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Kind der Welt
"Irgendetwas ist da hinten."
Dieser Gedanke macht mir Angst. Wenn man in seinem Zimmer ist und im Bett liegt, dann sollte man sich sicher fühlen und keine Angst vor dem Irgendetwas haben, das sich da vorne in der Dunkelheit versteckt.
"Da vorne kann nichts sein. Da ist ein wenig Chaos, dann die Schrägwand und ein Stück weiter direkt das Draußen."
"Was ist, wenn es in der Wand lebt?"
"Dann müsste es schon ziemlich dünn sein."
Es macht mir ziemliche Angst, aber ich schreie nicht. irgendwie überwiegt auch meine Neugier. Es ist einfach seltsam anzusehen, wie es sich in Windeseile die Dinge holt und zurück bringt.
Mir ist ein Kuscheltier auf den Boden gefallen. Bevor ich es wieder aufheben konnte, hat es irgendwas weggezogen. Klar, es ist dunkel, es ist Nacht, aber trotzdem kann ich deutlich die Konturen der Dinge sehen, wenn ich schon ein paar Minuten in der Dunkelheit liege. Deswegen bin ich mir sicher, irgendetwas hat an dem Plüschtier gezogen, es mit zur Wand genommen und einen Sekundenbruchteil später wieder an den alten Ort zurückgelegt.
Da war mein Schock noch am größten. Ich bin nur froh, dass diesen Aufschrei niemals gehört hat. Danach setzte meine Neugier ein.
Ich nahm mein Plüschtier wieder auf, vorsichtig, als ob es mir jederzeit wieder aus der Hand gezogen werden könnte, und setzte es wieder auf seine gewohnte Stelle über dem Bett. Ich tastete, ob es sich anders anfühlte, ob man vielleicht Spuren von irgendwas bemerken konnte, aber es schien sich überhaupt nicht verändert zu haben.
Ich ließ noch andere Dinge auf den Boden fallen, andere Stofftiere, meine Bettlektüre, die Packung Taschentücher. Alles verschwand immer für einen kurzem Augenblick nach hinten und kehrte gleich darauf zurück. Ich ließ sogar mutig mein Kopfkissen vom Bettrand fallen, um es nach seiner Rückkehr zu untersuchen. Wenn da irgendein anderer Geruch dran sein würde, dann könnte ich ihn sicher bemerken, sobald ich meinen Kopf wieder darin verstecken würde.
Es ist kein anderer Geruch daran. Dass es sich ein wenig seltsam anfühlt, kann aufgrund der Situation eingebildet sein.
Okay, vielleicht wäre es inzwischen ein Grund zum Schreien. Vielleicht würde jemand zur Tür hereinkommen und das Licht anschalten. Vielleicht könnte ich das Licht auch selber einschalten. Aber wahrscheinlich würde ich es damit verscheuchen - und ich will es nicht verscheuchen, bin irgendwie doch zu neugierig.
Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und fasse mir einen Plan. Vorsichtig lasse ich meine recht Hand über den Kopf des Bettes baumeln, bevor ich sie auf den Boden setze.
Kaum, dass sie den Boden berührt, greift etwas nach ihr. Auch, wenn ich damit gerechnet hatte und mich vorbereitet hatte, bin ich kurz davor, loszuschreien. Meine andere Hand zuckt vor, greift nach dem unsichtbaren Arm. Meine rechte Hand kommt frei, greift nach der kleinen Taschenlampe neben dem Bett. Ihr Licht leuchtet auf, beleuchtet meine Hand und einen Arm, den sie fest hält. Zitternd folgt der Schein der Lampe dem unbekannten Arm, bis er auf ein Mädchengesicht trifft.
"Hast Du mich also erwischt.", erklingt es, als ihre Lippen sich bewegen. Und es wird hell.
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Ich weiß nicht, wie sie das Licht eingeschaltet hat. Ich glaube, sie hat es gar nicht eingeschaltet. Das Licht kommt zwar von der Zimmerdecke, es sieht jedoch anders aus. Als ob es nicht eingeschaltet worde wäre.
Sie ist jünger als ich, sehr jung sogar. Wären da nicht ihre tiefen, nachdenklichen Augen, so würde ich sie aufgrund ihres Gesichtes und ihrer zierlichen Statur für ein Kind halten. Sie trägt ein weißes Kleid, das in dem Licht seltsam schimmert. Mir ist es fast peinlich, ihr in meinem auf links gedrehten Baumwollschlafanzug zu begegnen. Alle hier im Haus tragen heute ihre Kleidung auf links. Das hat bei uns Tradition.
