Mitglied
- Beitritt
- 19.04.2003
- Beiträge
- 33
Kornblumenblaue Gedanken
Meine Farben-Lena, hatte ihr Vater sie immer liebevoll genannt. Du bist meine Farben-Lena.
Ihre Mutter hatte sie gar nicht genannt.
Die war schließlich mit ihrem goldgelben Heißluftballon in königsblauen Höhen irgendwo über dem wildroten Mount Everest.
Wann schreibt sie mir eine moosgrün leuchtende Postkarte?, hatte Lena oft gefragt.
Und ihr Vater hatte geseufzt und gesagt: Das geht doch nicht. Sie ist doch in einem Heißluftballon. Da kann man doch keine Postkarten verschicken.
Und dass Luftpost ebenfalls nicht ginge, hatte Lena auch recht schnell begriffen.
Ist doch klar, da kommt ja kein Postbote hin.
Genau, hatte der Vater bestätigt.
Aber weißt du was? Vielleicht hat sie über dem Meer eine Flaschenpost heruntergeworfen. Und irgendwann wird sie dich finden, diese Flaschenpost. Ganz bestimmt. Irgendwann.
Aber wann kommt sie denn wieder, meine Mama?
Weißt du, so eine Heißluftballonreise dauert lange, hatte er geseufzt.
Lange, lange. Wenn sie wiederkommt, schläfst du bestimmt schon. So, komm jetzt. Schlaf.
Diese unbefriedigende Antwort hatte Lena nie ganz verstanden. Doch sie fragte nicht weiter, sondern schlüpfte unter die Bettdecke um auf ihre violetten Träume zu warten.
Lena erzählte jedem, der es hören wollte – und es wollte eigentlich jeder hören – , dass ihre
Lieblingsfarbe Grünblaurotgelborangelilapinkrosatürkis war. Und jeder, der es hörte, lachte und sah etwas verwirrt zu ihrem Vater hoch, der dann immer zwinkerte und sagte: Sie ist meine Farben-Lena. Als ob das als Erklärung ausreichte.
Sobald sie gelernt hatte, was Rot und Blau war, wollte sie auch wissen, was Apricot, Zimtfarben und Zinnoberrot war. Alles hatte eine Farbe.
Das Leben war eine einzige Farbe.
Und es würde für sie immer eine Farbe bleiben.
Lena wurde größer, die Farben veränderten sich und doch hörten sie nie auf Farben zu sein.
Sie fotografierte sie oft, ihre Farben. Und sie malte sie gerne. Keine Gegenstände, Farben. Einfach nur Farben.
Doch mit der Zeit redeten die Leute.
Diese Lena, die ist ja eine Komische. Diese Lena, die sieht Farben, überall, sagten manche Menschen und sagten es so, dass Lena es hören konnte. Ihre Gedanken seien manchmal kornblumenblau. Diese Lena, die ist genauso verrückt, wie ihre Mutter damals. Und wir wissen ja alle, wohin sie das geführt hat.
Und dann sahen sie sich an, wissend, vielsagend, und nickten sich zu. Ja, so einfach war das.
Und Lena wurde stiller. Und farbloser.
Sie verstand sie nicht, diese Menschen. Diese Menschen, die mit ihr gelacht hatten, als sie noch ein Kind war und jetzt auf einmal über sie lachten. Und natürlich redeten. Und sich zunickten.
Freunde hatte sie keine, noch nie gehabt.
Denn die anderen interessierten sich nicht für Farben, sondern für normale Dinge.
Und wenn sie im Unterricht den Fehler machte und nebenbei erwähnte, dass sie sich gerade sonnengelb fühlte, lachten sie alle. Und sie lachten sie aus. Und gingen in Gedanken wieder zu ihren Motorrädern und neuen Kleidern.
Also sagte sie nichts mehr.
Kleine Lena, kleine Farben-Lena, warum siehst du keine Farben mehr?, fragte der Vater oft mit einem traurigen, meeresgrünen Gesichtsausdruck.
Und sie sah ihn an, mit blauschwarzen Gedanken und konnte ihm nicht sagen, dass sie die Farben ja noch sah, nur nicht mehr sehen wollte.
Sie sind eben weg, sagte sie. Einfach weg.
Und dann ging Lena hinaus. Hinaus in die grauschwarze Welt, von der sie sich nicht verstanden fühlte.
Sie konnte ihrem Vater nicht mehr in die Augen schauen.
Neulich noch hatte er ihr zwei Farbeimer geschenkt. Klatschmohnrot und Goldgelb. Und er hatte gesagt: Meine Lieblingsfarbe ist rotgelb.
Und erwartet, dass sie antwortete: Meine Lieblingsfarbe ist Grünblaurotgelborangelilapinkrosatürkis.
Sie hatte nichts erwidert.
Jetzt war sie draußen und lief die dunkelgrauen Straßen entlang.
Der Himmel war heute anthrazitfarben.
Und am Horizont flog ein Heißluftballon.
Hallo Mama, sagte Lena leise. Hallo, hallo.
