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Kraniche ziehen in den Süden

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29.01.2010
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Kraniche ziehen in den Süden

Kawanabe sitzt auf der Terrasse. Im Teich ziehen Karpfen gemächlich Kreise. Wind lässt den Bambus rascheln. Letztes Laub wirbelt durch den Garten.
Kawanabes Augen richten sich zum Himmel, dunkle Wolken ziehen über den Bergen von Norden auf. Er greift zum Pinsel, taucht ihn in den Tuschbehälter und schreibt flink Zeichen auf ein Papier:

Kraniche ziehen in den Süden.
Manchmal stirbt einer.
Bei Kirschblüte ihre Rückkehr.

Shigenobu, der Schüler Kawanabes, zieht sich leise zurück, als er seinen Meister auf der Terrasse sitzen sieht.
Am Nachmittag kriecht Kälte durch Ritzen ins Haus. Shigenobu heizt den Ofen ein. Sein Meister meditiert noch immer.
Mit einer Laterne tritt Shigenobu in die Dunkelheit, seinem Meister Helligkeit bringend. Eisiger Wind bläst. Kawanabe sitzt nun im Lichtkreis. Eine heftige Böe lässt ihn wanken, er sinkt vornüber, vor der Natur sich verneigend.
Shigenobu erschrickt, doch dann liest er die Worte des Meisters. Das Papier ist mit einem Stein beschwert. Er setzt sich neben Kawanabe und meditiert über den Text. Die letzte Unterweisung, die ihm der Meister gegeben hatte.

 
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Lieber Anakreon,

heute hältst dus kurz. Mit "Kawanabe" und "Shigenobu" ziehst du uns weg aus dem Westen ins meditierende Volk. Sprachlich fand ich deine KG okay, konnte jetzt auch keine Fehler ausmachen.

Eine heftige Böe lässt ihn wanken, er sinkt vornüber, wie vor der Natur sich verneigend.
Das hier klingt nur etwas umständlich. Warum nicht: Eine heftige Böe lässt ihn wanken, er sinkt vornüber, sich vor der Natur verneigend. (Das es ein Vergleich ist, erkennt man - glaube ich - auch so.)

Da mich deine Geschichte nicht völlig erhellt hat, möchte ich folgendes versuchen: Was hätte ich als S. getan?

1. Ich hätte mich gefragt, was der Alte da draußen solange tut.

Kraniche zogen gegen Süden,
manchmal stirbt einer.
Bei Kirschblüte ihre Rückkehr.
2. Wenn ich das lese, weiß ich, dass Kraniche bei Kälte in den Süden abhauen und im Frühling wieder zurückkommen. Ich hab weder ne Mönchslehre noch Erfahrungen im Meditieren, aber ich weiß trotzdem, dass Vögel das machen.

Aber jetzt, wo ich schon fast wieder zu harten Tönen greife, kommts mir. Der Typ stirbt - die Atmosphäre eines fernöstlichen Klosters hast du eingefangen - und jetzt möchte er seinem Schüler noch etwas sagen. Dass Vögel kommen und gehen. Das ist ein Naturereignis, genauso wie: Manchmal stirbt einer. Ob man dann wieder kommt, sei dahingestellt.

Fazit: Die Umgebung hast du schnell aufgebaut, die Aussage jedoch bleibt etwas verschlüsselt. Philosophisch eben. Gern gelesen, aber bin dadurch nicht schlauer geworden.

Beste Grüße
markus.

 

Salü Anakreon,
abgesehen von den immer wieder (inhaltlich-philosophisch) spannenden Texten des Tao te King, sind sie, wenn selbst verfasst, auch eine tolle Übung gegen Geschwätzigkeit und allzu ausufernde Beschreibungen. Inhaltlich ist dein Text klar. Daher beziehe ich mich hier nur auf das Handwerkliche:
Im ersten Absatz würde ich Punkte setzen und zusammenziehen:
Kawanabe sitzt auf der Terrasse. Im Teich ziehen Karpfen gemächlich Kreise. Wind lässt den Bambus rascheln. Ein Luftzug, Vorbote der Kälte, wirbelt letztes Laub durch den Garten.
Dann:

Kraniche zogen gegen Süden,
manchmal stirbt einer.
Bei Kirschblüte ihre Rückkehr.
Da stimmt zeitlich was nicht, müsste eher heissen:
Kraniche ziehen gegen Süden,
manchmal stirbt einer.
Bei Kirschblüte ihre Rückkehr.
Oder:
Kraniche zogen gegen Süden,
manchmal starb einer.
Bei Kirschblüte ihre Rückkehr.

