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Kommst du zu mir in der Nacht
Ein warmer Wind streift mein Gesicht und weht die Haare in die Luft. Das Vibrieren des Smartphones verkündet eine Nachricht. Ich achte nicht darauf. Das Seeufer ist verlassen und das Alpenpanorama in einer grauen Himmelssuppe verschwunden. Möwen fliegen hoch und kreischen dabei, als fühlten sie sich gestört. An manchen Bäumen erkenne ich die ersten Knospen an den dürren Zweigen. Das Gras sättigt sich nach und nach in diesen Tagen, zeigt frischeres Grün. Die von den Bergen herabwehende Luft verbindet sich mit diesem eigentümlich modrigen und würzigen Seegeruch. Ich sauge sie auf und fülle mich damit. Bald wird es dunkel werden. Das Licht bildet in dieser Stunde weichere Konturen am Himmel. Einen Schimmer rotorange finde ich darin. Ich beschleunige meine Schritte und streife die Kapuze über den Kopf.
Meine Kopfschmerzen zerfasern, verkriechen sich. Ich stelle sie mir wie eine dunkle Masse vor, die sich zusammenzieht und ausdehnt, wie sie will, genau wie mein Leben. Ein schwarzes Loch im Schatten. Die letzten Schritte weiche ich den Pfützen und der schlammigen Erde aus. Am Auto angekommen, streife ich die Kapuze zurück und schüttle mein gekräuseltes Haar. Die Nachricht fällt mir wieder ein. Ich berühre den Bildschirm und sehe das grüne Symbol mit dem Namenskürzel ‚Nat‘, daneben ein stilisiertes Emoji-Blümchen. Mein Bauch füllt sich von alleine. Kälte und Wärme zugleich. Ich bin froh, dass es eine Blume und kein grinsendes Smiley ist. Nathaniel, von dem ich - laut meiner Strichliste - dreißig Wochen nichts gehört habe. Zweiundfünfzig Wochen, ein Jahr, mehr gab ich mir für das Vergessen nicht. Nathaniel, der aus meinem Leben verschwunden war, den ich mit Schweigen umhüllte. Ein abgebrochener Halbsatz auf dem Home-Bildschirm: „Kommst du in der…“, die ganze Nachricht kann ich erst lesen, wenn ich die App öffne. Ich warte, atme tief. Ich kenne den Satz. Es ist unser Satz. Eis im Kopf und Hitze im Bauch. Dieser Satz gehört mir. Warum stiehlt er mir meinen Satz? Hunderte Male habe ich ihn benutzt, den Code unserer Liebe. Mein erster Impuls ist, den Kontakt zu löschen und abzuwarten, bis die letzten Wochen vorüber sind. Der Betrüger, der Lügner. Der Wagen glänzt nachtblau. Ich öffne die Tür, werfe die Tasche mitsamt dem Smartphone hinter den Fahrersitz, starte den Motor und fahre los. Surrend öffnen sich die Fenster. Ich brauche Luft. Rosafarbene Flächen am Horizont. Endgültig Dämmerung.
*****
„Kommst du heute in der Nacht.“ Und er kommt. Damals, bevor wir zusammen wohnten, damals in unserer Sturmzeit Eine Stunde später, zwei Stunden. Das war nicht wichtig. Er kommt. Wie er es schafft, dass die Glocke eindringlicher und sanfter klingt, fand ich nie heraus. Sein federnder Gang. Ich stehe an der Tür und warte auf ihn. In meinem Bauch spüre ich, wie er sich nähert. Ein warmes Gefühl steigt empor, ohne dass ich es will, breitet sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus, lange bevor er auf mich zugeht. Ich stehe da, den Arm auf den Türrahmen gestützt, zurecht gemacht, parfümiert. Er nimmt die letzte Treppenstufe. Dasselbe Grinsen wie ich, die Augen auf mich gerichtet. Er beschleunigt seine Schritte nicht, als genösse er die Verzögerung, als wolle er meine Sehnsucht steigern. Seine Arme umschließen mich. Er umfasst mich und ich drücke mich fest an ihn, so fest ich kann, verberge mich in ihm, presse meinen Kopf an seine Brust. Ich biege mich zurück, bis er mich küsst, öffne mich, schmecke ihn vanillin und pfefferminzen mit offenen Augen. Die feuchte Festlegung des Glücks, das mich wie ein Sommerwind durchströmt. Das kalte Leder der Couch nimmt unsere Hitze auf. Nie fallen wir übereinander her. Das kommt später. Als müssten wir uns einander versichern. Wir erzählen uns Kleinigkeiten, bis wir nicht mehr können. Von Menschen, über die wir gelacht haben, von Gesichtern, die wir gesehen haben. Was wir gegessen haben und worüber wir uns gelangweilt haben. All das. Wir lachen dabei, das vor allem.
