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Kopflos in London
Mystery-Krimi
Wenig später traf die Polizei an dem Fundort ein, und sie stellten fest, dass dem Opfer der Kopf abgetrennt wurde. Sie machten sich auf die Suche nach dem fehlenden Körperteil, konnten ihn aber auch nach Stunden nicht finden. Im Morgengrauen gaben sie die Suche auf und widmeten sich der Aufklärung des ungewöhnlichen Falls.
Bereits an diesem Tag erschien ein erschreckender Artikel in der London Times, welcher die Polizei wachrüttelte. Die Reporter der Zeitung fanden eine Verbindung zu ähnlichen Morden. Sie alle geschahen jedes Jahr in derselben Nacht und das bereits zum fünften Mal. Allen Opfern fehlte der Kopf, und keiner wurde je gefunden. Als die Polizei dem nachging, mussten sie der Darstellung in dem Artikel zustimmen. Der Mord stand mit bereits als „ungelöst“ markierten Fällen im Zusammenhang. Auch bei diesem Anschlag rätselten sie eine Zeitlang, bis der Vorfall schließlich zu den Akten gelegt wurde. Die Justiz ließ die Öffentlichkeit im Ungewissen. Und so geschahen in den folgenden Jahren weitere Morde, aber ein Täter wurde nie gefasst.
Erst als im Mai 1929 ein Mann namens Simon Miller, seines Zeichens leitender Angestellter im Buckingham Palace, ermordet und kopflos aufgefunden wurde, stellte der Kriminalinspektor James Byron eine Vermutung auf. Soweit er die Geschehnisse der bisherigen Fälle zurückverfolgen konnte, besuchten sie alle einen Tag vor ihrem Tod den Londoner Tower. Einige Zeugen berichteten, die Verstorbenen hätten ihnen erzählt, dass sie bei diesem Besuch etwas Unglaubliches beobachtet hatten. Sie sagten aus, die Opfer hätten den Geist der einstigen Königin von England, Anne Boleyn, gesichtet. Außerdem fand Byron heraus, dass ausschließlich junge Männer, die allesamt jungfräulich waren, getötet wurden. Bei der genaueren Untersuchung der Leiche von Miller bemerkte der Leichenbeschauer einen Abdruck am Ringfinger der linken Hand. Die Schwester des Verstorbenen gab aber an, dass ihr Bruder unverheiratet war. Um sicher zu gehen, ließ Inspektor Byron die Opfer der vergangenen fünfzehn Jahre exhumieren. Es stellte sich heraus, dass auch diese Leichen einen entsprechenden Abdruck an ihrem Ringfinger hatten, und daher verzichteten sie auf weitere Exhumierungen.
Bei der Suche nach Antworten kamen James Byron die fantastischsten Ideen, die bei seinen Kollegen auf Ablehnung stießen. Er hatte die Theorie, dass die Morde im Zusammenhang mit Anne Boleyn stehen. Der Geist der ehemaligen Königin wurde jedes Jahr am 19. Mai im Tower von London gesehen, woraufhin derjenige in der nächsten Nacht verstarb. Anne Boleyn wurde am 19. Mai 1536 im Londoner Tower hingerichtet. Der erste Mord, bei dem der Kopf des Opfers entfernt wurde geschah aber erst im Jahre 1877.
Warum gab es keine früheren Mordfälle, oder wurden sie vornehmlich von der Justiz unter Verschluss gehalten, um die Öffentlichkeit nicht zu beunruhigen? Auch auf die Frage nach dem Abdruck eines Ringes sowie auf die Jungfräulichkeit der jungen Männer fand Byron keine passende Antwort. Doch bei einem privaten Essen mit Reverend Phillip Rayfield kam Byron einem der Rätsel auf die Spur.
Im Jahre 1876 wurde die Grabstätte unter dem Kirchenschiff der Kapelle des Londoner Towers, in der unter anderem Anne Boleyn begraben war, umgelagert und in die Gruft der Kapelle verlegt. James Byron vermutete, dass möglicherweise der Schädel der Verurteilten bei der Umlagerung übersehen wurde, weshalb die Köpfe der Opfer abgetrennt waren. Den Grund, warum ausschließlich junge Männer starben, sah er darin, dass ihr durch Männer Unrecht zugefügt wurde und sie wegen angeblichem mehrfachen Ehebruchs und inzestuöser Beziehungen zu ihrem Bruder zum Tode verurteilt wurde. Byron beschloss, überprüfen zu lassen, ob alle Überreste der Königin umgebettet wurden.
