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Kirchenschatten
Freitag
Es ist nach fünf, und ich sitze immer noch im Büro. Ich verfasse Broschüren über chirurgisches Material und beantworte wissenschaftliche Anfragen von Ärzten. Neulich habe ich Tante Hella gegenüber das Wort Hotline verwendet. Seitdem ist sie alarmiert. Ich warte nur noch darauf, dass sie mich fragt, ob das was mit Telefonsex zu tun hätte. Dabei heißt es wissenschaftliche Hotline. Meine Kolleginnen Jessica und Sabrina schneiden hinter der Glasscheibe Grimassen. Alle wissen, dass ich immer noch Single bin.
Marco vom Außendienst meldet sich zum dritten Mal bei mir. Wieder geht es um die MT-36-2L Produktspezifikation.
„Du hast eben eine sexy Telefonstimme“, seufzt Sabrina.
„Also bitte“, sage ich und denke wieder an Tante Hella.
Marco gehört zu der Sorte Männer, die mir Angst machen. Beim letzten Meeting hat er sich viel zu dicht neben mich gesetzt. Mich obenrum gestreift, immer wieder wie zufällig angefasst. Mit so einer Selbstverständlichkeit, dass ich mich frage, wo nimmt er die eigentlich her? Ich könnte weinen, wenn ich daran denke.
„Jana, kommst du nachher mit ins Excelsior?“ Jessica steht mit ihrer überdimensionalen Glitzertasche in meiner Tür.
Ich winke ab. „Geht nicht. Hab' schon Tickets für die Konzertreihe in der St. Anna-Kirche.“
„Du willst Freitagabend in die Kirche? Ist das wieder deine Uraltmusik?“
„Es heißt alte Musik, nicht Uraltmusik“, stelle ich klar. „Genauer gesagt geht es um iberische Madrigale und die Melancholie eines John Dowland.“
Jessica verdreht die Augen.
Wochenende. Ich stürme aus dem Büro und verpasse um Haaresbreite die Straßenbahn. In letzter Minute betrete ich das feuchte Halbdunkel der St. Anna-Kirche und sehe ein Meer aus grauen Haaren. Könnte ebenso gut ein Seniorentreffen sein. Es riecht nach Weihrauch, Moder und Kerzenwachs. Während ich noch auf dem Weg zu meinem Platz in der dritten Reihe bin, wird die Beleuchtung heruntergedimmt. Atemlos lasse ich mich nieder. Vorne leuchten Scheinwerfer auf. Das Ensemble Vlaamse Consort betritt unter Applaus die Bühne. Von rechts weht ein herber Duft in meine Nase. Quitte und etwas Maskulines, das ich nicht näher definieren kann. Ich linse rüber.
Neben mir sitzt ein Mann.
Überraschung, er ist nur ein paar Jahre älter als ich, so genau kann ich das nicht erkennen. Er trägt Jeans und einen beigen Strickpullover. Seine Augen sind geschlossen, so wie ich das auch oft in Konzerten mache. Aber nicht heute, denn die historischen Brokatgewänder der Flamen sind eine Augenweide. Anscheinend sind Männer dagegen immun.
„Gefallen Ihnen die Kostüme nicht?“, wispere ich in den Zwischenapplaus hinein nach rechts und kann selbst nicht glauben, dass ich mich das traue.
Er verzieht den Mund.
Hinter mir hustet jemand. Die Arie geht schon gefühlte zwei Minuten, und ich habe noch keinen einzigen Takt davon ohne Geröchel gehört. Mein Nebenmann dreht sich nach hinten und hält der Störquelle ein Hustenbonbon hin. Ein Papierchen wird ausgewickelt. Noch zwei Trompetenstöße aus den Tiefen einer gequälten Lunge. Dann ist Ruhe. Endlich.
Alt und Sopran verschmelzen mit dem silbernen Klang der Laute. Dazu erklingt sonor und keck die Trommel. Ich nehme mir vor, in der Pause ein Programmheft zu erstehen.
Am Ende des ersten Teils rufe ich laut Bravo. Die Flamen sind grandios, und dieses Methusalempublikum hier ist so lahm. Ich muss das ausgleichen. Zur Pause erhebt sich ein Großteil der Zuhörer und drängt forsch nach draußen. Ich überlege, ob ich an meinem Platz bleibe.
Mein Nebenmann macht auch keine Anstalten, aufzustehen. Er hat die Augen immer noch geschlossen. Vielleicht ist er müde.
„Hat es Ihnen gefallen?“, sagt er unvermittelt. Seine Stimme klingt tief und samtig. Die Plätze um uns herum sind verwaist.
„Was hätte ich Ihrer Meinung nach noch rufen sollen?“, erwidere ich, vielleicht ein wenig zu spitz.
„Die Altstimme ist so kraftvoll und unglaublich beweglich. Finden Sie nicht auch?“
„Er oder sie?“, frage ich, denn es gibt zwei Altisten in diesem Ensemble. Ein Mann und eine Frau.
Er zögert. „Der Alt aus der letzten Arie“, sagt er schließlich.
Das ist die rotblonde Sängerin, die in ihrer schwarzen Brokatkombination mit grünen Stickereien (Tunika und Schal) wie eine Göttin aussieht. An mir würde so etwas nach nichts aussehen. Wenn ich mich morgens ausstrecke, bin ich mit etwas gutem Willen 1,62 m klein. Okay, 1,55 m.
„Darf ich mal hineinschauen?“, frage ich und zeige auf sein Programmheft.