Sobald die Stille aufkommt, der Wein, das Bier ausgetrunken sind, lieben wir uns. Er zieht mich aus, langsam und sorgsam, küsst meine Armbeuge, die kleinen Zehen, den Rücken. Alles. Er kennt meinen Körper besser als ich, als wolle er ihn sich in sein Herz einbrennen. Das hat er gesagt, Nathaniel, mein Nathaniel.
Wie beiläufig sprechen wir über unsere Geheimnisse. Schonungslos. Wie ich mich betrunken von Pauline überreden ließ, es mit ihrem Freund Max zu treiben, während sie zusieht. Wie ich meinem Kanarienvogel das Genick gebrochen habe, als meine Eltern mir sagten, dass ich ihn in die neue Wohnung nicht mitnehmen dürfe. Nathaniel schaut mich mit seinen hellen Augen an und schweigt, wenn ich von solchen Dingen spreche. Wenn er von sich spricht, braucht er Einleitungen und benutzt Umwege. Was zuvor passiert, warum und wann, bis er zum Kern kommt. Die geplatzten Träume als Profitennisspieler, den nie erreichten Job als Manager eines Bundesligavereins. Nach den Sternen greifen will er. Er ist ein Träumer, dabei hat er einen gutbezahlten Job in der Sponsoring-Abteilung eines Automobilherstellers.
*****
Die schwarzen Buchstaben seiner Nachricht verschwimmen, machen mich schwindlig. Ich will ihm antworten, ich will ihn sehen, ich will zu ihm kommen in der Nacht. Ich will ihn auf keinen Fall treffen. Mir fällt sein Grinsen ein, als er mir sagte, dass er eine andere hat. Er konnte es nicht kontrollieren, ein Lächeln schoss aus ihm heraus, anzüglich, fröhlich, glücklich, grollend, geil, empörend, weil es ihr galt. Darin steckte der Schweiß ihrer Haut und das Stöhnen, das er ihr entlockte. Sie war laut, wenn er sie fickte, sie musste laut sein. Mein leises Seufzen war ihm zu wenig. Ich hasste ihn, meinen Nathaniel.
Ich beschließe, die Botschaft nicht zu ignorieren. Ich werde versuchen, ihn anzurufen. Ja, ich werde mit ihm sprechen. Nach dem Duschen, ich muss zuvor den Staub und den Schweiß abwaschen. Das Wasser perlt an mir ab. Ich drehe den Duschkopf, es prasselt härter, reibt auf meinem Fleisch. Ich reguliere die Temperatur, einige Sekunden eiskalt, solange ich es aushalte. Die Kopfschmerzen sind verschwunden.
Mein Körper ist fest. Muskeln, die ich mir antrainiert habe. Am Bauch kann ich sie sichtbar anspannen. Meine Brüste sind klein und rund und werden nie hängen. Immerhin. Weiße, durchsichtige Haut, die keine Sonne aufnimmt, das hat Nathaniel ganz besonders gemocht. Nur die Beine haben nicht diesen eleganten Schwung, diese ästhetische Perfektion, die ich mir wünschte. Ich muss sie bestrumpfen, schlank sind sie ja. Länger als sonst rubble ich mich trocken, selbst Fußsohlen und Achselhöhlen lasse ich nicht aus. Für das Anziehen lasse ich mir Zeit. Eine Entscheidung muss her.
Ich greife mir das Handy. Die Botschaft von Nat ist längst im Nachrichtenordner abgelegt. Ich drücke auf das Symbol, das die Anwahl startet. Es klingelt und ich denke an seine Augen. Sie wechseln die Farbe. Bei Sonne oder wenn das Licht fahl und grell ist, sind sie blau und wässrig, bei künstlicher Beleuchtung strahlend grün. Ich warte darauf, dass er abnimmt und ich seine leise, ruhige Stimme höre. Schnell ein Schluck Wasser, kühl will ich klingen, wenn er mich hört. Ein Klacken. Er nimmt ab. Feines Rauschen zeigt die Verbindung an.
„Hallo.“
Seine Stimme. Er ist es.
„Ich bin’s. Du hast mir geschrieben“, flüstere ich.
„Ja. Kommst Du zu mir heute Nacht?“
„Nein, Warum sollte ich?“ Gut gemacht, sage ich mir, meine Stimme fröstelt richtig.
„Kommt bitte zu mir, Rebeca, bitte.“
„Wir können uns draußen treffen, wenn überhaupt.“
„Das geht nicht. Leider geht das nicht. Komm zu mir, ich bitte Dich.“
„Warum soll das nicht gehen?“ Ich werde lebhafter, weicher.
