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Kopfgeburt
Schnee knirschte unter meinen schweren Wanderschuhen. Winzige, funkelnde Eiskristalle, die unter dem Druck meines Gewichtes ihre Einzigartigkeit verloren. Der monotone Takt meiner Schritte trug mich tiefer in den Wald hinein.
Ich musste wandern, Kondition und Ausdauer trainieren. Ich hatte mir Großes vorgenommen. Im Frühjahr wollte ich den Camino Frances von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela pilgern. Wo gehörte ich hin, war die Frage, auf die ich mir vom Pilgerweg eine Antwort erhoffte. Es war mir ernst. Und doch lächelte ich in mich hinein, zog die Pudelmütze tiefer in die Stirn und legte einen Zahn zu.
Die erste Weggabelung, ich musste mich entscheiden. Rundweg Kirchberg - zehn Kilometer, der sollte es sein. Den Forstweg kannte ich mittlerweile zur Genüge, jede freie Sekunde war ich in letzter Zeit hier entlang gestapft. Nur die unscheinbare Abzweigung, vielleicht eine Abkürzung, war mir bisher nicht aufgefallen. Einer spontanen Eingebung folgend, bog ich ab.
Mit jedem Meter wurde es düsterer. Mannshohe, dicht stehende Kiefern, die sich gegenseitig Halt gaben, zu beiden Seiten des Weges. Eine unheimliche Stille legte sich über die Welt, es war, als würde der Schnee jeden Laut schlucken. Nur das Geräusch meiner Schritte, ein dumpfes Mahlen, begleitete mich. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Und da kam sie nach oben, die Erinnerung an das Gespräch mit meiner Freundin Anna. Ich hatte versucht, sie zu verdrängen, erfolglos.
„Bist du verrückt? Du läufst allein durch den Wald?“
„Ich habe keine große Auswahl. Bundesstraße oder Waldweg.“
„Und wenn dich jemand überfällt?“
Ich lachte auf. „Wer sollte mich überfallen?“
„Sag mal, bist du wirklich so naiv? Hinter jedem Busch kann ein Irrer lauern.“
Die Richtung, in die die Unterhaltung driftete, gefiel mir nicht. „So ein Blödsinn! Die Verrückten warten nicht im Gebüsch, bis alle Schaltjahre eine Frau vorbeikommt. Dort, wo die Menschen aufeinander hocken, dort findest du die kranken Hirne.“
„Besorg dir wenigstens ein Pfefferspray!“ Anna legte die Stirn in Falten.
„Ich hab’s doch gerade gesagt, so ’nen Quatsch brauch ich nicht.“ Mir war klar, Anna meinte es gut mit mir, und doch ging sie mir gehörig auf die Nerven. „Keiner Menschenseele bin ich bisher begegnet. Lass es gut sein, Anna! Ich bin erwachsen.“
„Gegen deine Sturheit ist kein Kraut gewachsen. Nimm wenigstens dein Handy mit, Dickkopf.“
Ein schneller Griff in meine Jackentasche. Kalt und flach lag das Telefon in meiner Hand. Ein gutes Gefühl. Ich atmete tief durch und ging zügig weiter, doch Annas Worte spukten weiter in meinem Hirn. Wenn dich jemand überfällt.
Es raschelte im Unterholz. Ich blieb stehen. Sah mich um, lauschte. Stille. Überprüfte das Handy. Kein Netz. Drehte mich um die eigene Achse. Vorwärts. Immer einen Fuß vor den anderen setzen. Erst jetzt nahm ich die riesigen Fußabdrücke von groben Profilsohlen im Schnee wahr. Und wenn doch …?
Wieder ein Knacken, als würde ein dürrer Ast brechen. Mein Herz wummerte. Laut und schnell trommelte es in den Ohren. Akribisch suchte ich mit den Augen die Umgebung ab.
Ich konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Nur die Kiefernschonung, die in alten Baumbestand überging. Aufgereiht wie Zinnsoldaten standen hohe, schlanke Nadelbäume mit kahlen Stämmen vor mir. Eine feindliche Armee, die mich stumm anglotzte. Sonst nichts. Ich riss die Wollmütze vom Kopf, ich wollte hören, was um mich herum geschah, keine gefilterten Laute wahrnehmen.
Der Wind frischte auf und die Wipfel der Bäume flüsterten mir zu. Hinter jedem Busch kann ein Irrer lauern. Nichts wie weg hier. Langsam setzte ich mich in Bewegung, wurde schneller und schneller. Rannte blind vor Angst immer weiter. Erst als ich am Ende meiner Kräfte war, blieb ich atemlos stehen. Ich schnappte nach Luft, meine Lunge brannte. Was tat ich da? War ich nun völlig durchgeknallt? Stopp! Ich musste zur Vernunft kommen. Es gibt keine wirkliche Bedrohung. Heute ist nichts anders als sonst. Besorg dir wenigstens ein Pfefferspray! Hier ist niemand außer mir. Ich bin nicht in Gefahr. Bist du verrückt? Nein.
Tief sog ich die klare, frische Waldluft ein. Jeder Atemzug brachte ein Quäntchen mehr Ruhe und Frieden. In einiger Entfernung konnte ich den breiten Wanderweg sehen. Rundweg – Kirchberg, er führte zurück ins Dorf, in die Zivilisation.
Ich zuckte zusammen, erstarrte. Um mich herum ein ohrenbetäubendes Krachen und Knacken, das Bersten von Zweigen und Ästen, ein Waldbeben. Aus dem Unterholz brachen drei Rehe und sprangen vor mir über den Pfad. Wunderschöne, elegante Wesen, die mit anmutigen Sprüngen das Weite suchten. Sie waren längst aus meinem Blickfeld verschwunden, als ich ihnen immer noch versonnen nachschaute. Fluchttiere.
Die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, die Schultern bis an die Ohren hochgezogen, machte ich mich auf den Heimweg.
Ein letzter Blick zurück, und da sah ich sie, die Angst. An den Stamm einer Fichte gelehnt, grinste sie mir ins Gesicht. Ich werde zurückkommen. Dann wird sich zeigen, ob sie auf mich gewartet hat.