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Kopfgeburt

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09.09.2015
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Kopfgeburt

Schnee knirschte unter meinen schweren Wanderschuhen. Winzige, funkelnde Eiskristalle, die unter dem Druck meines Gewichtes ihre Einzigartigkeit verloren. Der monotone Takt meiner Schritte trug mich tiefer in den Wald hinein.
Ich musste wandern, Kondition und Ausdauer trainieren. Ich hatte mir Großes vorgenommen. Im Frühjahr wollte ich den Camino Frances von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela pilgern. Wo gehörte ich hin, war die Frage, auf die ich mir vom Pilgerweg eine Antwort erhoffte. Es war mir ernst. Und doch lächelte ich in mich hinein, zog die Pudelmütze tiefer in die Stirn und legte einen Zahn zu.

Die erste Weggabelung, ich musste mich entscheiden. Rundweg Kirchberg - zehn Kilometer, der sollte es sein. Den Forstweg kannte ich mittlerweile zur Genüge, jede freie Sekunde war ich in letzter Zeit hier entlang gestapft. Nur die unscheinbare Abzweigung, vielleicht eine Abkürzung, war mir bisher nicht aufgefallen. Einer spontanen Eingebung folgend, bog ich ab.
Mit jedem Meter wurde es düsterer. Mannshohe, dicht stehende Kiefern, die sich gegenseitig Halt gaben, zu beiden Seiten des Weges. Eine unheimliche Stille legte sich über die Welt, es war, als würde der Schnee jeden Laut schlucken. Nur das Geräusch meiner Schritte, ein dumpfes Mahlen, begleitete mich. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Und da kam sie nach oben, die Erinnerung an das Gespräch mit meiner Freundin Anna. Ich hatte versucht, sie zu verdrängen, erfolglos.

„Bist du verrückt? Du läufst allein durch den Wald?“
„Ich habe keine große Auswahl. Bundesstraße oder Waldweg.“
„Und wenn dich jemand überfällt?“
Ich lachte auf. „Wer sollte mich überfallen?“
„Sag mal, bist du wirklich so naiv? Hinter jedem Busch kann ein Irrer lauern.“
Die Richtung, in die die Unterhaltung driftete, gefiel mir nicht. „So ein Blödsinn! Die Verrückten warten nicht im Gebüsch, bis alle Schaltjahre eine Frau vorbeikommt. Dort, wo die Menschen aufeinander hocken, dort findest du die kranken Hirne.“
„Besorg dir wenigstens ein Pfefferspray!“ Anna legte die Stirn in Falten.
„Ich hab’s doch gerade gesagt, so ’nen Quatsch brauch ich nicht.“ Mir war klar, Anna meinte es gut mit mir, und doch ging sie mir gehörig auf die Nerven. „Keiner Menschenseele bin ich bisher begegnet. Lass es gut sein, Anna! Ich bin erwachsen.“
„Gegen deine Sturheit ist kein Kraut gewachsen. Nimm wenigstens dein Handy mit, Dickkopf.“

Ein schneller Griff in meine Jackentasche. Kalt und flach lag das Telefon in meiner Hand. Ein gutes Gefühl. Ich atmete tief durch und ging zügig weiter, doch Annas Worte spukten weiter in meinem Hirn. Wenn dich jemand überfällt.
Es raschelte im Unterholz. Ich blieb stehen. Sah mich um, lauschte. Stille. Überprüfte das Handy. Kein Netz. Drehte mich um die eigene Achse. Vorwärts. Immer einen Fuß vor den anderen setzen. Erst jetzt nahm ich die riesigen Fußabdrücke von groben Profilsohlen im Schnee wahr. Und wenn doch …?
Wieder ein Knacken, als würde ein dürrer Ast brechen. Mein Herz wummerte. Laut und schnell trommelte es in den Ohren. Akribisch suchte ich mit den Augen die Umgebung ab.
Ich konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Nur die Kiefernschonung, die in alten Baumbestand überging. Aufgereiht wie Zinnsoldaten standen hohe, schlanke Nadelbäume mit kahlen Stämmen vor mir. Eine feindliche Armee, die mich stumm anglotzte. Sonst nichts. Ich riss die Wollmütze vom Kopf, ich wollte hören, was um mich herum geschah, keine gefilterten Laute wahrnehmen.
Der Wind frischte auf und die Wipfel der Bäume flüsterten mir zu. Hinter jedem Busch kann ein Irrer lauern. Nichts wie weg hier. Langsam setzte ich mich in Bewegung, wurde schneller und schneller. Rannte blind vor Angst immer weiter. Erst als ich am Ende meiner Kräfte war, blieb ich atemlos stehen. Ich schnappte nach Luft, meine Lunge brannte. Was tat ich da? War ich nun völlig durchgeknallt? Stopp! Ich musste zur Vernunft kommen. Es gibt keine wirkliche Bedrohung. Heute ist nichts anders als sonst. Besorg dir wenigstens ein Pfefferspray! Hier ist niemand außer mir. Ich bin nicht in Gefahr. Bist du verrückt? Nein.
Tief sog ich die klare, frische Waldluft ein. Jeder Atemzug brachte ein Quäntchen mehr Ruhe und Frieden. In einiger Entfernung konnte ich den breiten Wanderweg sehen. Rundweg – Kirchberg, er führte zurück ins Dorf, in die Zivilisation.