„Klar. Nur zu.“
Ich beuge mich über die Übersetzungen der Liedtexte und unterdrücke ein Lachen, als ich zur letzten Arie gelange. Sie ist deftig, fast vulgär. Nicht zu fassen.
„Was ist? Warum lachen Sie?“, erkundigt er sich.
Der Gong lässt uns beide zusammenfahren. Wir nehmen die Knie zur Seite, um die Konzertbesucher reinzulassen. Ich nervös, weil die in allerletzter Minute ankommen müssen. Mein Nachbar mit dem Anflug eines Lächelns.
Ich zeige stumm mit dem Zeigefinger auf den Text im Programmheft. Er schaut nicht hin.
Samstag
Heute komme ich schon zwanzig Minuten vor Konzertbeginn und erwerbe am Eingang ein Programmheft. Er ist wieder da.
Diesmal trägt er einen weißen Pulli. Eine kleine Begrüßung erscheint mir angemessen. „Hallo, Herr Nachbar“, sage ich.
Seine Miene hellt sich auf. „Ah. Hallo. So früh heute.“ Noch bevor ich richtig sitze, hält er mir sein Programmheft unter die Nase. „Möchten Sie mal reinschauen?“
Ich schüttele den Kopf. Irgendetwas kratzt in den Tiefen meines Halses. Ich beginne, mit dezentem Hüsteln in meinem eigenen Heftchen zu blättern, und entdecke das eingeschobene Blatt. Orgel statt Barockensemble. Ach Mensch. Ich mag keine Programmänderungen. Mein Hals brennt so dermaßen, das bringt mich um. Ich huste das jetzt ab.
Mein Nachbar hält mir etwas entgegen. „Hier. Eukalyptus für Ihren Hals.“
„Danke.“ Ich wickele das Bonbon aus dem Papierchen und stecke es brav in den Mund.
„Ist ziemlich scharf“, höre ich ihn noch sagen.
Dann geht es los mit dem Inferno in meinem Rachen. Ich überlege, ob es helfen könnte, jetzt die Atmung einzustellen. Andererseits. Sauerstoff ist auch etwas Schönes. Als die Orgel mit allen Registern einsetzt, fährt mein Nebenmann zusammen. Ich habe nichts gegen Orgelmusik, nur dass ich heute auf Flöte und Harfe eingestellt war. Ein Hauch von herber Quitte weht zu mir. Ich weiß immer noch nicht, ob ich ihm für dieses mörderische Bonbon, das er mir gegeben hat, dankbar sein soll.
Die heilige Jungfrau lächelt in golddurchwirktes Blau gehüllt vom Glasfenster herab. Die Musik ist zäh wie ein missratenes Baiser. Meinem Hals geht es besser, und während des Applauses am Ende des ersten Teils neige ich mich nach rechts. „Danke übrigens für das Eukalyptusbonbon.“
„Aber gerne doch, Frau Nachbarin. Und wie gefällt es Ihnen heute?“
„Na ja. Auf die Programmänderung hätte ich verzichten können.“
„Geht mir genauso ... Spielen Sie selbst ein Instrument?“
„CD-Player“, erwidere ich. „Aber ich nehme an, das zählt nicht. Und Sie?“
Er schmunzelt. „CD-Player spiele ich auch. Und außerdem Klavier. Aber nur für den Hausgebrauch.“
„Hausgebrauch. Aha. Und was braucht Ihr Haus? Klassik?“
„Hm, nein, mein Haus braucht Jazz.“
„Und das spielen Sie alles ohne Noten und so?“
„Genau. Aber wie gesagt, nichts Besonderes.“
Ich bin nicht sicher, ob ich ihm das „nichts Besonderes“ abnehme. Was daran liegen könnte, dass ich eine geheime Bewunderung für Jazzer hege. Und dafür, wie er das Wort Jazz ausspricht, so sanft und leicht gedehnt.
„Und was machen Sie sonst so? Ich meine, wenn Sie nicht Klavier spielen“, will ich wissen.
„Fremden Frauen in der Kirche Hustenbonbons zustecken?“, bietet er an.
Ich betrachte ihn zum ersten Mal genauer, schätze ihn auf Anfang, Mitte dreißig. Ein mokantes Lächeln umspielt seine Lippen. Er hat einen Dreitagebart und Lachfältchen um die Augen, und das steht ihm verdammt gut. Im Verlauf unseres heutigen Gespräches hat er die Augen geöffnet, aber er schaut immer an mir vorbei, und ich fange an, mir Sorgen zu machen. Ich sehe drei Möglichkeiten:
Erstens: Er findet mein Äußeres so unerträglich, dass er mich nicht ansieht, um sich nicht übergeben zu müssen.
Zweitens: Er hält mich für kreuzlangweilig und schlägt die Zeit damit tot, die bunten Glasfenster der St. Anna-Kirche zu betrachten.
Drittens: Er hat einen gewaltigen Knick in der Optik.
Ein paar Konzertgäste nutzen die Gelegenheit, um in der Pause das Weite zu suchen.
„Wie heißen Sie eigentlich?“, fragt er.
„Alle nennen mich Jana“, antworte ich. „Und Sie?“
„Jana … schöner Name. Ich heiße Lukas.“
In der Reihe vor uns setzt sich jemand schwungvoll auf seinen Platz. Unsere Programmhefte segeln von der Ablage und schlittern weit nach rechts ins Niemandsland. Lukas beugt sich nach unten und tastet mit der Hand über meine Schuhe.
Ganz sanft.
