- Beitritt
- 21.04.2015
- Beiträge
- 1.419
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 26
Klebrige Lippen
Der Sommer damals dauerte ewig. Am Wochenende habt ihr euch immer im Park getroffen. Die Mädchen saßen auf der Lehne der Bank, die Jungs standen mit ihren Bierdosen davor. Irgendjemand hatte immer Musik dabei. Es roch nach gemähtem Rasen und warmer Erde. Deine Lippen waren klebrig, denn du hast immer Mixery oder Bacardi Breezer getrunken, kein hartes Zeug. Die schummrige Sicht auf die Dinge, die mochtest du, nicht den Vollrausch. Mit jedem Zug an der Zigarette fühltest du dich freier.
Ihr zogt weiter zum Bahnhof und fuhrt mit der Regionalbahn ins Umland. Da gab es nichts, außer eurem Lieblingsclub. Weißt du noch – samstags gab es drei Bier umsonst, wenn man vor zehn da war. Ihr habt euch immer nach vorne gedrängelt, habt es gerade so geschafft, bei Sandra die Gratisplörre abzuholen. Sandra arbeitete hinter der Bar. Sie hatte fettige blonde Haare und ein teigiges Gesicht. Du hast sie oft beobachtet. In deiner jugendlichen Arroganz mitleidig auf sie herabgesehen. Du hast sie nie gefragt, wie es ihr geht, wenn sie kurz vor der Bar stand, um eine zu rauchen. Ob zu Hause Kinder auf sie warteten? Oder ein Mann? Ab und zu hatte sie blaue Flecken an den Armen.
Alle waren da. Freunde, Vollidioten, Herzensbrecher. Jeder kannte jeden. Eine große Familie, die zum Takt durch die Nacht stampfte. Du hast getanzt, bis dein Kopf rot war und deine Haare am Gesicht klebten.
Deine Augen leuchten. Du leckst dir über die Lippen. Sie schmecken nach Bier und Zigarette. Der Bass von „Sound of da police“ dröhnt durch die Boxen und du wirfst die Arme in die Luft. Gegenüber auf der Tanzfläche steht der Junge aus der Oberstufe. Er lächelt dir zu und dein Herz springt dir bis in den Hals.
Sechzehn fühlte sich unendlich an. Heute rieselt mir die Zeit durch die Finger. Ich presse meine Hände fest zusammen, um den Sand aufzufangen, aber es hilft nichts. Du hast nicht gewusst, wie kostbar die Zeit ist. Hast jeden Tag aufgesogen, die Nächte gefeiert, den Kater am nächsten Morgen einfach fauchen lassen. Ich dagegen hasse ihn, weil er mir Zeit raubt.
Ich will dich bei den Schultern packen und schütteln. Für all die Stunden in der Schule, die du verflucht hast. Die Minuten, die dir so quälend vorkamen. Die Schule fuckt dich ab, aber weißt du was? Du wirst sie lieben. Später wirst du sie lieben, wenn du jeden Tag arbeitest und deine Freizeit dir aus der Ferne zuwinkt.
Dein Herz war groß und gierig. Es hat sich gekrümmt vor Schmerzen, als du deinen ersten Liebeskummer hattest. Du hast gehofft, dass es leichter wird, wenn du älter und erfahrener bist. Aber das wird es nicht. Ich wäre traurig, wenn es so wäre. Es muss wehtun.
Damals hast du es weggetanzt. Das schlechte Gefühl. Kummer, Wut, Frust. Der dumpfe Bass in deinen Adern, verloren in der Melodie, losgelöst von allem. Dein Lächeln war frei. Stünde ich in diesem Moment auf der Tanzfläche, den vibrierenden Boden unter meinen Füßen und dein Herz in meiner Brust, ich würde mir schwören, sie nie zu verlieren: Die Leichtigkeit. Denn auf dem Weg zu mir hast du einen Teil von ihr irgendwo liegen lassen.
Es muss nach dieser Nacht passiert sein. Als er durchgedreht ist und die Schlaftabletten geschluckt hat. Ich spüre deine Panik noch immer, als du zitternd den Notruf gewählt hast. Doch die Zeit hat Abstand geschaffen zwischen mir und deinen Gefühlen. Ich betrachte das Geschehen in einem alten Röhrenfernseher vor mir und empfinde alles gedämpft. Auf dem Bildschirm vor mir hockst du weinend auf dem Küchenboden und wühlst im Mülleimer nach der Tablettenpackung, weil der Arzt am Telefon dich fragt, wie viele der Typ im Schlafzimmer davon genommen hat. Am nächsten Tag wacht ihr beide auf. Benommen. Dein Lächeln ist gebrochen.
Du hättest sofort wieder tanzen gehen sollen. Seine Entschuldigungen nicht akzeptieren dürfen. Immer wieder hat er seinen Kopf gegen die Wand geschlagen oder dich mitten in der Nacht am Telefon beschimpft. Du verfängst dich in einer Vorstellung von Liebe, die dich aussaugt. Deine Augen verlieren ihren Glanz, dein Lachen seine Farbe. Es ist schwer, dich noch zu erkennen. Jahrelang irrst du neben dir her, ohne Musik, benebelt, abhängig von den Launen eines miesen Versagers.
Jetzt fragst du dich vielleicht, was ich von dir will. Die Dinge sind geschehen, also was soll das alles? Ich möchte, dass du gut auf sie aufpasst, diese Zeit des freien Schwebens. Genieße jeden Abend im Park, jeden Schluck klebrigen Colabiers und jeden einzelnen Schritt auf der Tanzfläche. Halte daran fest, denn dann fällt es mir vielleicht ein bisschen leichter, auch mal loszulassen.
Heute bin ich verheiratet. Wenn ich ihn ansehe, muss ich lächeln. So wie du damals gelächelt hast, wenn du verliebt warst. Du musst wissen, er tanzt wie du. Lässt alles fallen, blendet die anderen aus, verliert sich im Beat. Er greift nach meiner Hand und zieht mich an sich. Nur ganz selten gelingt es mir, ganz und gar da zu sein. In diesem einen Moment. Viel zu oft denke ich an eine Zukunft, die auch dann noch auf mich wartet, wenn ich sie mal für eine Weile ignoriere. Er hilft mir dabei sie auszublenden. Diesen kleinen Funken, den du auf dem Weg zu mir verloren hast, den hat er wiedergefunden. Er atmet jede Sekunde des Lebens so tief ein, dass mir ganz schwindlig davon wird. Ich glaube, du würdest ihn mögen, jedoch nicht zu schätzen wissen.
Noch nicht.
Deine Schritte haben mich hierher gebracht. Ramponiert und mit zerzausten Haaren kommst du bei mir an. Wir stehen uns gegenüber. Ein junges Mädchen und eine Frau in den Dreißigern, die sich nacheinander sehnen. Ich nehme deine Hände und betrachte dich.