Dem Rhythmus der Geschichte angepasst (und nach dem Glauben des Taoismus) würde ich vorschlagen:
Kraniche zogen gen Süden
Einer starb - kehrte zurück
zur Zeit der Kirschblüte

Aber, es ist dein Werk und meine Lesart soll nur Anregung, keine Kritik sein.

Lieben Gruss,
Gisanne

 

Lieber markus

Eine heftige Böe lässt ihn wanken, er sinkt vornüber, wie vor der Natur sich verneigend.

Das hier klingt nur etwas umständlich.

Das „wie“, welches du umständlich findest, hatte ich mir lange überlegt. Ursprünglich hatte ich es ohne diese Konjunktion gesetzt, das Doppelsinnige daran hatte mir gefallen. Doch in unserem westlichen Verständnis setzt es eine falsche Konnotation. Aber vielleicht lasse ich es doch wieder weg, der östliche Geist des Textes bedarf es nicht.

Wenn wir Geschichten lesen, tun wir es mit unserer persönlichen Sichtweise und unserer individuellen Vorprägung. Mit dem Lesen beginnen wir meist bereits zu analysieren, zu deuten und zu vergleichen – ich bin da voll miteinbezogen. Autoren, die diese Erwartungen dann nicht erfüllen, fallen in der Regel mehr oder weniger durch. Hier wählte ich deshalb scherzhaft eine Form, die vom Stilmittel* den gängigen Rahmen sprengt, inhaltlich aber durchaus ernsthaft ist.

Liest man lyrische ostasiatische Texte, scheinen sie in ihrer Einfachheit klar und transparent, obwohl einer ganz anderen Kultur entsprungen. Häufig sind sie es auch. Doch da sind auch jene, hinter denen sich eine Erkenntnis versteckt, die der Leser nur für sich gewinnen kann.

Über deine Deutungen und das Fazit musste ich schmunzeln. Es lässt, wie ich auch hoffte, dem Leser genügend Interpretationsspielraum und Fantasie für eigene Bilder.
Nur als Anmerkung: In Japan ist ein Meister nicht unbedingt ein Mönch, ein stilisierter Garten nicht unbedingt ein Kloster. Doch könnte das Bild solche Elemente durchaus vermitteln.

Trotz deines Fazits, nicht schlauer geworden zu sein, hast du durch dein Nachsinnen sicher etwas gewonnen. Dass du es gerne gelesen hast, freut mich.

Schöne Grüsse

Anakreon

Salü Gisanne

Dein Vergleich mit dem Tao te king liess mich ebenso schmunzeln. Ja die Weisheiten, welche Laotse zugeschrieben werden, sind ein inspirativer Fundus, der auch in der heutigen Zeit immer etwas hergeben könnte. Und die Japaner, auf deren Tradition ich diese Geschichte einstellte, haben seit jeher grossen Respekt vor der chinesischen Kultur.

eine tolle Übung gegen Geschwätzigkeit und allzu ausufernde Beschreibungen.

Hier überlegte ich, rote Ohren zu bekommen, als hättest du meine Gedanken bei der Abfassung erkannt: einmal etwas ganz Kurzes. :D

Inhaltlich ist dein Text klar.

Oh! :)

Daher beziehe ich mich hier nur auf das Handwerkliche:

Im ersten Absatz würde ich Punkte setzen und zusammenziehen:

Diesen ersten Absatz hatte ich in den letzten paar Wochen mehrfach hin und her gedreht, immer wieder ruhen lassend und überlegend, welche Version es am klarsten ausdrücken möge. Doch ich denke, du hast es mir hier treffend dargelegt.

Bei den Pinselstrichen von Kawanabe tue ich mich dagegen sehr schwer. Natürlich hast du recht, dass die Zeitformen in den ersten zwei Zeilen ausgetrickst sind. Es ist ein gedankliches Spiel zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Erst habe ich nun die weiche Änderung deines zweiten Beispiels in Betracht gezogen. Es auf mich einwirken lassen. – Und wieder verworfen. Doch hast du mir damit die Lösung vor Augen geführt. Ich setzte einen Punkt nach der ersten Zeile.
Dein drittes Beispiel ist hier untauglich, da es – hier muss ich dich leider enttäuschen – sehr entfernt vom Taoismus ist, obwohl es unserem Verständnis nach doch Nahe scheint.

Danke dir herzlich für deine handwerklichen Einwände, die dem kleinen Lesestück zur Vollendung verhalfen.