Ich nehme meine Füße zur Seite, und die Orgel setzt ein. Lukas richtet sich wieder auf. Im zweiten Teil wird es lyrisch. Gehauchte Orgeltupfer schweben wie silberne Schmetterlinge durch die St. Anna-Kirche. Etwas Harziges, Würziges steht in der Luft. Ich bin Lukas dankbar, weil sein Bonbon meine gereizte Kehle in Schach hält, und schließe die Augen. Es gibt keinerlei Zwischenapplaus.
Vielleicht hat Lukas Recht, und es lohnt sich nicht mehr, unsere Programmhefte vom Boden aufzuheben. Aber als der Schlussapplaus beginnt, wendet sich Lukas mir zu und sagt: „Jana, wären Sie so freundlich und würden mir helfen, mein Programmheft wiederzufinden? Es ist … Ich kann schlecht sehen.“
„Es liegt einen halben Meter weiter nach rechts. Von Ihnen aus gut zu erreichen“, antworte ich mechanisch. Ich sehe ihm zu, wie er sich nach unten beugt und wie ein Blinder den Boden entlangtastet. „Weiter rechts“, sage ich. „Bringen Sie mein Heft auch gleich mit. Es liegt direkt daneben.“
Er kommt zurück und hält es mir hin. Wir sagen beide gleichzeitig: „Danke.“
Mir liegen mehrere Fragen auf der Zunge. Keine von ihnen ist politisch korrekt. Zum Beispiel: Wenn Sie schlecht sehen können, warum tragen Sie dann keine Brille? Ich gebe mir gleich selbst die Antwort: Es gibt Sehprobleme, die sich nicht mit Gläsern lösen lassen. Nächste Frage: Was wollen Sie mit einem Programmheft, wenn Sie es nicht lesen können? Auf diese Frage habe ich keine Antwort.
„Haben Sie Lust, noch irgendwo ein Glas mit mir zu trinken? Gestern haben Sie von den Kostümen gesprochen …“, unterbricht Lukas meine Gedanken. Er sagt es leise.
Dieses Stechen hinter meinem Bauchnabel, wann hat das angefangen?
Dass ich nicht genau weiß, was mit seinen Augen los ist ... Ich meine, kann er überhaupt irgendetwas sehen?
„Wie fanden Sie es heute? Der zweite Teil war deutlich besser als der erste, oder?“, presse ich hervor.
Der Applaus geht zu Ende, und die Kirche leert sich. Lukas sagt nichts mehr.
„Ja dann. Schönen Abend“, murmele ich und gehe. Am Ausgang drehe ich mich noch einmal um. Lukas sitzt regungslos in der Kirchenbank.
Sonntag
Zum letzten Konzert komme ich abermals rechtzeitig. Heute steht ein Mittelalterensemble namens Música Antigua auf dem Programm. Am Getränkestand neben dem Eingang stürze ich einen eiskalten Sekt hinunter. Acht Minuten vor Beginn nehme ich meinen Platz ein. Ich blättere im Programmheft vor, zurück und wieder vor. Überfliege flüchtig die brillanten Fotos und die launigen Texte.
Lukas ist nicht da.
Könnte es sein, er hat kein Ticket für dieses Konzert?
Ich bin enttäuscht und erleichtert zugleich. Enttäuscht deshalb, weil ich im Falle einer Hustenattacke hilflos sein werde. Ich habe vorhin nicht daran gedacht, ein Bonbon einzustecken.
Erleichtert, weil … keine Ahnung.
Plötzlich sehe ich ihn. Er steht praktisch neben mir, am Eingang zu unserer Bankreihe. Ein Mann flüstert ihm etwas ins Ohr. Lukas schiebt sich an mir vorbei - ohne mir auf die Füße zu treten - und findet seinen Platz. „Jana. Schön, dass Sie da sind.“
„Hallo, Lukas“, bringe ich heraus. Gefolgt von einem herzhaften Schluckauf. Ich möchte vor Scham in der Kirchenbank versinken.
Sein Mundwinkel zuckt, dann wendet er sich von mir ab, so dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen kann. Ein weiterer Hickser durchfährt mich. Es war eine Scheißidee, den eiskalten Sekt auf ex zu trinken. Ich versuche ab jetzt, den Mund geschlossen zu halten, damit es nicht so laut nachhallt.
Es wird dunkel, und das Spektakel beginnt. Sopran und Bariton wetteifern mit Schellentrommel und Drehleier. Es gibt viel Spontanapplaus. Ich versuche, meinen Schluckauf damit zu synchronisieren.
Lukas neigt sich zu mir, und unsere Ellenbogen berühren sich. „Halten Sie die Luft an.“
„Wie bitte?“
„Das hilft gegen den Schluckauf. Luft anhalten.“
Ich befolge seinen Rat und höre auf zu atmen. Lukas sieht gut gelaunt aus. Vermutlich amüsiert er sich insgeheim königlich über den Tsunami in meinem Zwerchfell. Ab und zu berührt sein Strickpulli meinen Arm. Sein Stoff fühlt sich weich an.
Die Spanier tragen Kostüme in rotbraunen Farbschattierungen mit schillernden Kupfereinsprengseln. „Was genau sehen Sie?“, frage ich in die nächste Applaussalve hinein. „Können Sie es beschreiben?“
Die Musik geht weiter, ohne dass er meine Frage beantwortet hat. In der Pause bleiben wir wie immer auf unseren Plätzen.
„Extrem unscharf in der Mitte. Und dieses Halbdunkel hier ist fatal“, sagt er. „Darf ich fragen, wie alt Sie sind, Jana?“
„Raten Sie einfach mal.“
Er zögert.
Ich denke an Tante Hella und bin gespannt, wie alt er meine Stimme schätzt.
„Hm, Sie klingen wie … Ende zwanzig?“
Damit liegt er richtig.