Ich schaue erneut in ihr Gesicht. Zwar sind heute wieder eine Menge Verwandte und Bekannte im Haus, von denen ich einige wahrscheinlich nicht sofort erkennen würde, aber ich bin mir trotzdem sicher, dass sie nicht zu unseren Gästen gehört.
"Wer bist Du?" - Ich weiß nicht, wie lange ich jetzt schon darauf gewartet habe, diese Frage zu stellen. Ich weiß nicht, wie lange wir hier in der Stille gesessen haben.
"Ich bin das Kind der Welt."
Als sich ihre Lippen bewegen, als wieder der Klang ertönt, den ich eigentlich nicht Stimme nennen will, merke ich, wie einfach und primitiv im Vergleich meine eigene Stimme klingt.
"Du kannst mich jetzt loslassen." Ein Teil vom mir zweifelt, glaubt, sie würde sofort wieder verschwinden, das Licht verblassen und der Moment wäre für immer vorbei. Ein anderer Teil von mir weiß, dass sie nicht verschwinden wird und hat auch schon losgelassen.
Sie ist noch da, massiert sich ihren Arm, wo ich sie - wahrscheinlich etwas unsaft - festgehalten habe. "Danke", es erklingt ohne den Unterton des Zynismus.
"Was machst Du hier?", ich habe meine eigene, primitive Stimme wiedergefunden.
"Ich bin neugierig. Ich will Dich kennenlernen.", sie lässt es so locker erschallen, als ob wir uns woanders getroffen hätten und nicht unter diesen wundersamen Umständen. "Wer bist Du?", "Weißt Du das denn nicht schon?", "Glaubst Du das?"
Das Gespräch schaukelt sich schneller hoch, als ich es nachzuvollziehen vermag. Ich halte inne, um wieder abzukühlen.
"Was bedeutet 'Kind der Welt'?", dismal fange ich an. Sie lächelt, während die Worte erklingen, "Das bin ich.", "Bist Du ein Engel?", "Was ist ein Engel?"
Wieder einmal geht es zu schnell, als das ich in meinem schlaftrunkenem Zustand vernünftig folgen könnte. Wenigstens kann ich eine Antwort darauf versuchen. "Engel sind Gottes Kinder, sie wohnen im Himmel."
Sie scheint wirklich einen Moment still zu seien, nachzudenken. "Ich bin das Kind der Welt. Ich wohne nicht im Himmel.", sie überlässt es mir, den Schluss daraus zu ziehen.
Es liegt mir auf der Zunge zu fragen, ob die Welt und Gott nicht eins sind, aber ich befürchte, ich könnte ihrer Antwort nicht mehr folgen.
"Wo wohnst Du dann?", dieser Teil der Antwort scheint mir billig, aber vielleicht kann ich ihm wenigstens folgen.
"Ich wohne in der Welt.", "Warum bist Du hier?", "Ich möchte Dich kennenlernen.", "Warum mich?", "Weil Du /gut/ bist." /gut/ lässt sie so betont erklingen, als ob einer fremden Sprache entspringt, losgelöst von dem Rest des Satzes.
"Es gibt doch auch viele andere, gute, bessere Menschen als mich." Ich bekomme es nicht hin, die Betonung ansatzweise zu kopieren. Lächelt sie darüber?
"Ich bin hier."
Ich überlege kurz, ob ihre Fragen rätselhafter sind oder ihre Antworten.
Sie sitzt immer noch auf dem Boden, hat sich bisher kaum bewegt, nur hin und wieder einmal gelächelt.
"Sollen wir uns nicht hinsetzen?", "Ich will Dich dabei ansehen.", "Wir könnten uns unten hinsetzen.", ich vergesse zu fragen, ob sie 'unten' überhaupt kennt, aber sie nickt leicht. Im Erdgeschoss könnte es kühler sein, also ziehe ich mir noch ein T-Shirt über. Es ist von innen bedruckt, falschherum. Es ist ein T-Shirt nur für diesen einen Tag.
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Sie steht ebenfalls auf. Ich frage mich, ob ihr Körper unter diesem Gewand - es trotz der wundersamen Lichtspielereien noch 'Kleid' zu nennen, wage ich mich nicht anzumaßen - nicht friert. Allerdings würde es mich auch nicht wundern, wenn sie die Kälte der Nacht nicht spürt. Schließlich ist sie ja das "Kind der Welt".
Eigentlich will ich sie an der Hand nehmen, stattdessen nimmt sie mich an der Hand. Trotz unserer seltsamen Begegnung wundere ich mich ein wenig, dass sie anfassbar ist, dass sie noch nicht einmal ungewöhnlich heiß oder kühl ist.
Wir gehen die Treppe hinunter, wobei ich das Gefühl habe, dass sie nur aus Höflichkeit läuft, anstatt zu schweben.
