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Kinderspiel
Unter der Akazie genoss er Schatten, den süßlichen Duft der roten Blüten und vor allem Ruhe.
Verschwitzt, das Hemd unter den Achseln durchnässt, breitete Ben die Arme auf der Rückenlehne der Bank aus, auch um es zu trocknen. Kleine Vögel gruppierten sich vor seinen Füßen, pickten hier und da Krumen auf, einige von ihnen rührten sich kaum und spreizten nur die Flügel leicht vom Körper ab. Wie kleine Angeber, dachte Ben.
„Hey, wir tragen die gleichen Hemden“, sagte er, sah dabei an seinem sandfarbenen hinunter, das locker über den Bund der Hose fiel. Sein Blick wanderte weiter zu den Füßen, die in Sandalen steckten, fiel auf die Zehen und er wackelte mit ihnen wie zum Gruß, beschloss für später eine Nagelpflege.
Zuvor hatte Ben vertrocknetes Laub von der Grabstelle genommen. Im Stein aus Marmor war der Name seiner Frau eingraviert. Als hätte sie ihn selbst unterschrieben. Ben wusste gar nicht mehr, wer auf diese absurde Idee gekommen war. Er würde sich nie daran gewöhnen, wenigstens ließ sich seinerzeit ein Foto von ihr auf dem Stein verhindern. Während er mit langsamen Bewegungen Blatt für Blatt vom weißen Kies einsammelte, sprach er mit Rahel.
„Frau Roth aus der ersten Etage, du erinnerst dich sicher, die senkt noch immer den Kopf, bevor sie mich im Treppenhaus mit ihrer traurigsten Miene grüßt. Stell dir das mal vor. Nach all den Jahren. Sie murmelt jedes Mal etwas, das sich wie , ein Jammer, so ein Jammer aber auch ‘“ anhört.
Er stieß Luft durch die Nase aus.
„Sonst war nichts weiter los. Ja, ja, ich weiß, da ich niemanden besuche, kommt eben auch niemand zu mir.“ Ben zog die Schultern zu den Ohren.
„Du brauchst gar nicht die Augenbraue in die Höhe zu ziehen – das war deine Aufgabe, Rahel. Menschen zusammenzubringen. Apropos, da fällt mir ein, Sumaya hat gekündigt. Sie meint, sie wäre zu alt für den mühsamen Grenzgang und überhaupt zu alt für so Manches. Ich hab sie nicht zu überreden versucht. Sie hat ja recht. Das bisschen Haushalt für mich alleine krieg ich schon hin. Aber ja, ich hab ihr einen Kranz überreicht für viele Jahre treuer Dienste und Stillschweigen wegen der Zigarettenfilter überall. Natürlich in bar, wofür hältst du mich?“
Ben richtete sich auf und stützte eine Hand auf die Hüfte.
„Nur der Ischias. Mach dir keine Sorgen. Ich sitze zu viel und bewege mich zu wenig. Weiß ich selbst. Izzy ist jetzt an der Grenze stationiert, aber das weißt du schon. Sie hat zum Glück nur selten Einsätze drüben. Und auch bloß der Schmuggler wegen.“
Er winkte ab und beim Absenken des Armes, wischte er mit der Hand über den kahlen Kopf.
„Dass ihr nächster Urlaub bevorsteht habe ich aber noch nicht erwähnt. Dafür hab ich das Kinderzimmer hergerichtet. Naja, es lagen eben Zeitungen und einige Bücher – ja, auch Zigarettenfilter – herum.“
Mit einer Hand machte er eine ausladende Bewegung, um den gesamten Raum anzudeuten, verdrehte die Augen zum farblosen Himmel.
„In manchen Nächten halte ich es im Schlafzimmer eben einfach nicht aus. – Lach nicht! Die Luft bleibt mir dann weg und die Hände beginnen zu zittern. Kannst du dir das nicht vorstellen?“
Er starrte auf den Namen in goldener Schrift und seine Augen funkelten kurz erregt auf, bevor er leise hinzufügte: „Wie auch. - In Izzys Zimmer beruhige ich mich jedenfalls schneller. Irgendwann, meist wenn die Sonne hinter dem Hügel schon aufgeht, schlaf ich ein.“
Die Sonne stand jetzt hoch und der Friedhof lag ungeschützt in der weißen Hitze.
Ob er schon erwähnt hätte, dass auf ihrem Nachttisch noch immer das Buch läge, in dem sie zuletzt las. Das über eine Kindheit in Frankreich. Sie hätte es nicht beendet.
„Ich bringe es einfach nicht fertig, das Buch ins Regal zu sortieren, Rahel. Ich hab es versucht und immer wieder zurück an dein Bett gelegt. Außerdem hat es einen so hübschen Einband. Die Frau mit dem Hut, die am Flussufer sitzt. Ich bilde mir oft ein, wenn ich spät abends auf meiner Bettseite sitze, im Licht der Leselampe, die du mir zum Geburtstag geschenkt hast, erinnerst du dich, sie blendet überhaupt nicht, dann stell ich mir vor, du kämst gleich aus dem Bad, würdest dich in deinem luftigen Nachthemd unter deine Decke strecken, das Buch nehmen, mir einen Kuss geben und lesen. Für einen Moment meine ich sogar, den Duft deiner Nachtcreme zu riechen.“
Er schluckte trocken und scharrte mit dem Schuh im Kies, dass es staubte. Er habe nun also all sein Zeug aus Izzys Zimmer geräumt, Staub gewischt und wünschte, sie würde ihm raten können, was er noch bedenken müsse.