„Ist das ein Nicken? Also, Sie müssen schon mit mir reden.“
„Ja“, sage ich. „Achtundzwanzig.“
Es wird wieder dunkel. Eine Art Till Eulenspiegel betritt das Szenario und schlägt die Felltrommel.
Ich sehe abwechselnd nach vorne und zu Lukas. Seine Lippen bewegen sich stumm. Die spanischen Spielleute tanzen vor dem Altar. Fidel und Drehleier erklingen und dazu dieser Sopran, der bis zum Deckengewölbe der St. Anna-Kirche emporsteigt. Der Schlussapplaus ist ohrenbetäubend. Wir springen von den Sitzen. Ich höre auf, die Zugaben zu zählen.
Schließlich wird es etwas heller. Lukas dreht sich zu mir. „Nebenan ist ein Café. Wie sieht es aus, Jana? Kommen Sie mit? Ich schreibe an einem Zeitungsartikel über diese Konzertreihe und …“
Geht das schon wieder los. Ich bin zu fünfzig Prozent unentschlossen. Oder soll ich nur ganz kurz mitgehen? Meine Ohren sirren. Wir stehen gleichzeitig auf und verlassen die Bankreihe. Hicks, mein Schluckauf kehrt zurück. Lukas betastet meine Brust. Dann macht er einen Schritt nach hinten, prallt mit dem Rücken gegen die Kirchenbank. In meinem Unterleib zieht sich irgendetwas zusammen. Panik steigt wie eine weiße Wand vor mir auf. Ich dränge mich durch die Menschenmenge und ergreife grußlos die Flucht.
Dienstag
Ich stehe morgens am Kiosk und blättere durch die Zeitungen, um seinen Bericht über die Konzertreihe zu suchen. Nichts. Vielleicht hat Lukas gelogen. Oder es war schon in der Montagsausgabe.
In der Mittagspause recherchiere ich im Internet über Sehstörungen, die zu dem passen, was er mir beschrieben hat: Extrem unscharf in der Mitte. Und dieses Halbdunkel hier ist fatal. Ich finde heraus, dass Lukas sich bei guter Beleuchtung im Raum orientieren und mit einer Lupe lesen kann.
Am Abend bin ich frustriert, dass die Konzertserie in der St. Anna-Kirche vorbei ist. Reichlich spät reift in mir die Vermutung, dass Lukas nur ein paar optische Eindrücke von mir abfragen wollte. Bühnenbild, Kostüme und so. Ich habe einen seltsamen Geschmack im Mund und gehe früh zu Bett.
Mittwoch
Um nicht aufzufallen, gehe ich heute morgen zu einem anderen Kiosk. Ich finde eine Konzertkritik. Darunter steht als Autorenkürzel „lmz“. Ich kaufe die Zeitung. Laut Website der Redaktion steht „lmz“ für Lukas Menz. Als ich seinen Artikel lese, geht die Sonne in meinem Bauch auf. Beim Vlaamse Consort vom Freitag hebt Lukas zu Recht ihren Sinn für Rhythmus hervor und die beiden Altisten. Bei den temperamentvollen Spaniern vom Sonntag beschreibt er liebevoll und im Detail den Klang jedes ihrer Instrumente. Die erste Hälfte vom Samstagskonzert lässt er unerwähnt. Ich schneide den Artikel aus und vernichte den Rest der Zeitung.
Donnerstag
Heute ist Feiertag, und ich habe frei. Auf der Website der Zeitung finde ich seine E-Mail-Adresse. Ich lese seinen Artikel noch einmal durch. Dann schreibe ich ihm:
Betreff: Konzertreihe in der St. Anna-Kirche.
Hallo Lukas!
Ihre (deine?) Rezension war schön zu lesen.
Gruß, Jana.
Montag
Morgens um halb zehn erhalte ich eine E-Mail von „lmz“:
Betreff: Re: Konzertreihe in der St. Anna-Kirche.
Hallo Jana,
freut mich, dass dir mein Artikel gefallen hat.
Gruß, Lukas.
Eine Stunde später kommt die nächste E-Mail von ihm:
Betreff: Entschuldigung.
Jana, es war dunkel, und ich habe deine Körpergröße falsch eingeschätzt.
LG, Lukas.
Ich lehne mich zurück und lächle.
Montag
10:32 h
An: lmz
Betreff: Re: Entschuldigung.
angenommen!
Gruß, Janaleinklein
P.S. Wann erscheint deine nächste Konzertkritik?
An: jana89
Betreff: Konzertkritik
Hallo Jana,
so klein bist du nicht. Ich nenne dich weiter Jana.
Konzertkritik ist keine geplant.
In die Oper schicken sie mich nicht mehr. Seltsam.
Gruß, Lukas
11:21 h
An: lmz
Betreff: Re: Konzertkritik
Hallo Lukas,
das ist schade. Mich nervt nämlich, dass sie in den Opernkritiken über Bühnenbild und Kostüme schwafeln. Und im letzten Absatz: Ach ja, gesungen wurde auch. Viel zu wenige musikalische Details bringen sie, wenn du mich fragst!
Ich weiß immer noch nicht, was du machst, wenn du keine Hustenbonbons verteilst oder Konzertkritiken schreibst.
Gruß, Jana
An: jana89
Betreff: Was ich so mache …
Hallo Jana,
am Samstagmittag habe ich in der Stadt zu tun.
Danach setze ich mich ins Café an der St. Anna-Kirche. So gegen zwei.