Liebe Grüsse

Anakreon

*) Stilmittel und Lösung im Spoiler (Nur für jene, die ihre Neugierde nicht unter Kontrolle halten möchten. :D)

In dieser kurzen Erzählung verknüpfte ich ein selbst geschaffenes Kigo, „Jahreszeitwörter“ (Kunstmittel der japanischen Renga- und Haikai-Dichtung) fiktiv mit dessen Entstehung. Die jahreszeitliche Fixierung der einen Strophe geht zurück auf die seit der Kamakura-Zeit (1192-1333) erhobenen poetologischen Forderung des Renga, ohne expressis verbis eine Jahreszeit zu nennen. Auch im Haiku üblich.
Es kann natürlich nur eine Anlehnung an das klassische Kigo bilden, das bedingen würde, dass die Silben (resp. Moren) der Strophen im Japanischen einer bestimmten Reihe folgen. Behelfsmässig habe ich mich da in der Klangfarbe an einen Haiku von Matsuo Bashō in deutscher Übersetzung orientiert. Auch die Einbindung in eine weitere Geschichte steht nicht im Kontext zu dieser klassischen poetologischen Forderung.
Inhaltlich besagt es nicht mehr und nicht weniger, als die Gesetzesmässigkeit der Natur zu erkennen und als solche anzunehmen. Doch ist dies nicht durch die gewählten Worte begrenzt, sondern der Erkenntnis des Betrachters offen.

 
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Hallo Anakreon,

ich halte davon nix. Das ist wie: Ich pinsle irgendwas auf Kanvas und wenn es nix wird, dann ist es abstrakt. Was da in deinem Spoiler (siehe Anm.) steht, hab ich, ohne klugscheißen zu wollen, mir gleich gedacht. Das Ding liest sich einfach so. Zuerst war da der Satz "Kraniche zogen gegen Süden" und weil er so poetisch klingt und Kraniche in japanischen Aquarellen - oder Tuschbildern oder was auch immer das für eine Technik ist - gern vorkommen, hat man um diesen Satz schnell was japanisch Anmutendes rumgebastelt.
Die Tempusunstimmigkeit im vermeintlichen Haiku ist das erste, was stört - Gisanne hat es schon kritisiert. Danach kommen vier! Absätze, wo eigentlich einer gereicht hätte, aber mittlerweile ist man gewohnt, dass Leute gern auf Enter drücken nach einem oder zwei Sätze, warum, ist mir schleierhaft. Dieser Teil besteht zumindest aus lauter SPO-Hauptsätzen und liest sich gewollt bedeutend.
Alles in einem hast du dich dieses östlichen Gleichnismusters bedient, was natürlich nicht verboten ist, aber ausgelutscht. Und während man zumindest gern glauben will, dass Originale nicht nebenbei geschrieben worden sind, verrät dein Text ziemlich schnell, dass er als Rahmen für einen schönen Satz gebaut wurde. Mir ist das alles zu gewollt und zu sehr Formklischee, um damit was anzufangen.

Gruß
Kasimir

Anm. für späte Leser: Der Spoiler auf den ich mich bezogen habe, gibt es nicht mehr. An dessen Stelle steht jetzt der nachträgliche Versuch, den Text in eine alte philologische Tradition einzugliedern. Von dem ursprünglichen Bild, das beim Teetrinken entstanden ist und in ein paar Zeilen festgehalten wurde, hat sich der Text zu einer 'Erzählung' gemausert, wobei die enthaltene Strophe als "Anlehnung an das klassische Kigo" gesehen werden soll.
Ich kann nur allen raten, die negative Kommentare zu einem ihrer Texte bekommen: Reagiert sofort und fangt an für den Spoiler zu recherchieren!

 

Hallo Kasimir

Dass der kleine Text bei dir nicht ankommt, nun das muss und kann ich problemlos respektieren. Er ist dir zu klischeehaft. Es ist zutreffend, dass ich eine Form wählte, die einen hohen Grad an Vereinfachung ermöglicht. Nun, wenn für dich japanische Tuschmalerei, oder wie hier schlicht ein Schriftbild, ein Klischee ist, will ich dir diese Illusion nicht nehmen.
Mein Blick ist eben zur Tuschmalerei einer Katze über meinem Pult gewandert. Der kleine emeritierte Professor für Philosophie aus Tokio, der es mir vor einundvierzig Jahren malte, als er zu Besuch war, hätte höchstens einen strengen Blick für deine Bemerkung übrig. Er hätte sie sehr wohl verstanden, denn er studierte bei Rudolf Otto in Marburg.

Dass dich Tempusstimmung und die nachfolgende Unterteilung in vier Absätzen stören, das ist endlich eine konkrete Aussage, die ich gern auch so zur Kenntnis nehme. Das Nachfolgende wiederum, Enter-Taste etc., halte ich für defätistisches Geschwätz.

