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Kontaktdefekt

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08.11.2001
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Kontaktdefekt

Kontaktdefekt

Im Zimmer wird es zunehmend dunkler. Er genießt es. Dann kann das Licht nicht mehr eindringen. Dann bleibt die Welt von allein draußen.
Laut schrillt das Telefon. Es beißt in seine Ohren. Dringt in sein Hirn. Sie dringt ein. In seine eigene Welt. Er steht auf, zündet eine Kerze an, auf dem blanken Holzfußboden. Setzt sich wieder daneben. Blickt in die Flamme. Sie wird nach einigen Sekunden kleiner. Wächst dann wieder. Flackert in ihrer vollen Größe.
Seit zwei Tagen ruft sie an. Das Telefon klingelt immer wieder. Dann das Handy, er sieht ihre Nummer. Geht nicht ran. Sieht fremde Nummern. Geht nicht ran. Es klingelt. Er geht nicht ran.

Gestern abend klingelt es an der Tür. Sein Herz bleibt für einen Moment stehen. Ist sie tatsächlich gekommen? Hat sie so viel Mut gehabt? Hat sie es für ihn getan? Er sinkt auf den Holzfußboden zusammen, legt den Kopf auf die kühlen Bohlen. Er kann spüren, dass sie unten vor dem Haus steht. Glaubt, ihre Blicke zu erahnen. Zu seinen Fenstern. Sie muss den Schimmer der Kerze sehen. Sie weiß, dass er da ist. Sein Kopf liegt schwer auf dem Boden. Er hat gewollt, dass sie kommt. Dass sie ihn holt. Herausholt. Zu ihm hereinkommt. Dass sie den Panzer knackt. Den, den er für sie stark strapaziert hat.
Er hat sie gebeten, ohne Worte, mit viel zu vielen Worten. Gebeten, dass sie ihn holen kommt. Er hat Angst.
Das Klingeln ist für einen Moment unterbrochen. Er hört, wie die Haustür zuschlägt.
Hört Schritte auf der Treppe. Steht langsam auf und geht durch die Wohnung. Seine Füße bewegen sich, barfuss auf blankem Holz, auf die Tür zu. Wie von allein. Sein Kopf schwirrt.
Sie kommt ihn holen. Jetzt endlich. Sie wird hereinkommen und ihn holen. Jetzt ist es geschafft. Sie hat die Schallmauer durchbrochen. Seine Festung.
Sein Atem geht schneller. Immer schneller. Er legt die Hand auf seinen Puls am Handgelenk. Spürt das unkontrollierte Pochen.
Er schwankt. Gerade, als er ihre Schritte vor der Tür halten hört. Ein schneller Griff nach dem Türrahmen rettet ihn vor dem Sturz. Davor, dass sie ihn stürzen hörte.
Sie drückt auf die Klingel vor der Wohnungstür. Direkt über ihm schrillt es scharf. Seine Fingerknöchel werden vor Anspannung weiß. Jetzt kommt sie mich holen. Endlich. Jetzt schon.
Es klopfte an der Tür. Ihre Hand. Nur Zentimeter von ihm entfernt. Sein Atem wird schneller. Lauter. Kann sie ihn hören? Er zittert. Zu-erst die Hände.
Noch ein Klopfen. Nicht mehr so zaghaft.
Er könnte öffnen. Dann käme sie herein. Könnte, würde ihn holen. Er sollte öffnen. Er hat sie gebeten. Mit zu vielen und zu wenigen Worten.
Als er von sich erzählt hat. Als er Versprechungen gemacht hat. Als er gebeichtet hat. Jetzt kommt sie, weil sie verstanden hat, dass er gerettet werden muss. Und sie, das hat er gleich gesehen, sie ist die, die ihn rettet. Wenn nicht sie, dann keine. Darauf hat er gebaut. Deshalb hat er gebeichtet. Mit viel zu vielen und zu wenigen Worten.
Dann zuhause. Als es langsam nachließ. Als die Tropfen aufhörten zu wirken, und bevor er den Mut zusammen bekam, neue Tropfen zu nehmen. Es waren ohnehin schon viel zu viele. Ihretwegen. Seinetwegen. Für die Rettung. Die Angst kroch durch ihn durch. Problemlos. In jede Faser. Ungefragt.
Sie klopft wieder. Klingelt noch mal. Ruft an. Klopft.
Warum. Was will sie sagen? Was kann so wichtig sein? Sie will ihn retten. Es ist wichtig. Er brauch sie. Dann wird es wieder besser. Dann hat er wieder den Mut. Keine Tropfen mehr. Kein Zögern.
Und wenn sie nicht will? Wenn sie kommt, um Lebwohl zu sagen? Aber dafür doch nicht der Aufwand. So viel Mühe. Schon seit Tagen. Es klopft wieder. Lebwohl? Will sie das sagen? Wie könnte sie etwas anderes sagen wollen? Wie könnte sie verkraften, was er ihr gesagt hat? Wie könnte sie ihn nach seiner Beichte noch lieben? Sie wird Lebwohl sagen.
Ein lautes Klopfen. Dann schiebt sich unter der Tür durch auf ihn zu ein kleines Stück Papier. „Warum machst Du nicht auf?“
Er lehnt sich gegen die Tür. Sinkt an ihr herunter. Warum kann sie nicht wenigstens draufschreiben, ob sie ihn retten wird, oder nicht. Sie soll sein Anker sein. Zieh mich aus diesem Loch. Hol mich raus.