Ich zuckte zusammen, erstarrte. Um mich herum ein ohrenbetäubendes Krachen und Knacken, das Bersten von Zweigen und Ästen, ein Waldbeben. Aus dem Unterholz brachen drei Rehe und sprangen vor mir über den Pfad. Wunderschöne, elegante Wesen, die mit anmutigen Sprüngen das Weite suchten. Sie waren längst aus meinem Blickfeld verschwunden, als ich ihnen immer noch versonnen nachschaute. Fluchttiere.

Die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, die Schultern bis an die Ohren hochgezogen, machte ich mich auf den Heimweg.
Ein letzter Blick zurück, und da sah ich sie, die Angst. An den Stamm einer Fichte gelehnt, grinste sie mir ins Gesicht. Ich werde zurückkommen. Dann wird sich zeigen, ob sie auf mich gewartet hat.

 

Hola peregrina,
una vez más – Du bist ja bald auf dem Camino – bzw. Deine Prota.
Ich fand Deine Antwort auf meinen Komm irre gut. Hatte richtig Spaß dabei. Bist doch eine gottverdammte Perfektionistin!
Beispiel:

... es gibt tatsächlich einige Sätze, die haben im Laufe ihres kurzen Lebens mehrere Entwicklungsstadien hinter sich.
Alle Achtung.
... wie beeinflussbar wir letztendlich sind. Konnte ich wohl nicht so deutlich vermitteln.
Halt, halt! Natürlich konntest Du! Das ist doch der Drehpunkt der Geschichte. Ist bei mir bestens angekommen.

Wenn das der Hape liest, macht er einen Purzelbaum rückwärts, trotz seiner Figur.
Ja, und der endet dann in einem Salto mortale.
Hape und le mort. La morte ? Auf jeden Fall schwer vorstellbar. Der hängt doch am Leben wie unsereiner auch. Es sei denn, Du ...
Ich weiß nicht, welche Idole meine Prota anhimmelt, ich hab’ keine. Oder doch?
Haha. Klar doch.

Zitat José:
... obwohl, dreimal ist viel.
Das hab ich in Ungarn gelernt. Nett, nicht? In D hätte ich gesagt: zu viel. Sensibilität!
Hier fehlte sie mir leider:

Das ist ja das Interessante, Die Prota nimmt diese Geräusche im Pegelbereich eines Bebens wahr.
Da hab ich echt gepennt. Das tut mir leid.
Während meiner Mitgliedschaft bei den WK hab ich so langsam, aber eindringlich gelernt, jeden Text auch dahingehend zu studieren, was wohl der Autor ungesagterweise seinem Text noch aufsatteln wollte. Danke für Deine Klarstellung.
José:
Rehe sind verletzlich, die umgehen jedes Hindernis elegant
.
Du:
Sicher bin ich mir nicht, habe jetzt kein Fachgespräch mit einem Wildhüter geführt, aber die Rehe haben doch so etwas wie feste Rennstrecken, immer gleiche Schneisen.
Ich:
Könnte das auch bedeuten, dass sie quasi ‚blind’ die gleichen Schneisen benutzen, auch wenn ein unbekanntes Hindernis ...? Ich marschiere jede Nacht mit meinem Hund durch die Gegend und bin immer wieder erstaunt, dass er sich auch außerhalb des Lichtkreises meiner Taschenlampe nicht verletzt, weil er darauf besteht, die Frisbeescheibe auch bei verhangenem Himmel zurückzubringen. Und das im (selbstangelegten) Dschungel.
José:

Bei mir unvermeidbar - PS zum Text:

Bist du sicher, ...
peregrina:
Ganz sicher.
Super! So kommen wir voran.
Felsenfest:
Kaum hat sich das zarte Pflänzchen Selbstwertgefühl aufgerichtet, sich zum Licht gereckt, da lass ich es mir bestimmt nicht von einer Rotte wilder Schweine niedertrampeln.
Peregrina, lass Dich umarmen! Diese klare Aussage haut sie alle aus den Latschen. Nur so zementiert man seine Position.
... das sind genau die Momente, in denen sich die Erzählerin vor die Prota schiebt.
Das ist auch mein größtes Problem. Ich hab’s richtig schwer damit – aber wie die Nase, so der Schreibstil:D:.

Peregrina:

Wenn das ´Elend´ am größten ist, schnell eine dumme Bemerkung, ein unpassender Kalauer, um dem Ganzen negative Energie zu entziehen.
Menschenskind - Du hast es echt drauf!
Eineiige Zwillinge sind wir wohl nicht, aber ich erkenne eieiiges Denken, Fühlen.
I Love You:kuss:. Kuss. Couscous? Wir sind in der Schreibwerkstatt!
Deshalb:
Vielleicht kann ich demnächst ...
So denke ich auch. Was mir von den Komms nützlich erscheint, werde ich ...

Der gelungene Cocktail von gutem Handwerk, Sensibilität und Lebensnähe. Und Fleiß! [/QUOTE]
Erst Sprachlosigkeit, dann die relativierende Bemerkung meinerseits: plus etwas Glück und Zufall.

Brauchste nicht relatiwie auch immer. Hast genug dran geschrubbt – jetzt rieselt die Fanpost auf Dich herab, in Gold und Glitter – ich gönne sie Dir von ganzen Herzen!

José
(Meine Moleküle sind übrigens auch dabei:).
Ach ja:

... wir werden uns nicht aus den Augen verlieren.
Welch absurde Idee! Wie könnten wir denn?

Mach’s gut, Pilgerin.
Ich sag jetzt schon mal ‚Buen Camino!’

 
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Hallo hell,

danke fürs Lesen und Kommentieren meiner KG.
Da will ich gleich mal mit dem Titel ins Haus fallen.

Überhaupt, wann und warum empfinden wir Bedrohung ohne ersichtlichen Grund? Da passt natürlich auch der Titel, wenngleich er die beschriebene Angst natürlich im Vornherein relativiert.
Es handelt sich ja nicht um einen Triller, es wird dem Leser sicher sehr schnell klar, wohin die Erzählung führt, und da ist es kein Problem, meiner Meinung nach, wenn der Titel schon etwas vorgreift.

Kopfgeburt, hm, find ich auch so nicht wirklich ansprechend.
Also ´Kopfgeburt´ empfinde ich als ein extrem unästhetisches Wortgefüge, assoziiere ich mit Blut und Schmerz. Es ist kein wirkliches Gegensatzpaar, die beiden Substantive schließen sich trotzdem irgendwie gegenseitig aus und so denke ich, macht der Titel neugierig.
Ich hab ihn halt ins Herz geschlossen.

Deine Hinweise zu stilistischen Unebenheiten gefallen mir gut, den Großteil der Verirrungen
werde ich nach deinen Vorschlägen verändern. Die Possessivpronomen werde ich reduzieren. Du wirst es kaum glauben, obwohl ich um die Tücken des Missbrauchs der Fürwörter weiß, sobald aus der Ich-Perspektive erzählt wird, ist mir dieses alles-Meine-Verhalten, meine extreme Gier, nicht aufgefallen.