Nun für deinen Glauben oder dein Unvermögen bezüglich Originale, fühle ich mich keineswegs verantwortlich. Mit solch einer Zierde von Aussage musst du schon selbst zurechtkommen. Ob das östliche „Muster“ ausgelutscht ist, kann ich nicht beurteilen, da mir diese so unbekannt sind.

Dass du dir Mühe nahmst, es zu kommentieren, danke ich dir. Ich hätte allerdings ganz gern mal was Philosophisches von dir gelesen. Doch das Einzige was du in dieser Rubrik publiziert hast, ist ein Text in Form von – verzeih das ketzerische Wort – Psychologismus. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Schönen Gruss

Anakreon

 
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Hallo anakreon,

meine Tochter ist ein Riesen-Manga-Fan, deshalb ist mir die japanische (Pop)Kultur nicht ganz unbekannt. Leider konnte auch ich mit dem Text nicht wirklich etwas anfangen, aber am meisten stört mich doch der Titel.

"gegen Süden"? Schon beim ersten Lesen musste ich schmunzeln und habe gedacht: Ach, die armen Kraniche, hoffentlich stoßen sie sich nicht zu sehr den Kopf wenn sie gegen den Süden fliegen :D
Sorry, aber das konnte ich mir jetzt nicht verkneifen.
Gruß
Giraffe

 
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Kraniche zogen gegen Süden.
Manchmal stirbt einer.
Bei Kirschblüte ihre Rückkehr.

„Eigentlich“ weiß ich von Japan sehr wenig, schon am meisten durch * at Budokan - was wenig über die japanische Kultur aussagt - oder aktuell über Tepco - was eher was über den globalisierenden Charakter einer bestimmten Sorte von tüchtigen Kaufleuten und Unternehmern, als die japanische Kultur an sich aussagt- und ich mein, es schon mal in einer älteren Japan-Geschichte angesprochen zu haben,

lieber Anakreon,

dass ich mich – ausnahmsweise - zurücknehmen sollte. Aber die kleine Geschichte scheint mich aufzufordern, ein paar Worte zu sagen - besonders, als ich die vorläufigen Beiträge gesehen hab. Und in der Tat: es juckte mich gestern in den Fingern und ich hätte mich unauffällig eingereiht in die vorstehenden Kommentare. Das wird noch im Folgenden durchscheinen - und doch gänzlich anders werden.

Beginnen wir mit des Dichters Namen:
Kawanabe erinnert mich an den Nobelpreisträger Kawabata, der Gegenwartsprobleme in traditionellem Stil darstellte. Bei einigen seiner Titel (Schneeland / Tausend Kraniche / Ein Kirschbaum im Winter) vermein ich eine Quelle der Inspiration zu erkennen, was noch dadurch gesteigert wird, dass sein Werk von der Vergänglichkeit der Welt erzählt und Verzicht / Bescheidenheit lehrt und dem Buddhismus lebt. Vor nahezu vierzig Jahren verzichtete er aufs Leben – was uns wieder in die Nähe zum Kleistjahr bringt.

Gehen wir davon aus, dass Kawanabe – der Meister - in seiner Naturlyrik zwischen Tanka und Haiku sehr präzise war. Hätte er ein 22-silbiges Kurzgedicht von 9- / 5- / 8-silbigen Versen verfasst, wovon jeder Vers zugleich einen vollständigen Satz abgibt – und sei’s als Ellipse, der mittlere Vers / Satz aber ausgesprochen unpräzise wirkt?

Nun, die Rhythmik der Verse ließe sich auch im Deutschen gefahrlos anpassen, indem die Präposition der ersten Zeile als Übersetzungsfehler anzusehen wäre und durch den poetischeren Ausdruck „gen“ ersetzt würde:

Kraniche zogen [gen] Süden.
Als schwächste Stelle erscheint aber die mittlere Zeile: bekanntermaßen sind Kraniche ohne Ausnahme sterblich. Da wirkt die Wortwahl im mehrteiligen Adverb (manchmal) wenig treffend: wird es doch grammatikalisch zusammengeschrieben, weil Wortart / -form / -bedeutung seiner Bestandteile nicht mehr zu erkennen sind: „manch“ bezeichnet eine unbestimmte Anzahl aus einer größeren Menge und hätte darum auch beliebig anders lauten können (wenige, einige, mehrere, viele). Das Mal hingegen bezeichnet – wie in der Multiplikation - die Wiederholung des Immergleichen zu unterschiedlichen Zeiten –

was für den Zug der Kraniche in die eine wie die andere Richtung und zugleich für jeden Vers gilt.