Er hört sie gehen.
Dann, eine Stunde später, beginnt das Telefon wieder zu klingeln. Auch heute klingelt es wieder.

Es klingelt. Er geht nicht ran. Wartet auf das nächste Klingeln. Er mal sich aus, was sie zwischen den Anrufen tut. Wie sie in ihrer Wohnung herum geht. Einkauft, duscht, Freunde besucht. Und immer wieder anruft. Unregelmäßig, aber immer wieder.
Er fürchtet sich vor jedem Anruf. Fürchtet sich vor jedem Klingeln. Und dann vor den Pausen. Und davor, dass der Anruf mit diesem Klingeln endet. Davor, dass es der letzte Anruf ist.

Dass sie ihn nicht retten wird. Dass sie ihn verlässt, bevor es begonnen hat. Seine Furcht frisst ihn auf. Er gibt ihr Nahrung. Lässt sie wachsen.
Dann, als der letzte Anruf kommt, als es zum letzten Mal klingelt, als die letzte Pause zwischen den Tönen keine Pause mehr ist, sondern das Ende, wartet er darauf, dass sie ihn rettet.
Wartet auf ein Zeichen.

[Beitrag editiert von: arc en ciel am 13.03.2002 um 09:21]

 

hallo Lord!
ich denke, es gibt bei den realen Texten verschiedene Probleme:

1. fehlende Distanz... dadurch wird es oft spröde, kriegt Schalgseite und kann ohnehin niemandem gerecht werden, nicht der eigenen Trauer, Verletztheit, Sichtweise oder den eigenen Gefühlen. Auf gar keinen Fall aber wird soetwas dem Gegenüber / den anderen Beteiligten gerecht.

2. Der ZOOM-Faktor. Wenn ich über fiktive Charaktere schreibe, muß ich sie mir so präzise ausmalen, wie für die KG nötig. Denn ich schreibe ja keinen Roman. Ob sie also 1-dimensional, 2-dimensional oder "voll-plastisch" werden, oder ob sie ein verworren vielschichtiges Ich erhalte, liegt an mir. Meine Charaktere können mir aber nicht so schnell über de Kopf wachsen. Sie entspringen mir. Von ihnen gibt es ( fast ) nur das, was ich auf Papier banne. ( Man muß nur seine Phantasie kanalisieren. )
Wenn ich dagegen über mich selbst schreiben würde, oder einen guten Freund, meinen Chef, den Nachbarn oder meinen Bruder / meine Schwester... wen immer, dann KENNE ich diese Person. Ich weiß, ob sie aufbrausend ist, liebevoll, schüchtern... ich habe es - für meine Handlungsvorstellung - gar nicht nötig, diese Figur näher zu beschreiben. Dann heißt es eben die ganze Geschichte über platt: Sabine sagte: , Tim dachte,..
aber niemand erfährt genug über Tim und Sabine... damit wird man ihnen nicht gerecht. Für den Leser aber noch schlimmer ist, daß er kein Bild bekommt. Alles wird hölzern und steif, durchsichtig..
Das andere Extrem ist dann, daß der Autor so sehr versucht, den Personen alles mitzugeben, was er über sie weiß, daß es den Leser erschlägt...
Sabine, die ihr langes braunes Haar schüttelte, wie sie es immer tat, fuhr versonnen mit dem Finger über ihre dunkelroten Lippen. Ihr Haar trug sie jetzt schon seit der 5. Klasse so lang und es schimmerte wundervoll im Licht.
Mal ist das ja ok, aber einen ganzen Text lang braucht das keiner.
Dann wird alles schwülsitg, überladen, zu viel ... und die Handlung verkommt zum Flickzeug...
Oft sehe ich auch, daß solche Lebens-Autoren sich scheuen, ihren LieblingsFiguren negative Eigenschaften zuzuschreiben. Dann wird es eine Vergötterung, die mich nicht anspricht.
Ich weiß schon, warum ich eigentlich nie Biographien von irgendjemandem lese...

Ich hab nur ein mal eine Geschichte aus meinem Leben geschrieben, einfach, weil sie raus mußte. Aber wenn ich die heute lese, dann muß ich sagen: "textlich" ist es das schlechteste, was ich je geschrieben habe, (und das will was heißen.) Und ich habe sie nur einem einzigen Menschen gezeigt, und dabei sollte es wohl auch bleiben.
Ich würde mich durchaus an soetwas wieder herantrauen. Aber ich weiß, daß ich mir damit selbst Steine in den Weg lege...
außerdem ist das eine Form von emotionalem Exhibitionismus, mit der ich nicht zufrieden bin. Ich habe meine Wege gefunden, Lebensgeschichten zu umgehen und lebe sehr gu damit :D ...