„Blumen, richtig", sagte er erleichtert, als er den Kunstblumenstrauß mit den verblichenen Nelken auf dem Nachbargrab entdeckte. Er würde Wiesenblumen auf ihren Schreibtisch stellen. Es gäbe ja so wenig, was er noch tun könne. Rahel liebte die wilden Korn- und Mohnblumen, die im Garten wuchsen. Sie war dagegen Zierpflanzen zu setzen, die Pflege benötigten und ihr Zeit rauben würden. Als hätte sie eine Ahnung gehabt von der Zeit.
Und während Ben auf der Bank unter der Akazie saß und abkühlte, erinnerte er sich an Izzy als kleines Mädchen. Sie spielte am liebsten Verstecken. Cache-cache, rief Rahel, während die Kleine eilig durch den Garten lief und einen sicheren Platz suchte. Dann hockte sie meist unter dem Zitronenbaum und wiederholte die wenigen Zahlen, die sie kannte. Die runden Hände hielt sie dabei vor die Augen. Ein Lächeln huschte über Bens Gesicht, als würde er sie gerade dabei beobachten. Rahel schlenderte, einen großen Strohhut auf dem dunklen Haar, mit ausladenden Gesten und langen Beinen barfuß über das vertrocknete Gras, wie zu einer Melodie, die nur sie hörte. Sie zupfte hier und da ein Blättchen von den Pflanzen, betrachtete es, roch daran und sagte Sätze wie ‚Wo ist nur ma petit puce geblieben? Wo mag sich der kleine Floh nur versteckt haben? Ich werde nicht aufhören zu suchen, bevor ich meine Kleine gefunden habe. Dann kann sie was erleben. Und das wird etwas ganz besonders Schönes sein.‘
Rahel ließ sich Zeit und genoss die Suche nach ihrer Tochter, den Garten, posierte für Ben, der sie mit der Kamera im Auge behielt.
Izzy ließ sich nicht locken. Stur hockte sie und harrte so lange mäuschenstill in ihrem Versteck aus, bis sich Rahel erbarmte und sie ‚fand'. Dann nahm sie das Kind in die Arme und sah aus, als hielte sie reines Glück. Ben hatte viele Aufnahmen von diesen Momenten gemacht. Sie standen gerahmt überall in der Wohnung.
Izzys fünften Geburtstag verbrachten sie schon ohne Rahel.
Sie war eins von den vierzehn Opfern, die an der Haltestelle, keine hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, auf den Bus gewartet hatte; an einem ganz gewöhnlichen Dienstagmorgen.
Bens Telefon spielte eine leise Melodie und holte ihn aus den Erinnerungen. Die Sonne stand nun am höchsten und einige Strahlen drängten sich durch das Laub des Akazienbaumes, tanzten auf seinem Kopf. Unwillkürlich erhob er sich von seinem Sitzplatz. Die Vögel flatterten auf, landeten einige Schritte entfernt wieder im Schatten des Baumes. Ben hielt das Telefon mit ausgestrecktem Arm von sich, um die Nummer besser lesen zu können. Izzy.
Mit einem Lächeln, das sämtliche Augenfalten bündelte, nahm er das Gespräch an.
„Kleines. Eben habe ich an dich … Hallo? – Wie … ? Was gibt … ? Warum sprichst du so leise? Ich kann dich ganz schlecht verstehen“, rief er.
Ben verzog die Lippen zu einem schmalen Strich, setzte sich erneut auf die Bank, diesmal aufrecht und runzelte die Stirn, in der wirren Hoffnung, er würde sie so besser verstehen können. Unruhig beugte er sich vornüber und starrte auf seine Füße.
„Wieso wenig Zeit ... Liebes? Warum rufst du … ? Was – ?“ Ben stand wieder auf, ging einige Schritte und trieb die Vögel weiter vor sich her.
„Ich soll dir eine Geschichte erzählen? Welche Geschichte? Aber … Na gut. Ist ja gut, bitte beruhige dich. Ich erzähle sie dir.“
Und Ben begann zu erzählen, einen Arm legte er auf der Rückenlehne der Bank ab, nur um sich gleich wieder mit der Hand über die Augen zu wischen.
„In einem fernen Land traf ein junger, einfältiger Mann auf eine junge, leichtlebige Frau …“ , Ben atmete tief, räusperte sich und sprach leise weiter, rieb mit der freien Hand über den heißen Kopf, „… inmitten einer herrlichen Landschaft, mit Weinbergen so weit das Auge reichte, durchzogen von einem Fluss, auf dem majestätisch die Schaluppen vorbeizogen.“
An Bens Ohr dröhnte aus dem Telefon ein lauter Knall. Er hörte einen Schuss, aufgeregtes Stimmengewirr.
Dann nichts mehr.
Ben senkte die Hand. Das Telefon fiel zu seinen Füßen in den Staub, verscheuchte die Vogelschar.
„Dort am Ufer küsste der glückliche Mann … die beinahe durchsichtige Frau … unvermittelt und herzhaft, dass sie von da an gar nicht genug von seinen Küssen bekommen konnte …“