Was zunächst als Schwäche erscheint, hält nun das ganze Gedicht zusammen, wird quasi zum Pivot-Element - einschließlich der verwendeten Zeitenfolge: nicht alle Kraniche, die in dieser Saison gen Süden zogen, werden mit der Kirschblüte zurückkehren. Vergangenheit & Zukunft werden allein durch die Gegenwart zusammengehalten - und der Buddhist kann nun getrost sagen und ergänzen - wobei man nur wissen sollte, dass der Kranich als Symbol der Langlebigkeit steht

Manchmal stirbt einer,
dass manche arme Seele von der immergleichen Wiederkehr erlöst wird.

Ist denn etwas, das wie die Weisheit aus der Binse daherkommt, weniger wahr als ein Syllogismus oder messerscharfe logische Schluss?

Gruß

Friedel


* statt Mangas bevorzugt Beatles, Dylan u. v. a. m.

 

Hallo Giraffe

Haha, japanische Mangas deiner Tochter als Gleichnis zu diesem Text, finde ich köstlich. Es ist keineswegs abwegig, da in Japan Bildgeschichten aus früheren Jahrhunderten in Form von Zeichnungen und Karikaturen, also Vorläufer von Mangas der Pop-Kultur, bekannt sind.

Der kleine Text erhebt keinen Anspruch auf eine tiefschürfende Erkenntnis, es sei denn, jemand beabsichtige ihn, mit dem Satz des Widerspruchs zu prüfen. Aber dies wäre dann schon Philosophie. Nein, er soll hier nur als beschaulicher Text stehen. Wem er wenig gibt, dem fehlt auch nichts.

Ich versteh deine Bedenken zum Titel. Das Wort gegen lässt sich in sehr verschiedenen Bedeutungen interpretieren, vorab als wider. Ich setzte es als lokale Präposition ein, die Richtung kennzeichnend. Das Wort wählte ich, um das gewählte Stilmittel anwenden zu können. Falsch ist es m. E. nicht (die Philologen mögen jetzt über mich herfallen), aber wenn es sich unfreiwillig auch komisch assoziiert, bin ich gern an vorderster Front der Lachenden.

Danke, dass du dir den Einwand nicht verkneifen konntest. So musste ich mich auch mit dieser Überlegung auseinandersetzen und mich hinterfragen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Lieber Friedel

An sich braucht man keine spezifischen Kenntnisse, um japanischer Dichtung nahe zu kommen. Auch wenn zuweilen manches symbolisiert wird, wie etwa die Erwähnung der Jahreszeiten. Wichtiger scheint mir die Offenheit, einen Text vorerst einfach annehmen zu können. Ob es einem dann was gibt oder nicht, erweist sich von allein. – Somit besteht kein Grund, wie du wahrscheinlich bei Tadashi und Michiko erwähntest, dich ausnahmsweise zurücknehmen zu müssen. Ich hatte damals auch die Absichtserklärung geäussert, mich nicht mehr zu Eigenheiten in dieser Kultur zu äussern, da es wenig Verständnis fand.

Aber die kleine Geschichte scheint mich aufzufordern, ein paar Worte zu sagen - besonders, als ich die vorläufigen Beiträge gesehen hab.

Dies deute ich dahin gehend, dass sie dich erreichte. Das ist mir schon viel Wert, was da auch noch kommen mag.

Und in der Tat: es juckte mich gestern in den Fingern und ich hätte mich unauffällig eingereiht in die vorstehenden Kommentare.

Mir schwant was. Dich juckt es in den Fingern, und ich werde das Gefühl nicht los, mich wieder einmal unbeabsichtigt in die Nesseln gesetzt zu haben.

Kawanabe erinnert mich an den Nobelpreisträger Kawabata, der Gegenwartsprobleme in traditionellem Stil darstellte. … was noch dadurch gesteigert wird, dass sein Werk von der Vergänglichkeit der Welt erzählt und Verzicht / Bescheidenheit lehrt und dem Buddhismus lebt. Vor nahezu vierzig Jahren verzichtete er aufs Leben – was uns wieder in die Nähe zum Kleistjahr bringt.

Schön dieser Brückenschlag von Kawanabe über Kawabate ins Kleistjahr. Es gefällt mir, doch ist es ein Zirkelschluss, oder wie alten Griechen dem sagten, hysteron proteron. Bei der Namensgebung von Kawanabe und Shigenobu wählte ich bewusst Verbreitete, und achtete darauf das nicht zu namhafte Ahnen herumgeistern. – Als Reverenz an Kawabata, daran dachte ich nicht mal. Doch er würde gut in dieses Bild passen. Als solches eine gute Definition – und du willst nichts von Japan wissen.