Wenn Du Dich also tatsächlich an eine reale Storie trauen willst, wünsche ich Dir Glück und vor allem Abstand zum Wirklichen.
Wenn es Dir gelingt, die Situation so zu schreiben, daß sie sich gut lesen läßt, gebührt Dir wirklich großes Lob. Wenn Du dann auch noch der Realität gerecht wirst, noch größeres. Also hau rein, und sichere Dir das Lob!

Lieben Gruß,
Frauke

 

Hi Frauke

Mit jeder Geschichte die ich schreibe, und poste, lerne ich mehr dazu(außer bei Rechtschreibung, das dauert leider länger)und ich freue mich über jede "gelungene" Darstellung meinerseits.
Selbst wenn die Geschichten teilweise fiktiven Charakter haben wie z.b. "Die Jugend meines Vaters"
steckt da unheimlich viel von mir , als Sohn drin, der nie die Chance hatte mit seinem Vater zu kommunizieren.

In wie weit das nun exhibitionistisch zu werten ist, vermag ich selbst gar nicht zu sagen, ich merke für mich nur zwei Dinge;
1.es tut mir gut, mich auf diese WEISE DAMIT AUSEINANDERZUSETZEN, und
2. wenn meine Art zu sein/zu schreiben einen leserkreis anspricht, gibt es mir für meine Linie/Intention Recht.

Ich wäre niemals so vermessen, das auf andere übertragen zu wollen.
Und genau so, wie ich es für mich in Anspruch nehme, gestehe ich diese Freiheit die Mittel zu wählen auch jedem anderen zu..

Lieber Gruß vom

Lord/Arvid

 

hallo Arvid,

ich finde es gut und richtig, wenn man seine eigene Innenwelt in einer KG verarbeitet. Nein, ich mache jetzt keine Kehrtwende!
was ich darunter aber verstehe, ist, daß man nicht Situationen hinschreibt, die mal waren, oder aus drei davon eine macht, oder sich selbst schreibt, mit einer neuen Umwelt... das eigene Leben mit Happy-End oder so... bitte, jeder, wie er mag, ich eben nicht.
was ich meine, ist das Übertragen von Situationen / Gefühlen / Erlebtem...
wenn ich eine Trennung von einem Menschen "verarbeiten" wollte, dann würde ich vielleicht über eine Marsexpedition schreiben. Wenn ich Wut über eine schlechte Note hätte, würde ich einen Bombenleger fabrizieren... oder aus Angst vor der Dunkelheit eine kleine Katze erfinden, die auf einem viel zu hohen Baum sitzt. Die Wut über eine verpaßte Straßenbahn als Beziehungsdrama...
Das ist meine Form der "Verarbeitung". Manchen meiner Texte liegt sie zugrunde. anderen überhaupt nicht. Nur kann niemand wirklich sehen, welchen Texten überhaupt soetwas zugrunde liegt. und schon gar nicht, WAS darin steckt. Manchmal ist es so fein, daß es kaum für mich wiederzufinden ist...

Exhibitonismus muß nichts schlechtes sein. Es ist von beiden Seiten Geschmackssache... sehen und gesehen werden :D
Den sehe ich eben vor allem bei den Autoren, die ihr eigenes Leben auf den Präsentierteller legen... da liegt es ziemlich schutzlos... da sollte man aufpassen.
Wer das Echo nicht verträgt...
nein, ich denke, hier sind alle schon sehr fair: halbwegs konstrukitv zumindest, oder einfach keine Kritik...
mir sind ja auch schon Verrisse untergekommen, so von wegen: Tagebuch, gehört hier nicht hin!
und an dem Text war nicht ein Fünkchen ICH! da muß ich dann mit Abstand zur Kritik doch fragen: war es so schlecht, daß es klang, wie selbst erlebt, oder so gut?

die 1. Kritik zu diesem Text.
armer schwarzer Kater
ich hab's einer Freundin gezeigt, und die fand es sehr lustig, daß man MICH darin wiederfinden konnte!
leider kann man das hier ja nicht beweisen... aber was soll's.
Das war einer meiner 1. Texte hier und als frischling unterstellt man vielen Beziehungsschreibern Autobioghraphie denke ich... nur passiert es mir jetzt immer noch - von anderen Kritikern. :( :D

Lieben Gruß,
Frauke, die eigentlich längst schlafen sollte!

[Beitrag editiert von: arc en ciel am 12.04.2002 um 02:12]

 

vielen Dank! Du stöberst meine ganzen alten Texte shcön wieder auf... das mag ich! waren ja schon so weit unten verschüttet. bin gespannt, ob Dein Rätseln am Ende zum Gefallen führt, oder nicht ;)

 

Jo, bringt einen irgendwie fett ans:D , wenn man liest, was so vor einem Jahr abging... Die Texte aber bleiben und somit bleibt ein Stück der Gedankenwelt aus dieser Zeit.
Schöne Dokumente! Egal, ob Geschichte, oder Kommentar.

Lord:D ;)

 

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