Etwa zwei Monate nach dem Mord an dem Angestellten wurde die Gruft geöffnet. Anthropologen untersuchten sämtliche Knochen und setzten in mühevoller Kleinstarbeit die Skelette der Königin sowie weiterer Verurteilter, die damals ebenfalls unter dem Kirchenschiff beerdigt wurden, zusammen. Als das nach einiger Zeit geschafft war, bestätigen sie die Annahme von dem Inspektor: Der Schädel der Königin fehlte.
Daraufhin suchte James Byron den Reverend auf, der ihn bei der Bitte, das alte Grab in der Kapelle erneut zu öffnen, unterstützen sollte. Doch die Londoner Verwaltung und die Bevölkerung wehrten sich gegen das Vorhaben des Inspektors. Sogar König Georg V. erteilte ein Verbot und forderte, die einstige Grabstätte unter dem Kirchenschiff ruhen zu lassen.
Im Jahr darauf verschwand ein Kirchenmitglied spurlos. Allerdings fand man ihn einige Tage später kopflos in seinem Haus am Stadtrand. Er wies dieselben Merkmale auf, die alle „Boleyn-Opfer“ – wie sie die Polizei nannte – zeigten. Und nach einem kritisierenden Artikel in der Times gab der König nach und befahl die Öffnung des alten Grabes in der Kapelle im Londoner Tower.
Innerhalb kürzester Zeit wurde der Boden aufgerissen und nach dem vermissten Schädel der früheren Königin von England gesucht. Man fand insgesamt fünfundfünfzig Schädel in der alten Grabstätte. Anthropologen konnten sie während ihrer Untersuchungen den bisherigen vierundfünfzig Todesopfern und – zur Erleichterung aller Beteiligten – Anne Boleyn zuordnen.
Drei Tage später versammelten sich einige Kirchenangehörige in der Gruft, um der Bestattung beizuwohnen. Dabei gebührte Phillip Rayfield die Ehre, den fehlenden Teil in die Gruft der Kapelle zu überführen. Mit einem beispiellosen Gebet, gedachte der Reverend der eigensinnigen Schönheit, die einst Heinrich VIII. von England mit ihrem für die damalige Zeit recht kühnen Auftreten verzaubert hatte und dazu verleitete, die Dispens von Papst Julius II. zu umgehen, was später sogar zum Bruch mit der römisch-katholischen Kirche führte. Entgegen den ungezählten Gerüchten, die gegen Anne Boleyn gestreut wurden, erklärte Rayfield sie für eine bedauernswerte und missverstandene Persönlichkeit, die zu Unrecht den Tod durch Enthauptung mit dem Schwert erleiden musste. Anschließend bekreuzigten sich die Anwesenden, und die Gruft wurde in der Hoffnung auf ein Ende der Mordserie wieder geschlossen.
Sowohl die Kirche als auch der englische Hof waren davon überzeugt, dass es keine weiteren „Boleyn-Opfer“ mehr geben würde. Nur James Byron überlegte, denn etwas blieb ungeklärt. Den Ringabdruck, welchen jedes Opfer aufwies, erklärte er dadurch, dass Anne Boleyn selbst jahrelang einen Ring an ihrer linken Hand trug, welchen sie vor dem Tod ihrer Tochter als Andenken überreicht hatte. Aber er kam nicht auf die Bedeutung, weshalb die Todesopfer jungfräulich waren, denn Anne Boleyn hatte ihre Jungfräulichkeit weit vor ihrem Tod verloren.
Nach einiger Zeit des Grübelns schloss sich Inspektor Byron jedoch der Meinung der Kirche an und betete für ein Ende der Todesserie. Allerdings wusste niemand, dass Anne Boleyn ihren wertvollen Ring nicht freiwillig ihrer Tochter Elisabeth, welche auch unter dem Namen „Die jungfräuliche Königin“ bekannt war, vermacht hatte. Somit fand die einstige Königin Englands noch immer keine Ruhe. Das mussten die Bewohner Londons im Jahr darauf feststellen, als die Glocke des Big Ben in der Nacht nach dem 19. Mai durch die Dunkelheit hallte.