Manchmal geschehen Zufälle, man trifft Leute wieder …
Gute Nacht, Lukas
Samstag
„Jana, ernsthaft. Nimm die hier.“ Sabrina hält mir die weiße Bluse hin. „Das ist ein Date und keine Beerdigung.“
„Du weißt, warum ich nur dunkle Oberteile trage.“
„Dann lass sie dir doch verkleinern.“
Ich schüttele den Kopf und schließe den Kleiderschrank. „Außerdem ist es kein Date.“
An der Wohnungstür pralle ich fast mit Frau Simoni zusammen.
„Gott sei Dank sind Sie da“, flüstert sie. "Meine Tochter geht nicht ans Telefon. Sir Henry ..."
„Was ist mit Sir Henry?“
„Der Doktor hat ihn heute …“ Sie hält sich am Türrahmen fest, aus ihrem Gesicht ist die Farbe gewichen. Wir gehen in ihre Wohnung.
Frau Simoni erzählt mir die Geschichte, wie ihr Zwergpudel eingeschläfert wurde, insgesamt dreimal. Ich mache ihr ein Butterbrot und sehe zu, wie sie in sich zusammengesunken auf ihrem geblümten Sofa sitzt und es verspeist. Mein Blick fällt auf das Holzkreuz an der Wand.
"Sir Henry ist jetzt von seinen Schmerzen erlöst", sage ich.
Frau Simonis Augen werden größer. "Denken Sie, er ist jetzt bei unserem Herrn Jesus?"
"Warum nicht?", sage ich, und noch während ich es ausspreche, wird es mir zur Gewissheit. "Ja, ich denke, Sir Henry ist jetzt bei unserem Herrn Jesus."
So unauffällig wie möglich sehe ich zur Uhr.
„Gehen Sie ruhig, Fräulein“, sagt sie. "Ich lege mich jetzt hin."
Ich versuche ein letztes Mal, die Tochter zu erreichen. Sie geht nicht ran.
Die Sonne bricht durch die Wolken. Draußen vorm Café sind alle Tische belegt. Der Springbrunnen plätschert und die Kirchturmuhr schlägt halb vier. Es sticht hinter meiner Stirn, während ich umhergehe und alles absuche. Lukas ist nicht da.
Ich betrete das Café. Zwei rothaarige Mädchen am Tisch in der Mitte baumeln unentwegt mit den Beinen. Ganz hinten in der Ecke neben der Vitrine sehe ich ihn sitzen. Er erinnert mich kaum noch an den Mann, der in der St. Anna-Kirche meinen Husten und meinen Schluckauf betreut hat. Sein Dreitagebart ist verschwunden. Er hat etwas Verletzliches an sich, wie er schräg vornübergebeugt über dem Tablet-PC hängt, mit seiner Brille, deren gelben Gläser die Augen auch von den Seiten umschließen.
Langsam schlängele ich mich zwischen den Tischen hindurch. Ein paar Schritte entfernt von ihm bleibe ich stehen. Er bemerkt mich nicht. Ich kann mich immer noch umdrehen und gehen.
Am Tisch in der Mitte schreit ein Mädchen und fegt eine Glaskaraffe klirrend zu Boden. Der Kellner und die Mutter brüllen sich an. Lukas hebt den Kopf.
„Hallo, Herr Nachbar.“
„Jana. Das ist aber schön!“ Er springt vom Stuhl auf. "Ich dachte schon, du kämst nicht mehr.“
„Bin rein zufällig hier“, murmele ich.
„Geben wir uns die Hand?“
„Klar“, sage ich und nehme seine Rechte. Wir setzen uns und bestellen Kaffee.
„Also, Frau Simoni, meine Nachbarin ... Ihr Hund ist heute gestorben.“
Lukas verstaut seinen Tablet-PC im Rucksack, fixiert mich aus dem Augenwinkel und sagt nichts.
"Deshalb bin ich so spät. Ich konnte sie nicht allein lassen. Nicht dass du denkst, ich wollte bei dir die Coole spielen.“
„Hm", macht er. „Wenn du wüsstest, wie ich mich geschämt habe, am letzten Sonntag.“
„Und ich hab dich stehengelassen. Das war nicht nett.“
Über sein Gesicht huscht ein Lächeln. „Du hättest mir auch eine knallen können.“
Der Kellner bringt unseren Kaffee. Lukas entleert den Inhalt eines Zuckersticks in seine Tasse, während er wie beiläufig an ihr vorbeisieht. „Du hast noch gar nichts zu meiner Brille gesagt.“
„Kannst du damit besser sehen?“
„Sagen wir, sie verstärkt die Kontraste und es blendet weniger.“
„Klingt doch gut.“
„Meine kleine Schwester meint, ich sähe damit aus wie ein Alien.“
„Da hat sie Recht“, erwidere ich.
Die Familie verlässt das Café. Das Sirren der Kühlvitrine wird intensiver. Wir sind mit unserem Kaffee fertig und rufen die Bedienung.
„Zusammen oder getrennt?“, will sie wissen.
„Getrennt“, antworte ich.
Lukas verzieht keine Miene.
„Wir könnten spazieren gehen, unten am Fluss.“
„Das mit dem Alien, hast du das ernstgemeint?“
„Ja sicher“, sage ich. „So eitel bist du doch nicht.“
Er stutzt, fährt sich mit der Hand übers Kinn.
Der Ventilator über uns wird langsamer und beginnt zu schnarren.
„Dann los. Lass uns zum Fluss gehen“, sagt er ruhig und schultert seinen Rucksack. Und jetzt - endlich - erinnert er mich wieder an den Lukas aus der St. Anna-Kirche.
„Wie machen wir das?“, frage ich.
