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Klara, der Adler und ich
Der Klang der Sonntagsglocken schwingt hoch, wird von den Bergen zurückgeschickt. Der Nachhall vermischt sich mit neuen Glockenschlägen - so entsteht ein feierlicher Dauerton, der die Almwiesen und die grünen Hänge überzieht.
Klara gönnt sich auf dem höchsten Felsbrocken ein ausgiebiges Sonnenbad. Genüsslich räkelt sie sich. Mit dem Feldstecher schaue ich ihr zu. Schöne Kurven hat sie, sehr elegant.
Eine Schlange verspürt im Innern immerzu ein Frösteln, deshalb ist sie sonnensüchtig. Wärme, wunderbare Wärme nimmt sie auf wie ein Schwamm die Nässe. Das Maul lässt sie halb offen, damit auch die Giftzähne neue kosmische Energie tanken. Nur ist dieser Platz nicht ideal.
Ihr ist das bewusst, doch sie nimmt es in Kauf.
Von erhöhter Position erspäht sie im weiten Umfeld Hasenohren und Murmeltiernasen – und ist der Sonne näher. Andrerseits kann auch sie besser gesehen werden von ihrem Feind, dem Adler. Und wie das im Leben üblich ist, hat auch das wiederum zwei Seiten: Ihr Logenplatz lässt sie die Schatten seiner Schwingen früher erkennen, als wenn sie sich in einer Kuhle sonnte.
Einschlafen darf sie auf keinen Fall. Nicht, dass sie sich einen Sonnenbrand holen könnte, das wäre für ein Geschöpf mit sieben Häuten, das noch dazu aus der Haut fahren kann, kein Problem – nein, sie muss äußerst wachsam sein, denn Gefahr lauert überall. Aber intensive Sonnenwärme macht schläfrig.
Und in der Tat: Plötzlich macht es Wusch – und der Adler hat sie.
Wie ein Stein muss er vom Himmel gefallen sein, denn Schatten von Adlerflügeln hat sie nicht wahrgenommen. War sie doch eingenickt?
Schon befindet sie sich in der Luft, kann jetzt sogar ihren Sonnenplatz aus der Vogelperspektive erkennen. Ja, das war wohl etwas leichtsinnig.
Sie muss ihr Hirn benutzen: „Wohin fliegen wir, Verehrtester?“
„Ich möchte dir die Schönheit der Welt von oben zeigen.“
„Zu deinem Horst, nehme ich an?“
„Wirst schon sehen. Und jetzt halt’ die Klappe!“
„Ich mach mir nur Sorgen, weil wir gleich abstürzen werden“, giftet die Schlange.
„Du unterschätzt meine Flugerfahrung.“
„Iwo, im Leben nicht! Besonders jetzt nicht, wo es um dich geschehen ist!“
„Ich sehe die Sache eher umgekehrt.“ Er legt an Tempo zu und es rauscht gewaltig. Kommunikation ist nicht mehr möglich, doch es gibt auch nichts mehr zu sagen.
Sie beißt gleich zweimal zu - ein Biss in jede Keule. Dann spuckt sie angewidert ein paar Federn aus, schreit gegen das Fluggeräusch an und empfiehlt ihm zu beten.
„Ich und beten! Das fehlte mir gerade noch“, verwahrt er sich.
„Du bist ein dummer Snob!“, keift die Schlange mit durchdringender Stimme - aber da schmieren sie schon ab. Das ungleiche Paar gerät in merkwürdige Drehungen, dirigiert von einem exzentrischen Tanzmeister. Es vollführt einen Salto mortale nach dem anderen und trudelt, dramatisch verzögert durch die ausgebreiteten Schwingen, viel langsamer, als es die physikalischen Gesetze zuließen, runter auf den Acker.
Trotz der enormen Fallhöhe landet Klara butterweich und komfortabel auf dem Bauch ihres Feindes - unweit des Horstes, in dem wohl die Jungen vor Hunger Zeter und Mordio schreien.
Klara jedenfalls werden sie mit ihren ungeschickten Schnäbeln nicht zerpflücken.
Die löst die Adlerkrallen aus ihrer Haut, drückt dem Aar die Augen zu und will sich ihrer Wege schlängeln.
