität immer wieder neu formt, seine Spuren hinterlassen.

Schöne Grüsse Euch beiden

Anakreon

 

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