„Geh du vor, und ich geh dir hinterher.“
Ich manövriere mich durch das Tischlabyrinth zum Ausgang und warte, bis Lukas wieder bei mir ist.
Um zum Fluss zu kommen, müssen wir den langgezogenen Platz vor der St. Anna-Kirche überqueren. Es gibt ein Kinderkarussell und einen Eisstand. Skater lungern auf der Halfpipe rum.
„Wir kommen schneller vorwärts, wenn ich deinen Arm nehme“, sagt Lukas.
Ich fasse seine Hand und platziere sie oberhalb meines Ellenbogens. Wir laufen dicht nebeneinander. Er riecht wieder nach herber Quitte.
Unten am Fluss, auf der breiten Uferpromenade scheint die Sonne durch die Kronen der Platanen. Blaue Holzboote schaukeln auf den Wellen. Fliegen umschwirren einen bärtigen Angler, der am Steg sitzt. Meine Haare wehen mir ständig ins Gesicht, es war keine gute Idee, den Zopf aufzumachen. Es sind wenige Spaziergänger unterwegs. Lukas lässt meinen Arm los und augenblicklich spüre ich den Wind an der Stelle, an der mich seine Hand wärmte. Ab hier geht unser Weg geradeaus.
„Schöne blonde Haare hast du", sagt er.
Den meisten Menschen fällt als erstes etwas anderes an mir auf.
„Deine kleine Schwester, wie alt ist die?“, frage ich.
„Dreiundzwanzig. Manchmal gehe ich mit Sonja am Ufer laufen. Frühmorgens, wenn es nicht so voll ist. Sie fährt Fahrrad und hält das Seil.“
„Wenn du möchtest, kann ich das auch mal übernehmen“, stottere ich.
„Fährst du gerne Fahrrad?“
„Ja, aber nur mit Stützrädern.“
Er gibt mir einen Klaps auf den Arm, und ich bin überrascht über seine Treffsicherheit.
„Beim Lauftraining auf mich aufzupassen, ist Arbeit, glaub mir. Lass uns lieber Tandem fahren. Dann hast du auch etwas davon.“
„Auf jeden Fall“, erwidere ich. „Ich übernehme das Lenken, und du trittst in die Pedale.“
Diesmal weiche ich seiner Hand rechtzeitig aus.
Bleigraue Wolken ziehen auf. Ich bin dabei, mir in den Stoffschuhen die Ferse wund zu scheuern.
„Wollen wir uns auf eine Bank setzen?“, fragt Lukas, so als könnte er meine Gedanken lesen.
„Oh ja“, seufze ich.
Wir schauen zum Fluss. Er hat die Ärmel seines Strickpullis hochgeschoben, und ich betrachte die goldenen Härchen auf seinen Armen.
"Das war gemein, dass du meine E-Mail nicht beantwortet hast. Weißt du das eigentlich?"
"Ich könnte sagen, dass ich mit meinem Notebook nicht ins Internet komme."
"Aber?"
"Aber, ehrlich gesagt, habe ich das Problem erst seit heute Mittag."
Lukas schüttelt lächelnd den Kopf.
Es fängt an zu nieseln. Wir stehen auf und gehen die Uferpromenade zurück.
"Kommst du klar mit deinem Notebook oder soll ich es mir ansehen?", fragt er.
In meinem Bauch kribbelt es wie Brausepulver. Ich versuche es mir vorzustellen: Lukas in meiner Wohnung. Der Regen wird intensiver. Wir erreichen die Steintreppe und er nimmt wieder meinen Arm.
"Ich würd mich freuen, wenn du nach meinem Notebook schaust. Bis zu mir sind es nur ein paar Stationen mit der Straßenbahn."
Durch den Regenvorhang, der sich vom Haltestellendach ergießt, sind wir vom Rest der Welt abgeschnitten. Tausende Tröpfchen glitzern auf Lukas´ Haaren und seiner blauen Jacke. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und lehne meinen Kopf an seinen Arm. Beinahe wäre ich mit ihm in die falsche Tram eingestiegen.
In meiner Wohnung führe ich Lukas zum Schreibtisch und fahre mein Notebook hoch. Er erklärt mir, wie ich Schriftgröße und Farbschema für ihn anpasse. Dann hängt er sich vor den Monitor und kopiert Dateien. Im Gegensatz zu mir arbeitet er hauptsächlich mit Tastaturbefehlen. Und das verdammt schnell.
"Sag mal, bist du Journalist oder Computerspezialist?"
"Ich sattle um auf Klavierlehrer", brummt er.
"Aber Konzertkritiken schreibst du weiter?"
"Ich hör auf."
"Schade. Warum denn?"
"Weil ich nicht darauf warten werde, bis sie die Geduld mit mir verlieren."
Er lehnt sich zurück. "Dein Internetzugang geht wieder."
Ich räume meine Kleidung vom Fußboden, und wir gehen rüber zum roten Sofa. Ich versuche, gleichmäßig weiterzuatmen, während ich Lukas betrachte, sein strubbeliges Haar, die hohen Wangenknochen. Seine Rechte tastet nach mir, ich umfasse sie sanft mit beiden Händen. Schweigend erwidert er die Geste.
"Verrätst du mir jetzt, warum du nicht auf meine E-Mail geantwortet hast?"
"Nein", erwidere ich kokett.
"Schade. Dann muss ich wohl raten. Mal sehn, du ..."
"Ich hatte Angst", unterbreche ich ihn.
"Angst? Vor mir?"
"Ich wollte nichts versprechen."
"Verstehe." Lukas lässt meine Hände los. "Angst davor, dich einzulassen auf jemanden wie mich."