Nun, die Rhythmik der Verse ließe sich auch im Deutschen gefahrlos anpassen, indem die Präposition der ersten Zeile als Übersetzungsfehler anzusehen wäre und durch den poetischeren Ausdruck „gen“ ersetzt würde:

Kraniche zogen [gen] Süden.


Ich hatte im vorgehenden Kommentar erwähnt, weshalb ich mich für das Wort gegen entschied, und heiter ergänzt: Mögen die Philologen über mich herfallen. Doch bald darauf wurde mir bange, da mir bewusst wurde, dies könnte jemand als Philister deuten und sich angesprochen fühlen. Aber erlösend vor dieser Angst ist mir nun, dass du Analoges zur Präposition vorschlägst.

Ich werde mir Gedanken machen, ob diese altdeutsch poetische Form es in die höhere literarische Sphäre retten könnte.

Als schwächste Stelle erscheint aber die mittlere Zeile: bekanntermaßen sind Kraniche ohne Ausnahme sterblich. Da wirkt die Wortwahl im mehrteiligen Adverb (manchmal) wenig treffend:

Deine kluge Sprachinterpretation zieht mir dann aber augenscheinlich doch den Teppich unter den Füssen weg. Und rettet mich wieder:

Was zunächst als Schwäche erscheint, hält nun das ganze Gedicht zusammen, wird quasi zum Pivot-Element - einschließlich der verwendeten Zeitenfolge: nicht alle Kraniche, die in dieser Saison gen Süden zogen, werden mit der Kirschblüte zurückkehren. Vergangenheit & Zukunft werden allein durch die Gegenwart zusammengehalten - und der Buddhist kann nun getrost sagen und ergänzen - wobei man nur wissen sollte, dass der Kranich als Symbol der Langlebigkeit steht

Dank der glücklichen Verbindung von Philologie mit Ökonomie.

Ist denn etwas, das wie die Weisheit aus der Binse daherkommt, weniger wahr als ein Syllogismus oder messerscharfe logische Schluss?

Wie sollte ich auch mehr erkennen, als es die alten Griechen mit dem Syllogismus taten: Alle Menschen sind sterblich. Alle Menschen sind Griechen. Alle Griechen sind sterblich.

Diese Deutung wird Kawanabes Worte, der das Gesetz der Natur aufzeigte, durchaus gerecht.

Meine eigene Erkenntnis mit diesem Text ist, mit der Vereinfachung wird der Beifall nicht hörbarer. Deshalb werde ich wieder zu der mir eigenen Schreibweise zurückkehren.

Ich danke dir, lieber Friedel, für deinen exklusiven Kommentar, der den schlichten Esprit von Kawanabe durchschaute. Es war mir ein Vergnügen, deiner Deutung zu folgen.

Gruss

Anakreon

 
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(Was dich, Anakreon, amüsieren wird: Ich schreibe dies, während ich darauf warte, dass das Wasser für meinen Kabuse-cha zu kochen beginnt.)

Während mir der Inhalt zugänglich ist, brachte mich die anscheinend gewollt atmosphärische Beschreibung der Witterung ins Stocken. Das scheint mir zu dick aufgetragen, außerdem wirkt es auf mich, als sollte der Text damit gestreckt werden. Damit stehe ich wahrscheinlich allein da.

Ergänzung 03.07.2011: Ok, stehe wohl doch nicht allein da, wenn ich Kasimirs Kritik so lese.

(Wasser kocht soeben).

Ich finde es aber sehr schön, dass du den Schüler "über etwas meditieren" lässt. Das machen wir Menschen alle zu selten und es funktioniert bei kurzen Texten wie deinem am besten. Der Haiku wirkt etwas ungelenk auf mich. Ist er es wirklich?
"Kraniche zogen gegenden"; diese garstigen drei Zweisilber hintereinander könnte man mit "Kraniche zogen gen Süden" verhindern.

Im Abschluss entfaltet der Text eine angenehme, aber melancholische Wirkung und leitet fast unmerklich und doch zwingend in die Meditation über die Vergänglichkeit über.

 

Hallo Leif

Ende der sechziger Jahre rezensierte ich ein Buch mit dem Titel: Wenn das Teewasser im Kessel singt. Ich hatte es längst vergessen, doch dein Warten auf das kochende Wasser, liess es in meinen Gedanken wieder aufleben.

Während mir der Inhalt zugänglich ist, brachte mich die anscheinend gewollt atmosphärische Beschreibung der Witterung ins Stocken.