Also, den Kerkeling würde ich rausnehmen, klingt viel ernsthafter und authentischer ohne, finde ich.
Mittlerweile sehe ich das auch so. Kerkeling wird verbannt.

Da Forstwege in der Regel breit sind, könntest du das Adjektiv rausnehmen.
Hast Recht, breit brauch ich nicht.

Über Ärger bin ich irgendwie gestolpert (warum auch immer), ich hätte wohl geschrieben: …und doch nervte sie mich.
Dein geistiges Eigentum werde ich, mit deiner Erlaubnis, übernehmen. Vielleicht ist Ärger in diesem Kontext wirklich ein zu starkes Empfinden.

Riesige Fußabdrücke ist mir too much; ließe sich verlustfrei und gewinnend streichen für mich.
Für mich nicht. Ich will unbedingt die Größe hervorheben, damit klar wird, sie gehören einem Mann.

Die Eingebungen der Freundin würde ich kursiv setzten, und den Doppelpunktsatz streichen, ist auch ohne klar, dass sie einen inneren Monolog führt, zudem nimmt der Satz Fahrt raus, finde ich.
Stimmt. Satz streichen. Nur die Anführungsstriche will ich nicht nutzen.

Unschöne Würde-würde-Kombination.
Auch das Übermorgen, hm, braucht es diese Zeitangabe? Wie wäre es mir:
Ich werde zurückkommen. Dann wird sich zeigen, ob sie auf mich gewartet hat.
Gekauft!

Ich habe mich wirklich sehr über deine stilistischen Verbesserungen (trotz der späten Stunde) gefreut und darüber, dass du die KG gelungen fandest. Ich denke, die Veränderungen werden dem Text gut bekommen.
Nimm mir nicht krumm, dass meine Reaktionszeit auf deinen Komm etwas verzögert war.
Lieben Gruß,
peregrina

 
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Hi Kanji,

danke für deinen Besuch in meiner KG.

anhand deiner Geschichte habe ich viel gelernt …
Bitteschön, man lernt nie aus.

Zum einen, dass sie tatsächlich kurz sein darf …
Noch bin ich in der Entwicklungsstufe, in der ich plotlastige Texte vermeide. Bevor ich mich im roten Faden der KG verheddere, konzentriere ich mich lieber auf Sachen wie Gefühle oder Reaktionen.

nicht mal einen Namen braucht die Protagonistin.
Das ist hammerhart, hab’ mich selbst erst etwas gewundert, dass dieser Umstand nicht störend wirkt, und später freudig akzeptiert.

Sie war wunderbar zu lesen und hat mich in den Schneewald mit allen Sinnen entführt.
Da scheine ich etwas richtig gemacht zu haben.

Und außerdem sag’ ich immer, wenn gar nichts mehr hilft, dann einfach weiter atmen.
Das ist eine clevere Devise und so gesund. Als ich letztlich auf dem Behandlungsstuhl vom Zahnarzt lag, hab ich über einen längeren Zeitraum das Luftholen vergessen.
Das ist wohl ihrem Unruhezustand beizumessen.

Liebe Kanji, danke fürs punktgenaue und humorvolle Kommentieren und natürlich bin ich begeistert, dass dir der Winzling gefallen hat. Sorry, wegen der späten Antwort.

Liebe Grüße,
peregrina


Hallo, schwarze sonne,

deine Geschichte hat tatsächlich bei mir Heimweh erzeugt.
Tut mir Leid! Ich wollte mich nicht wie die Axt im Walde benehmen!
Ist natürlich gelogen. Wenn du die Stimmung nachempfinden konntest, dann ist es ein gutes Zeichen für mich.

Kein Park der Großstadt kann einen gescheiten Wald, vor der eigenen Haustüre, ersetzen.
Ja, es geht nichts über eigenes Brennholz.

...kurz, präzise, die Geschichte laufen lassen. So soll es sein.
Kurze, präzise Antwort: Das lese ich gerne.

Danke für deinen Leseeindruck.

Gruß aus den Niederlanden nach Chile,
peregrina

Hallo Henrik Sturmbluth,

danke für deine Rückmeldung. Ich denke, dass ich verstehe, was du genau meinst.
Und mach mich mal ans Überarbeiten.

Gruß peregrina

 

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