"Warst du schon mal mit einer Frau zusammen?"
Er wendet sein Gesicht ab und sagt nichts mehr.
"Möchtest du etwas trinken?"
"Ja, ich hatte eine längere Beziehung. Liegt schon eine Weile zurück."
Lukas streckt mir seine geöffnete Hand wieder entgegen und zögernd lege ich meine hinein.
"Du musst mir nichts versprechen, und du musst auch keine Angst haben", sagt er sanft.
Ich rücke näher und lehne meinen Kopf an seine Schulter.
„Was muss ich tun, für einen Kuss von dir?“
„Deine Brille abnehmen.“
Er legt sie auf den Tisch. „Mehr nicht?“
„Mehr nicht.“
Zögernd streckt er mir seine Hände entgegen, damit ich sie an meine Wangen führe. Er beugt sich zu mir. Ich schließe die Augen und spüre seine Lippen auf meinen. Seine Zunge taumelt, erforscht ganz sacht. In mir explodiert eine Blütenwolke. Es durchrieselt mich.
Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich, dass seine smaragdgrün sind. Ich könnte darin ertrinken. Andächtig streichelt er mein Gesicht und fährt mit den Fingern an meinen langen Haaren entlang, immer weiter nach unten. Spätestens jetzt dürfte er meine Oberweite, für die ich mich so schäme, bemerkt haben.
Er hält inne. "Wenn dir das zu viel wird, dann sag es, ja?"
Was soll ich sagen, ich bin wie eine Verdurstende in der Wüste.
"Bitte, mach weiter", bringe ich atemlos hervor und lasse mich nach hinten in die Kissen sinken.
Meine schmerzhaften Erinnerungen an ordinäre Kommentare - sie entfernen sich ins Unendliche, zählen auf einmal nicht mehr.
Nur einer zählt. Lukas.
Er berührt mein Dekolleté und tastet über die Kante meines BHs. Behutsam fährt er mit seinen Händen an meiner Brust entlang, verweilt an der empfindlichsten Stelle. Ich atme scharf ein.
Seine Fingerkuppen liebkosen meine runde Fülle. Mein Atem geht schneller. Ich werde feucht. Das Zentrum meines Unterleibs zieht sich zusammen, süß und unerträglich. Und dann bin ich draußen, auf den Wellen, im silberglitzernden Meer. Mein schwereloser Körper pulsiert - ich bin mit ihm versöhnt.
Bin stolz. Mit einem Mal ganz Frau.
Ich liege keuchend in Lukas´ Armen, und was mich am meisten überrascht: Es ist mir nicht peinlich, kein bisschen. Er legt den Kopf schief und betrachtet mich mit einem stillen Lächeln auf den Lippen.
Die Take-Five-Melodie reißt mich raus. Lukas fischt sein Smartphone aus dem Rucksack.
"Hm, kein Problem. Kann ich machen."
Er nennt meine Adresse und beendet das Gespräch. "Sonja holt mich in einer Viertelstunde ab."
Ich knöpfe meine Bluse zu.
"Ich komm mit runter."
"Quatsch. Das geht schon."
"Ich muss. Um diese Zeit ist die Haustür abgeschlossen", lüge ich und nehme den Schlüsselbund vom Brett. Die schwache Lampe im Treppenhaus flackert. Lukas schiebt meine Hand beiseite und tastet nach dem Geländer. Ich schlüpfe an ihm vorbei, um einen Stapel Werbeprospekte und den Buggy von Heinemanns aus dem Weg zu räumen. Unten angekommen drehe ich den Schlüssel sinnlos im Schloss.
"Ist doch offen", bemerkt Lukas.
Sonja kommt um die Ecke. Sie hat rotes Haar, ist fast so groß wie er und wippt mit dem Fuß.
"Was machst du morgen Nachmittag?", frage ich ihn.
"Ab drei hab ich Zeit. Bachstraße 21."
"Kann ich vorbeikommen?"
"Klar."
Sonja schiebt ihn zur Beifahrertür.
"Hallo", sage ich mit belegter Stimme, während ich den grau gepflasterten Bürgersteig betrachte. Sie ignoriert mich und fährt mit Lukas davon.
Sonntag
Nach der heiligen Messe trinke ich einen Eckes Edelkirsch bei Frau Simoni. Dann gehe ich noch einmal los und kaufe in der Notdienstapotheke eine Packung Kondome.
Die Bachstraße 21 ist ein efeubewachsener Altbau mit Messingzaun und verwildertem Vorgarten.
"Es ist die Souterrainwohnung. Der Eingang ist auf der Rückseite", sagt Lukas durch die Sprechanlage.
Als ich ankomme, steht er schon in der Tür. Er beugt sich zu mir runter, und wir umarmen uns lange. Mit schnellen Schritten führt er mich durch den Flur. In seinem Wohnzimmer fällt mir als erstes das Klavier auf, dann das hohe Regal mit den Hörbüchern.
"Spielst du mir etwas vor?"
"Ich hab was komponiert", sagt er ernst. "Nur für dich."
Langsam kullern Samttöne heran, tänzeln, tun wie unbeholfen. Dazwischen glitzern Perlen. Lukas spielt mit konzentrierter Miene, seine Finger fliegen über die Tasten. Lässige Dissonanzen schleichen sich ein und rhythmische Verschiebungen. Irrlichter in Moll geistern umher, und gerade als mein Herz sich verkrampfen will, werden die Linien wieder klarer, gleite ich dahin in einem Sog aus tausend Sonnen. Zum Ziel. Stille. Ich applaudiere. Lukas deutet eine Verbeugung an und kommt zu mir, um mich in seine Arme zu schließen.
