Lieber Friedel
An sich braucht man keine spezifischen Kenntnisse, um japanischer Dichtung nahe zu kommen. Auch wenn zuweilen manches symbolisiert wird, wie etwa die Erwähnung der Jahreszeiten. Wichtiger scheint mir die Offenheit, einen Text vorerst einfach annehmen zu können. Ob es einem dann was gibt oder nicht, erweist sich von allein. – Somit besteht kein Grund, wie du wahrscheinlich bei Tadashi und Michiko erwähntest, dich ausnahmsweise zurücknehmen zu müssen. Ich hatte damals auch die Absichtserklärung geäussert, mich nicht mehr zu Eigenheiten in dieser Kultur zu äussern, da es wenig Verständnis fand.
Aber die kleine Geschichte scheint mich aufzufordern, ein paar Worte zu sagen - besonders, als ich die vorläufigen Beiträge gesehen hab.
Dies deute ich dahin gehend, dass sie dich erreichte. Das ist mir schon viel Wert, was da auch noch kommen mag.
Und in der Tat: es juckte mich gestern in den Fingern und ich hätte mich unauffällig eingereiht in die vorstehenden Kommentare.
Mir schwant was. Dich juckt es in den Fingern, und ich werde das Gefühl nicht los, mich wieder einmal unbeabsichtigt in die Nesseln gesetzt zu haben.
Kawanabe erinnert mich an den Nobelpreisträger Kawabata, der Gegenwartsprobleme in traditionellem Stil darstellte. … was noch dadurch gesteigert wird, dass sein Werk von der Vergänglichkeit der Welt erzählt und Verzicht / Bescheidenheit lehrt und dem Buddhismus lebt. Vor nahezu vierzig Jahren verzichtete er aufs Leben – was uns wieder in die Nähe zum Kleistjahr bringt.
Schön dieser Brückenschlag von Kawanabe über Kawabate ins Kleistjahr. Es gefällt mir, doch ist es ein Zirkelschluss, oder wie alten Griechen dem sagten,
hysteron proteron. Bei der Namensgebung von Kawanabe und Shigenobu wählte ich bewusst Verbreitete, und achtete darauf das nicht zu namhafte Ahnen herumgeistern. – Als Reverenz an Kawabata, daran dachte ich nicht mal. Doch er würde gut in dieses Bild passen. Als solches eine gute Definition – und du willst nichts von Japan wissen.
Nun, die Rhythmik der Verse ließe sich auch im Deutschen gefahrlos anpassen, indem die Präposition der ersten Zeile als Übersetzungsfehler anzusehen wäre und durch den poetischeren Ausdruck „gen“ ersetzt würde:
Kraniche zogen [gen] Süden.
Ich hatte im vorgehenden Kommentar erwähnt, weshalb ich mich für das Wort
gegen entschied, und heiter ergänzt:
Mögen die Philologen über mich herfallen. Doch bald darauf wurde mir bange, da mir bewusst wurde, dies könnte jemand als
Philister deuten und sich angesprochen fühlen. Aber erlösend vor dieser Angst ist mir nun, dass du Analoges zur Präposition vorschlägst.
Ich werde mir Gedanken machen, ob diese altdeutsch poetische Form es in die höhere literarische Sphäre retten könnte.
Als schwächste Stelle erscheint aber die mittlere Zeile: bekanntermaßen sind Kraniche ohne Ausnahme sterblich. Da wirkt die Wortwahl im mehrteiligen Adverb (manchmal) wenig treffend:
Deine kluge Sprachinterpretation zieht mir dann aber augenscheinlich doch den Teppich unter den Füssen weg. Und rettet mich wieder:
Was zunächst als Schwäche erscheint, hält nun das ganze Gedicht zusammen, wird quasi zum Pivot-Element - einschließlich der verwendeten Zeitenfolge: nicht alle Kraniche, die in dieser Saison gen Süden zogen, werden mit der Kirschblüte zurückkehren. Vergangenheit & Zukunft werden allein durch die Gegenwart zusammengehalten - und der Buddhist kann nun getrost sagen und ergänzen - wobei man nur wissen sollte, dass der Kranich als Symbol der Langlebigkeit steht
Dank der glücklichen Verbindung von Philologie mit Ökonomie.
Ist denn etwas, das wie die Weisheit aus der Binse daherkommt, weniger wahr als ein Syllogismus oder messerscharfe logische Schluss?
Wie sollte ich auch mehr erkennen, als es die alten Griechen mit dem Syllogismus taten:
Alle Menschen sind sterblich. Alle Menschen sind Griechen. Alle Griechen sind sterblich.
Diese Deutung wird Kawanabes Worte, der das Gesetz der Natur aufzeigte, durchaus gerecht.
Meine eigene Erkenntnis mit diesem Text ist, mit der Vereinfachung wird der Beifall nicht hörbarer. Deshalb werde ich wieder zu der mir eigenen Schreibweise zurückkehren.
Ich danke dir, lieber Friedel, für deinen exklusiven Kommentar, der den schlichten Esprit von Kawanabe durchschaute. Es war mir ein Vergnügen, deiner Deutung zu folgen.
Gruss
Anakreon