Du siehst es schon richtig, es ist eine strenge Konzentration von Witterungselementen. In einer Umgebungsbeschreibung eingebettet, wäre es weicher geworden. Ich habe es nochmals gelesen und denke, diese Übergewichtung lässt sich mit einer kleinen Kürzung/Verschiebung beheben: Letztes Laub wirbelt durch den Garten.
Eine Streckung des Textes sollte es nicht sein, sondern das Bild von Kawanabes äusserer Wahrnehmung zeichnen. Ich denke mit der vorgenommenen Kürzung von Ein Luftzug, Vorbote der Kälte, liest es sich insgesamt runder.

Der Haiku wirkt etwas ungelenk auf mich. Ist er es wirklich?

Ungelenk, vielleicht. Mir lag in diesem Teil vor allem an der Einfachheit und zugleich der Regulation. Na gut, Friedel hatte schon das poetischere gen vorgeschlagen. Es sei denn so.

Im Abschluss entfaltet der Text eine angenehme, aber melancholische Wirkung und leitet fast unmerklich und doch zwingend in die Meditation über die Vergänglichkeit über.

Schön, dass er sich dir so entfaltete, mehr lag auch nicht in meiner Absicht für den Leser, da die Antwort jeder selbst finden muss.

Es freut mich, dass du den Sinn wahrnehmen und zulassen konntest.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Vergiss nicht, das "gen" auch im Titel zu verwenden. ;)

Finde übrigens, dass die Zeiten in den ersten zwei Zeilen des Haikus völlig sinnvoll sind. Dass Kraniche manchmal sterben ist eine allgemeine Weisheit, die zeitlos ist. Nur, wenn das Sterben zusammen mit dem Fliegen in den Süden in der Vergangenheit stattfände, müsste es "starb" heißen.

 

Wolken ziehen über die Welt wie Geisterschatten.
Menschen schreiben.
Manchmal versteht einer.
Lord

 

Hallo Lord Arion

Einer deutet die Natur mit dem Kopf, ein Anderer versteht sie durch das Herz. Einem Dritten wiederum sagt sie gar nichts.
Einerlei, die Natur wirkt.
Wäre da nicht auch der, den sie einfach erfreut so wie sie ist.
Mehr Worte bedarf es an sich nicht, wenn es um deren Betrachtung geht. Nur wahrnehmen kann jeder sie nur selbst.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Seltsam, dass es des Studiums Karl Krauss’ bedurfte, um das genial Einfache dieses Textes zu entdecken, vielleicht bin ich auch nur "zu" langsam, obwohl Du doch,

lieber Anakreon,

einen Hang auch zum Altertum hast und Kraniche - da braucht's eigentlich gar nicht des Fernen Ostens - seit dem Tod des Ibykos durch die Literatur geistern (auch als Mordsvögel) bis hin zu Brechts Terzinen für die Liebe (ursprünglich „Die Liebenden“), durch die der arme BB durchs gegensätzlichste Pärchen der Literaturgeschichte auf den Olymp gehoben wird: Kraus preist und Benn schätzt es als eines der schönsten deutschen Gedichte.

1 „Sieh jene Kraniche in großem Bogen! / Die Wolken, welche ihnen beigegeben / Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen“, -
auch hier der Bezug zu den Wolken, die bei Dir MIT den Kranichen gen Süden ziehen (wiewohl es eher umgekehrt ist: die Kraniche ziehen mit den Wolken).

4 „Aus einem Leben in ein andres Leben. / In gleicher Höhe und mit gleicher Eile / Scheinen sie alle beide nur daneben.“ –
Kawanabe ist im Herbst des Lebens

Letztes Laub …
- und beschreibt ein letztes Mal
flink Zeichen auf ein Papier
,
nachdem seine
Augen […] sich zum Himmel [richten].

7 „Daß also keines länger hier verweile / Daß so der Kranich mit der Wolke teile / Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen“ –
Kawanabe verneigt sich vor der Natur, nimmt sie hin, wie sie ist, nimmt es hin, wie es kommt.

10 „Und keines andres sehe als das Wiegen / Des andern in dem Wind, den beide spüren / Die jetzt im Fluge beieinander liegen“
und wird / ist eins mit ihr:

13 „So mag der Wind sie in das Nichts entführen; / Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben / So lange kann sie beide nichts berühren“ –
der Wind lässt Gras und Laub rascheln wie der Atem / der Odem dem / den Alten als Symbol der Seele gilt.

usw., - ich kürz hier den Weg ab -

bis hin zur abschließenden Zeile

24 „So scheint die Liebe Liebenden ein Halt“ -
Was bei Brecht (wie schon bei Dante) die Zweierbeziehung ist, wird hier weitgehend verallgemeinert: als Liebe zum Leben und unaufgeregter Akzeptanz des Todes –

die letzte Unterweisung, die … der Meister
seinem erschrockenen Schüler Shigenobu geben kann.