"Nur für den Hausgebrauch, soso."
Er verbeißt sich das Lachen wie ein kleiner Junge, der bei Mau-Mau beim Schummeln erwischt wird.
"Was hast du heute morgen gemacht?", will ich wissen.
"Ein paar Artikel für die Montagsausgabe geschrieben. Und du?"
"Ich war in der Messe."
"Wusste gar nicht, dass jetzt Messe ist. Welche denn?"
"Hättest du vielleicht einen Kaffee?"
"Na klar."
Lukas nimmt mich mit in seine Küche, hantiert an der Kaffeemaschine, holt Milch aus dem Kühlschrank. Sein Latte Macchiato ist stark, mit viel Milchschaum. Er stellt ein Schüsselchen Erdbeeren auf den Tisch, setzt sich und klopft mit der Hand auf seinen Schoß. Ich nehme Platz, lege meine Arme um seine Schultern.
"Mach die Augen zu."
Ich gehorche. Kurz darauf spüre ich die feuchte Frucht an meinem Kinn. Ich öffne den Mund, sie gleitet hinein. Ein kühler Tropfen fällt auf mein Dekolleté. Lukas' Finger verweilen an meinen Lippen, berühren meine Zunge und streichen in Zeitlupe an meinem Hals entlang. Ich spüre seine Erektion unter mir. Wir sind eins in einem Kosmos aus Lachen, Küssen und Erdbeeren, bis ich irgendwann von seinem Schoß gleite.
Auf dem Tisch liegen Broschüren verstreut, ganz obendrauf befindet sich eine elektronische Lupe. Ich beuge mich drüber: Klavierpädagogik, Jazz. Daneben liegt ein großer Briefumschlag, mit einer Adresse in den USA beschriftet.
"Was wird das?", frage ich.
Lukas beugt sich nach vorn. "Du, ich werd Klavierlehrer. Bei den Gigs im Jazzkeller haben die mich auf die Idee gebracht. Und ich hab endlich den Kurs gefunden, den ich gesucht habe."
"In den USA?"
"Genau. Aber jetzt erzähl du erstmal von deiner Messe." Lukas nimmt einen Schluck Kaffee. "Ich nehme kaum an, dass du heute morgen in der Kirche für mein Augenlicht gebetet hast."
Touché.
"Wann würdest du denn in die USA gehen, und für wie lange?"
"Das geht in sechs Wochen los und dauert ein Dreivierteljahr."
"Und wem möchtest du damit etwas beweisen? Werden hier etwa keine Klavierlehrer ausgebildet, hm?"
Er atmet hörbar aus.
"Du hast es die ganze Zeit gewusst."
"Hätte es etwas geändert?"
"Nein", flüstere ich.
Mir laufen Tränen übers Gesicht. Das war der erste Mann, der in mir nicht die kleine Blondine mit dem Riesenbusen sah. Der Kuss meines Lebens.
Ich muss hier weg.
"Jana, warte", höre ich ihn rufen.
Ich stürze aus der Wohnung und nehme die Straßenbahn nach Hause. An meiner Haltstelle steige ich nicht aus, sondern fahre weiter zur St.-Anna-Kirche.
Seit meine Mama von uns gegangen ist, gehe ich seltener hierher. Ich bin keine gute Katholikin, neige zum Denken. Gleichwohl ist es ein guter Ort. Ich sinke auf die Knie und schließe die Augen. Wie froh ich bin, hier zu sein. Weihrauch umfängt mich, hüllt mich ein wie ein weicher Mantel. Ich bete den dreiundzwanzigsten Psalm.
Meine Gedanken wandern zu Lukas. Warum will er weg von der Zeitung? Was rede ich es mir schön? Er sieht furchtbar aus, wenn er vorm Monitor klebt. Ich habe die Augentropfen und die Tabletten in seinem Bad gesehen.
Bitte mach, dass er nicht nach Amerika geht, dass er mich auch liebt, dass ich ihm wichtiger bin als die Musik. Bitte ... Ich weiß nicht, um was ich noch bitten soll. Meine Knie tun weh.
Das ältere Paar zündet ein Opferlicht an und verlässt die Kirche.
Seit wann geht das mit Lukas und mir? War nicht ich diejenige, die ihn tagelang mit seiner E-Mail in der Luft hängen ließ?
Ich bete noch ein Ave Maria, dann erhebe ich mich. Die Küsterin kommt und hebt die Hand zum Gruß. Ich glaube, sie hat im Schatten auf mich gewartet.
Als ich die St. Anna-Kirche verlasse, hält ein Taxi am Bürgersteigrand. Der Fahrer steigt aus, öffnet die Beifahrertür. Ich eile zur Straßenbahn, drehe mich noch einmal um. Er packt einen hochgewachsenen Mann am Arm und zerrt ihn zur Kirchentreppe.
"Na sowas. Hallo Lukas", stoße ich atemlos hervor, als ich vor ihm stehe.
Er nickt knapp, als sei er wenig überrascht.
Der Taxifahrer schlägt ihm auf die Schulter und verschwindet.
"Nur damit das klar ist: Ich bin keine hysterische Betschwester."
"Schön. Dann lass uns reden. Und lauf mir nicht wieder davon. Ich hasse das."
"Mir ist kalt", sage ich und ziehe die Nase hoch. "Ich will heim."
Lukas holt ein Taschentuch aus seinem Rucksack und hält es mir hin. "Hier."
Ich schnäuze.
"Kann ich mitkommen?"
"Was ist mit deinen Medikamenten?"
"Hab ich dabei."
"Dann komm", sage ich und berühre seine Hand.