Ich glaube, ich möchte auch eine Heißluftballonfahrt über dem Mount Everest machen.
Und diese Fahrt soll golden sein.
Sehnsüchtig blickte sie den Ballon an und stellte sich vor, es wären viele farbenfrohe Menschen darin. Und diese Menschen blickten nach vorne auf eine zitronengelbe und wellenblaue Landschaft. Und zurück auf eine nachtblaue Welt.
Weit oben am Himmel, weg von hier.
Und sie lief, lief nach oben.
Die Straße rannte sie entlang, einen Berg hinauf und wusste gar nicht wohin.
Dann sah sie ein Hochhaus, so hoch, dass ihr schwindelig wurde.
Und plötzlich wusste sie doch, wohin.
Sie beachtete die Stufen nicht, obwohl es mindestens hundert sein mussten.
Sie wollte einfach nur nach oben. Und deshalb rannte sie immer weiter, beachtete nicht ihr Herz, das rasend klopfte, beachtete nicht, dass sie zweimal beinahe hinfiel.
Es war nicht wichtig.
Als es endlich nicht mehr weiter hoch ging, fiel sie widerwillig auf die Knie.
Und atmete so schnell, wie noch nie vorher.
Die Erschöpfung überkam sie wie eine Flutwelle und ein paar Augenblicke lang konnte sie sich kaum bewegen.
Lena wartete, bis es besser ging und stand dann wieder auf. Leicht aufgeregt öffnete sie die Tür direkt vor ihr und ging hinaus. Hinaus auf das Dach des Hochhauses.
Der Kies knirschte unter ihren Füßen und sie suchte den Himmel nach dem Heißluftballon ab. Da, da war er.
Und Lena setzte sich hin und starrte ihn an.
Plötzlich ertönte ein Knarren hinter ihr. Es musste von der Tür kommen.
Erschrocken drehte sie sich um.
Ein Mann stand dort, mit einem ungepflegten Bart und verwaschener Jeans. Ein kariertes Hemd hatte er darüber an und seine Hände hielten eine Leinwand.
Was machst du denn hier?, fragte er abweisend. Er betonte das du.
Nichts, antwortete Lena.
Er schnaufte.
Könntest du bitte verschwinden? Ich muss arbeiten, sagte er etwas mürrisch und stellte seine Leinwand vorsichtig auf. Als wäre sie aus zerbrechlichem Glas.
Aus einer Umhängetasche holte er behutsam eine Farbpalette heraus. Ein kleines Fläschchen mit Wasser. Und mehrere Pinsel.
Lena starrte ihn an. Ein Maler.
Hast du mich nicht verstanden? Warum bist du noch hier?
Ich. Ich muss doch, stotterte sie und sah hinauf zu dem Heißluftballon, der immer noch in Sichtweite war.
Er folgte ihrem Blick.
Du willst Heißluftballon fahren?, fragte er zweifelnd und seine Augenbrauen begegneten sich in der Mitte.
Ich. Nein. Doch, vielleicht schon, flüsterte sie. In zitronengelbe Länder. Und über königsblaue Meere.
Zitronengelbe Länder?, fragte er verwundert.
Du magst wohl Farben, was?
Lena umschloss ihre Knie mit den Armen.
Nein, sagte sie. Nein, ich mag keine Farben.
Sein Blick war bohrend, er sah durch sie hindurch.
Warum?, fragte er.
Als ob das so einfach zu erklären wäre. Als ob man einfach Warum fragen konnte.
Sie antwortete nicht.
Ich mag Farben, sagte er. Meine Welt ist bestimmt von Farben.
Warum?, wiederholte sie seine Frage spöttisch.
Er lächelte.
Weil sie meine Gefühle einfach besser als Worte ausdrücken können.
Skeptisch blickte sie ihn an.
Aber, sagte sie, wenn man sich nicht gut fühlt. Dann helfen sie doch auch nicht mehr, die Farben.
Er lachte.
Aber da können sie doch auch nichts für. Die Farben haben ja auch nichts damit zu tun, dass man sich nicht gut fühlt, sagte er.
Farben verbessern und verschlechtern nichts, Farben helfen zu erklären.
Aber. Lena sprach nicht weiter. Wusste eigentlich nichts mehr zu erwidern.
Nachtblau ist auch eine Farbe, sagte er und rührte mit seinem Pinsel auf der Farbpalette.
Dann malte er einen nachtblauen Strich mitten auf das Papier.
Lena war verwirrt.
Sie stand auf, sagte, Ich gehe dann jetzt, und ging.
Tschüss, hörte sie noch seine zimtfarbene Stimme und langsam stieg sie die endlosen Treppenstufen wieder herab.
Draußen auf der Straße, blickte sie auf zu dem hellblauen Himmel und suchte ihn nach dem Ballon ab. Er war nirgends zu entdecken.
Und während die orangerote Sonne, die schon den ganzen Tag gestrahlt hatte, unterging, überlegte Lena sich, dass Heißluftballons vielleicht doch keine guten Reisemöglichkeiten waren.
Zuviel himmelblau.