„Es geht nicht. Glaub mir einfach, Rebeca.“ Ich versteh ihn nicht. Er hat nie gelogen.
„Dann komm Du zu mir, ist mir lieber.“
„Rebeca, ich würde gern zu Dir kommen, es geht wirklich nicht. Bitte komm zu mir.“
Ich verstehe nicht, was er meint. Vielleicht ist er betrunken, ich weiß es nicht. Ich müsste nachhaken, härter sein, auflegen.
„Okay, Nat. Ich komme zu Dir. In einer Stunde bin ich da.“
Keine Ahnung, was ich da mache und ich will es gar nicht wissen. Das Vibrato seiner Stimme gibt mir eine warme Erinnerung, ein Strom von Leben durchfließt mich. Wahrscheinlich hat ihn seine Freundin verlassen oder er hat den Job verloren oder beides.
Ich lege auf, lasse ihm keine Möglichkeit, etwas zu sagen. Das Rauschen in der Leitung hört auf. Seine Stimme war belegt, kontrolliert, angespannt und dennoch hörte ich eine stille Freude. Ich muss erfahren, was er will, mehr nicht.
*****
Wir waren glücklich miteinander, ich war glücklich mit ihm. Wir beschlossen, zusammen zu wohnen. Nicht richtig, er blieb eine Woche bei mir und ich eine Woche bei ihm. Wir kicherten weiter, wir waren unbeschwert, liebten uns. Ich wollte ihn ganz und gar.
Hundstage folgten, Alltag. Ich vermisste das Besondere, dass er sich mit mir und niemand anderem beschäftigte, wenn wir zusammen waren. Stattdessen las er, surfte im Internet, spielte Games und schrieb Mails. Eifersucht nannte er es, wenn ich wissen wollte, wo er war und wen er traf. Nathaniel versprach mir, die Whattsapp-Nachrichten, die ich ihm schickte, sofort zu beantworten. Manchmal antwortete er stundenlang nicht. Warum?.
Und die Emails, die er schrieb, jeden Tag schrieb er welche, stundenlang, anstatt mit mir zu reden oder aneinander gekuschelt auf der Couch zu sitzen, bei Wein, bei Tee. Ich wollte ihm meine Liebe beweisen und gab ihm einen Zettel mit allen meinen Email-Accounts und Passwörtern. Konnte er alles lesen, ich hatte keine Geheimnisse vor ihm.
„Hier, damit Du weißt, wie sehr ich Dir vertraue.“
Es sollte eine Liebeserklärung sein.
„Was soll ich damit?“
„Du kannst meine Mails lesen.“
„Will ich aber nicht.“
„Liebst Du mich?“
„Ja.“
„Du sagst es mir nicht.“
„Ich liebe Dich.“
„Du brauchst das nicht sagen und nicht mit dem Ton.“
„Mm.“
„Gibst Du mir Deine Passwörter?“
„Nein, mache ich nicht.“
Ich war wütend, lief ins Schlafzimmer, knallte die Tür, heulte und versuchte ihn zu ignorieren, nicht mit ihm zu reden. Nach einer Ewigkeit kam er zu mir, klopfte an die Tür, brachte eine Flasche Sekt mit und küsste mich.
„Bitte versteh mich, ich mag das nicht. Du kannst mir vertrauen. Ich liebe Dich, Rebeca.“ Mehr sagte er nicht.
Ich liebte ihn, meinen Nathaniel, ich liebte ihn richtig. Ich wollte bei ihm sein, ihn in jedem Moment spüren. Was bedeutet für ihn Liebe?
*****
Jeans, die ausgefransten mit den reingeschnittenen Öffnungen unterhalb der Knie. Das enge, weiße Top, unter dem der schwarze Push-Up zu sehen ist. Flache Schuhe, unbedingt flache Schuhe. Ballerinas, darin spüre ich die Fußsohlen mit jedem Schritt. Aus der Schublade greife ich mir den roten String, den er so mochte und streife ihn über. Die seitlichen Bänder ziehe ich nach oben. Er muss sie bemerken, wenn ich mich so setze, dass er mich von hinten oder von der Seite sieht. Das mittlere Band schiebt sich zwischen meine Beine, dort, wo die Haut so zart ist, dort, wo ich Nat jetzt spüre. Ein Spritzer von dem Duft, der nach Drachenfrucht riecht, den er besonders mag. Issey Miyake. Ich will nicht daran denken, warum ich das mache. Ich will schön sein. Das vor allem.
