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Kontaktdefekt
Kontaktdefekt
Im Zimmer wird es zunehmend dunkler. Er genießt es. Dann kann das Licht nicht mehr eindringen. Dann bleibt die Welt von allein draußen.
Laut schrillt das Telefon. Es beißt in seine Ohren. Dringt in sein Hirn. Sie dringt ein. In seine eigene Welt. Er steht auf, zündet eine Kerze an, auf dem blanken Holzfußboden. Setzt sich wieder daneben. Blickt in die Flamme. Sie wird nach einigen Sekunden kleiner. Wächst dann wieder. Flackert in ihrer vollen Größe.
Seit zwei Tagen ruft sie an. Das Telefon klingelt immer wieder. Dann das Handy, er sieht ihre Nummer. Geht nicht ran. Sieht fremde Nummern. Geht nicht ran. Es klingelt. Er geht nicht ran.
Gestern abend klingelt es an der Tür. Sein Herz bleibt für einen Moment stehen. Ist sie tatsächlich gekommen? Hat sie so viel Mut gehabt? Hat sie es für ihn getan? Er sinkt auf den Holzfußboden zusammen, legt den Kopf auf die kühlen Bohlen. Er kann spüren, dass sie unten vor dem Haus steht. Glaubt, ihre Blicke zu erahnen. Zu seinen Fenstern. Sie muss den Schimmer der Kerze sehen. Sie weiß, dass er da ist. Sein Kopf liegt schwer auf dem Boden. Er hat gewollt, dass sie kommt. Dass sie ihn holt. Herausholt. Zu ihm hereinkommt. Dass sie den Panzer knackt. Den, den er für sie stark strapaziert hat.
Er hat sie gebeten, ohne Worte, mit viel zu vielen Worten. Gebeten, dass sie ihn holen kommt. Er hat Angst.
Das Klingeln ist für einen Moment unterbrochen. Er hört, wie die Haustür zuschlägt.
Hört Schritte auf der Treppe. Steht langsam auf und geht durch die Wohnung. Seine Füße bewegen sich, barfuss auf blankem Holz, auf die Tür zu. Wie von allein. Sein Kopf schwirrt.
Sie kommt ihn holen. Jetzt endlich. Sie wird hereinkommen und ihn holen. Jetzt ist es geschafft. Sie hat die Schallmauer durchbrochen. Seine Festung.
Sein Atem geht schneller. Immer schneller. Er legt die Hand auf seinen Puls am Handgelenk. Spürt das unkontrollierte Pochen.
Er schwankt. Gerade, als er ihre Schritte vor der Tür halten hört. Ein schneller Griff nach dem Türrahmen rettet ihn vor dem Sturz. Davor, dass sie ihn stürzen hörte.
Sie drückt auf die Klingel vor der Wohnungstür. Direkt über ihm schrillt es scharf. Seine Fingerknöchel werden vor Anspannung weiß. Jetzt kommt sie mich holen. Endlich. Jetzt schon.
Es klopfte an der Tür. Ihre Hand. Nur Zentimeter von ihm entfernt. Sein Atem wird schneller. Lauter. Kann sie ihn hören? Er zittert. Zu-erst die Hände.
Noch ein Klopfen. Nicht mehr so zaghaft.
Er könnte öffnen. Dann käme sie herein. Könnte, würde ihn holen. Er sollte öffnen. Er hat sie gebeten. Mit zu vielen und zu wenigen Worten.
Als er von sich erzählt hat. Als er Versprechungen gemacht hat. Als er gebeichtet hat. Jetzt kommt sie, weil sie verstanden hat, dass er gerettet werden muss. Und sie, das hat er gleich gesehen, sie ist die, die ihn rettet. Wenn nicht sie, dann keine. Darauf hat er gebaut. Deshalb hat er gebeichtet. Mit viel zu vielen und zu wenigen Worten.
Dann zuhause. Als es langsam nachließ. Als die Tropfen aufhörten zu wirken, und bevor er den Mut zusammen bekam, neue Tropfen zu nehmen. Es waren ohnehin schon viel zu viele. Ihretwegen. Seinetwegen. Für die Rettung. Die Angst kroch durch ihn durch. Problemlos. In jede Faser. Ungefragt.
Sie klopft wieder. Klingelt noch mal. Ruft an. Klopft.
Warum. Was will sie sagen? Was kann so wichtig sein? Sie will ihn retten. Es ist wichtig. Er brauch sie. Dann wird es wieder besser. Dann hat er wieder den Mut. Keine Tropfen mehr. Kein Zögern.
Und wenn sie nicht will? Wenn sie kommt, um Lebwohl zu sagen? Aber dafür doch nicht der Aufwand. So viel Mühe. Schon seit Tagen. Es klopft wieder. Lebwohl? Will sie das sagen? Wie könnte sie etwas anderes sagen wollen? Wie könnte sie verkraften, was er ihr gesagt hat? Wie könnte sie ihn nach seiner Beichte noch lieben? Sie wird Lebwohl sagen.
Ein lautes Klopfen. Dann schiebt sich unter der Tür durch auf ihn zu ein kleines Stück Papier. „Warum machst Du nicht auf?“
Er lehnt sich gegen die Tür. Sinkt an ihr herunter. Warum kann sie nicht wenigstens draufschreiben, ob sie ihn retten wird, oder nicht. Sie soll sein Anker sein. Zieh mich aus diesem Loch. Hol mich raus.
Er hört sie gehen.
Dann, eine Stunde später, beginnt das Telefon wieder zu klingeln. Auch heute klingelt es wieder.
Es klingelt. Er geht nicht ran. Wartet auf das nächste Klingeln. Er mal sich aus, was sie zwischen den Anrufen tut. Wie sie in ihrer Wohnung herum geht. Einkauft, duscht, Freunde besucht. Und immer wieder anruft. Unregelmäßig, aber immer wieder.
Er fürchtet sich vor jedem Anruf. Fürchtet sich vor jedem Klingeln. Und dann vor den Pausen. Und davor, dass der Anruf mit diesem Klingeln endet. Davor, dass es der letzte Anruf ist.
Dass sie ihn nicht retten wird. Dass sie ihn verlässt, bevor es begonnen hat. Seine Furcht frisst ihn auf. Er gibt ihr Nahrung. Lässt sie wachsen.
Dann, als der letzte Anruf kommt, als es zum letzten Mal klingelt, als die letzte Pause zwischen den Tönen keine Pause mehr ist, sondern das Ende, wartet er darauf, dass sie ihn rettet.
Wartet auf ein Zeichen.
[Beitrag editiert von: arc en ciel am 13.03.2002 um 09:21]