Wenn es nun noch gelänge, die umgangssprachliche Formulierung

Shigenobu, der Schüler von Kawanabe, zieht …
in einen nackten Genitiv zu verwandeln etwa der Gestalt
Shigenobu, der Schüler [des] Kawanabe, …,
(es ginge auch ohne Artikel,) der kleine Text wäre allen Lobes wert wie seinerzeit Quinns Was Heine vergaß -eine Variation übers alttestamentarische Belsazar Thema.

Gruß

Friedel

 

Lieber Friedel

Das freut mich ausserordentlich, dass das Einfache des Textes seinen Sinn nicht nur in Kammern stiller Leser entfaltet. Es stimmt, der Maske des Fernen Ostens hätte es nicht bedurft. In seiner Wirkung mutierte es dadurch gar zu einer Eulenspiegelei. Dabei eilte der blinde Spiegel des Narziss doch hinweisend voraus.

Dass Krauss dir den Anstoss gab, unter Benns Wertschätzung von Brechts Terzinen der Liebe, es unverstellt zu betrachten, ehrt meinen bescheidenen Text. Auch wenn ich nicht wie Brecht, der sich durch Dante inspirieren liess, eine grosse Eingebung hatte, sondern nur die Klarheit der Naturgesetze materialisieren liess.

Dein Textvergleich mit den Terzinen ist mir eine besondere Freude. Diese Analogie war mir nicht bekannt, doch bestätigt es mir einmal mehr, dass sich Denkweisen über lange Zeiträume hinweg wieder zu aktualisieren vermögen, dass Neues sich immer wieder auch in Altem findet.

Deine Anregung, zur Vollendung noch eine kleine Änderung vorzunehmen, war mir überzeugend und umgesetzt.

Ich danke dir für deinen Kommentar und die vergleichende Deutung, die für mich den Text nun noch intensiver wirken lässt.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

..., dass Neues sich immer wieder auch in Altem findet,
vor allem aber doch umgekehrt (sollte es ein mathematisches Gesetz sein?), was ja das Problem für viele Schreiber ist, Neues schaffen zu müssen -

um dann in Feuchtgebeten und Schoßgebieten zu versumpfen oder die Farbe des Nagellacks, mit dem ein schöner Finger geziert wird, zu beschreiben.

Im übrigen nix zu danken,

lieber Anakreon,

die Empfehlung ist an sich schon eingereicht. Aber die Bürokratie ...

Gruß

Friedel

 

Ich bin sprachlos,

lieber Friedel,

jetzt steh ich da auf einem Platz, an den es mich eigentlich nie hindrängte.

Doch statt meine Bescheidenheit, oder ist es mehr Einfältigkeit?, zu erläutern, sage ich einfach herzlich Danke. Vor allem freut es mich, dass du dem Text das Wesentliche entnehmen konntest, das manchem andern vielleicht verschlossen bleibt.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Es stimmt, der Maske des Fernen Ostens hätte es nicht bedurft. In seiner Wirkung mutierte es dadurch gar zu einer Eulenspiegelei.

Wie der Zufall so spielt,

lieber Anakreon,

frag ich mich gerade: Sollte Karl Kraus Deinen kleinen Text gekannt haben?

Nun, hier ein kleines Fundstück:
„Wie immer dem sei, es erinnert an den Japaner, der in Deutschland lebte und auf meine Frage, was man denn in Asien zur deutschen Kultur sage, die bekannte, doch bei einem Japaner etwas ungewöhnliche Antwort gab: »Mer lacht«.“*, wenn dat ma' nich' Rheinisch is'!, wenn auch ein sehr spezieller rheinischer Dialekt, wobei ich mir nicht sicher bin, warum der Japaner Kölsch spricht, aber eher nicht trinkt / trank. Eher trinkt / trank er Alt. Denn aller Wahrscheinlichkeit lebt€ er in der größten deutschen Kolonie der Japaner: D’dorf.

Ansonsten: Nix zu danken, der Text hat's geradezu erzwungen!

Gruß

Friedel

* Vor »Macbeth« / (Einleitung zu Band II von Shakespeares Dramen) in Heft Nr. 908 der Fackel, Wien 1935, S. 13, http://corpus1.aac.ac.at/fackel/

 

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