Leichter Dunst, Nebelwolken, die sich über den See gelegt haben. Der Wagen gleitet über die Uferstraße ans andere Ende der Stadt. Ich fahre den Weg zu ihm, ohne nachzudenken. Auf dem Wasser spiegeln sich Lichter. Schmale Gassen, die ich langsam durchquere. Ich nähere mich dem Haus, in dem er wohnt. Zweimal fahre ich daran vorbei, um eine Lücke für das Auto zu finden. Im Radio läuft Coldplay. Hinter einer Kurve, im Halteverbot, stelle ich den Wagen ab. Die Ruhe verfliegt, die ich während der Fahrt verspürt habe. Ich stelle mir Nathaniel vor, wie er ungeduldig am Fenster steht und die Straße nach meinem BMW absucht.
Bevor ich aussteige, werfe ich einen Blick in den Spiegel. Meine Haut ist glatt und die Sommersprossen sind deutlich sichtbar. Für einen Moment bemerke ich die Farbe meiner Augen. Sie sind dunkelblau, Nat liebt sie. Ich richte mich auf, werfe den Kopf zurück und gehe los. Die flachen Schuhe dämpfen meine Schritte. Vor dem dreistöckigen Haus aus dem letzten Jahrhundert angekommen, überlege ich mir, ob ich ihm eine Nachricht senden soll. Wie er es gemacht hat, wenn er zu mir kam. Meine Hand spielt in der Tasche mit dem Handy, umfasst es, als wolle ich mich an etwas festhalten.
Ich entschließe mich, zu klingeln. Der Ton hallt in meinen Ohren, ein leises Summen. Es vergeht eine Millisekunde, bis sich die Tür öffnet. Im Flur riecht es nach Wachs, nach gebohnerten Stufen. Die verblassten Nachdrucke einer sommerlichen Landschaft in der Provence, hängen genauso schief wie damals, als ich zuletzt hier war. Selbst an den mannshohen Oleander, der vor einem Fenster im Treppenhaus steht, erinnere ich mich. Keine Geräusche, ganz still, kein Luftzug einer geöffneten Tür, kein Nat, der mir entgegenkommt. Die Eingangstür zu seiner Wohnung ist geschlossen. Dahinter sehe ich Licht. Milchglas. Jugendstil, bemalte Glaseinlagen, rot und blau. Ich suche den Klingelknopf. Nat müsste hinter der Tür sein, als Schatten sichtbar sein, aber da ist nichts. Die Stille hält an. Dennoch dauert es auch jetzt bloß einen winzigen Augenaufschlag und die Tür springt auf. Der Flur ist erleuchtet. Auf der Kommode mit den Intarsien aus Sternen und Blättern steht die Tiffany-Lampe mit dem grünen Glasschirm. Er ruft nach mir, die Stimme hallt durch die Luft. Höre ich darin Furcht? Sie ist nicht ganz klar, sie ist nicht ganz ruhig, die Stimme, die ich kenne und die sich in meinen Bauch gräbt.
„Ich bin hier im Wohnzimmer. Kommst Du zu mir?“
Ich sage nichts, wundere mich merkwürdigerweise nicht, warum er mich zu sich ruft, gehe den Flur entlang und bin erleichtert, dass ich es geschafft habe, dass ich hier bin.
Als ich ihn sehe, weiß ich es. Er sitzt im Halbdunkel. Sein Körper ist auf eine bizarre Weise in Unordnung, verdreht, geschrumpft, zerfallen. Sein Blick schlägt mir entgegen, die Augen durchbohren mich, enthalten Erwartung, Hoffnung, halten mich so fest. Lange Zeit sehe ich nichts außer diesen hellblauen Augen. Nach Stunden, nach Minuten, löse ich den Kontakt, schiele zur Seite, an ihm entlang, herab. Die Beine in eine Decke gewickelt, sitzt er auf einem metallischen Gestell, das mir fremd vorkommt an ihm, das ich aus dem fahlen Licht heraus wahrnehme und erst nach und nach als das begreife, was es ist. Ich hebe die Augen, erkenne auf dem Regal hinter ihm die aufgestellten Familienbilder und das Foto, das uns beide feixend neben Pluto in Disneyland zeigt. Nie habe ich länger am Stück gelacht, als mit ihm. Er durchbricht das Schweigen, zuckt die Achseln, der Schimmer seiner grünen Augen wird schwächer.
„Ein Unfall. Du weißt doch, dass ich nicht besonders gut Auto fahre.“
Ich lache auf, vielleicht eine Spur hysterisch.
„Ja. Autofahren war nie dein Ding.“
Keuchend prustet Gekicher aus ihm heraus, Tränen laufen über sein Gesicht, er kann gar nicht aufhören damit, und ich, ich lache mit ihm und denke mir, dass morgen früh, wenn der Tag anbricht, ein scharfer, warmer Wind den Nebel wegfegt. Der Säntis und der Piz Buin werden aus der Ferne auftauchen. Dorthin will ich mit ihm, nach ganz oben.