Halt, halt! Ein Hauch von Leben ist wohl noch in ihm – er blinzelt sie tückisch an, als wolle er ihr noch gefährlich werden. Sie aber glaubt, die Wirkung ihres Giftes zu kennen und drückt ihm die Augen ein zweites Mal zu.
Diesmal lässt er sie geschlossen.
„Ruhe sanft, König der Lüfte“, sagt sie gehässig und stellt sich vor, wie die Adlerseele seinem Schnabel entfleucht – wie ein mattsilbernes Nachthemdchen, das sich ruckelnd und zuckelnd nach Kaulquappenart Richtung Adlerhimmel voranarbeitet.
Hochzufrieden mit dem Lauf der Dinge, wendet sie sich nun ihren Geschäften zu.
Stopp! Abrupt unterbricht Klara ihr Davonschlängeln, hält inne. Da hätte sie doch fast etwas übersehen. Adlerjunge, die sich vor Hunger heiser schreien? Von wegen! Es ist März. Die sind doch noch gar nicht geschlüpft! Klara macht auf dem Absatz kehrt, reckt sich, so hoch es nur geht und züngelt.
Ihr Schlangen-Navi sagt: „Weiter nach rechts, dann höher und höher.“
Jetzt stimmt die Richtung.
Das ist beschwerlich, zumal sie noch nicht gefrühstückt hat. Sie schafft es, auch weil ihr der Gedanke an die sie erwartenden Delikatessen neue Kraft gibt. Auf einer solchen Höhe war sie noch nie, fast ist sie den Wolken näher als der Erde. Hier also wohnt der Adler! Eine unerhörte Fernsicht, wunderbare Ausblicke betören sie, lassen sie fast den Grund ihres anstrengenden Aufstiegs vergessen. Aber nein – ihr Magen knurrt ganz fürchterlich.
Geraume Zeit später regt sich etwas auf der Erde. Der Adler überprüft benommen sein Fluginstrumentarium. So eine Bruchlandung hat er bislang noch nicht hingelegt. Diese hinterhältige Natter! Genau auf sie zielt sein endloser Schwall von Flüchen und Verwünschungen. Er richtet seine Flügel, ordnet seine Federn. Einige muss er liegen lassen, aber es wird schon klappen mit der letzten Etappe der Heimreise.
Die Thermik ist ihm wohlgesonnen und er segelt und gleitet ohne viel Kraftaufwand nach Hause.
Da! Sein Auge verhärtet sich, wird zu einem scharf geschliffenen Bernstein. Der Wutschrei des Adlers füllt den Raum zwischen Himmel und Erde. Es ist ein Schrei, der Berge zum Einsturz bringt, Lawinen auslöst, Wasserfälle erstarren lässt.
Fassungslos lässt er sich auf seinem Horst nieder und weint. Adlertränen haben die gleiche Farbe wie die Augen: Wie winzige Bernsteine rieseln sie über die zerdrückten, ausgesaugten Eier. Wäre er kein Adler, würde er sich vor Trauer um seine Jungen in die Tiefe stürzen.
Fängt jetzt die Geschichte dieser ewigen Feindschaft wieder von vorn an?
Nein!
„Guten Tag, Klara“, sage ich. Sie ist unnatürlich aufgequollen, bewegt sich träge.
„Guten Tag“, erwidert sie meinen Gruß, schwer atmend.
„Was Neues?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Ich hab euch runterfallen sehen. Ist er tot?“
„Ja, meinst du, ich mach’ halbe Sachen?“
„Keine Ahnung. Ich auf jeden Fall nicht!“ Ich erschlage sie mit dem antiken Dreschflegel. Der hängt als Deko seit Jahren an der Wand.
Ich hole mir ein Bier. Von Dosenbier halte ich nicht viel, aber es gibt nur das.
Totschlagen. Ach, wir Menschen! Immer totschlagen.
Robbenbabys, Maulwürfe, Schlangen, andere Menschen. Und das meist mit raffinierteren Erfindungen als Dreschflegeln.
Das Bier taugt nichts. Billiges Zeugs. Und Schlangenfleisch?
Ich serviere. Mein Rottweiler mag es. Eigefüllte Schlange, lang, gelb und mollig wie eine Biskuitrolle – ein wahres Sonntagsfressen.