In meinem Zimmer erlischt das seltsame Licht. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, sie außerhalb das Zimmers zu sehen. Bisher hätte es mich nicht gewundert, wenn sie nur zwischen Bettkante und Wand existieren könnte. Aber sie scheint sich auch außerhalb wohl zu fühlen und führt mich durch das Haus, als ob sie schon ewig hier leben würde.
Aus der Küche nickt uns die kartenspielende Männertruppe zu. Sie scheinen nicht zu merken, dass meine Begleiterin nicht zu den Kindern gehört, die heute im Haus übernachten. Oder ich habe noch nicht bemerkt, dass sie zu den Kindern gehört, die die Nacht heute hier verbringen und mir nur einen Streich spielen möchte.
Unsere Männertruppe sitzt jedes Jahr um diese Uhrzeit am Küchentisch und spielt Karten. Sie ist zwar jedesmal so neu gemischt wie die Karten, die vergeben werden, aber sie ist jedesmal dort und bleibt wach, bis die ersten Leute aus ihrem Schlaf aufwachen und das Haus wieder bevölkern.
Die Truppe ist unsere Wache für die Nacht. Klar, die Haustür ist fest verschlossen und auch sonst könnte niemand einfach so in das Haus gelangen, doch die Aufgabe der Truppe ist es ja auch, zu verhindern, dass das alte Jahr die Nacht einfach noch zurückkehrt, in das Haus eindringt und uns nicht mehr verlassen will.
Es ist eine alte Tradition in unserem Hause und wie viele alte Bräuche vielleicht etwas komisch, aber trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, sie einfach zu vergessen.
Wir gehen ins Esszimmer, der Tisch hat sich inzwischen vom Abendessen erholt und ist von den Eskapaden danach gesäubert worden. Außer uns ist keiner hier und aus der Küche dringen nur noch leise die Geräusche des Kartenspiels. Wir setzen uns, sie setzt sich gegenüber von mir, so dass wir uns in die Augen sehen können.
Sie hat wirklich ein wenig von ihrer Magie verloren, seit wir das Zimmer verlassen haben. Ihr Kleid spielt nicht mehr wie vorher mit den Farben und ich habe auch das Gefühl, dass sie blasser, durchscheinender geworden ist.
"Wie lange beobachtest Du mich schon?" "Seit ich Dich kenne." "Und wie lange kennst Du mich schon?"
Sie lächelt und gibt mir damit zu verstehen, dass die Antwort schon gegeben ist und nicht ausgesprochen werden muss.
"Wie lange wirst Du denn bleiben?" "So lange ich kann." "Wann kannst Du das denn nicht mehr?" Ich erkenne einen Sinn in dem Farbenspiel. Man kann oftmals ihre Züge nicht genau erkennen. Ich könnte meinen, dass ihr Gesicht kurz Trauer ausgedrückt hätte, aber dass ihr Farbenspiel genau das überdeckt hat. "Wie lange kannst Du denn denken?"
Wieder einmal versuche ich, in Ihrer Antwort meine Antwort zu finden.
"Was machst Du hier?", diesmal unterbricht ihr Klang die Stille, trifft mich unerwartet und überrascht mich mit einer Frage, die ich nicht ganz verstehe. "Ich unterhalte mich mit Dir." Die Antwort klingt zu banal, als dass ich sie aussprechen könnte, ich versuche einmal, ähnlich rätselhaft zu antworten. "Ich bin".
"Was bedeutet, 'Mensch zu sein'?", "Es bedeutet jeden Tag früh aufzustehen und in die Welt hinaus zu gehen." "Es bedeutet, sich mit anderen Menschen herumschlagen zu müssen." Wieder einmal kann ich keine passende Antwort finden. "Ich weiß es nicht." Ich wünschte, ich könnte ähnlich interessant antworten wie sie.
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"Wenn Du so neugierig bist und schon so lange da bist, dann müsstest Du doch eigentlich so viel wissen. Wie kommt es, dass Du trotzdem so viele Fragen hast?" Nach einer kurzen Pause stelle ich mal wieder eine Frage. "Du bist doch auch lange da. Du bist auch neugierig. Du hast doch auch noch nicht alle Fragen gestellt." "Ich bin ja auch nur ein Mensch, Du bist aber das 'Kind der Welt'." Ein Versuchsballon. Vielleicht erfahre ich diesmal mehr darüber, was es bedeutet.
"Du sagst es." Nach einer kurzen Pause wird mir klar, dass das ihre Antwort ist, dass ich wieder einmal nicht fähig bin, zu lernen.
"Wo lebst Du?" Als ob ich damit akzeptiert haben sollte, dass sie viele Dinge noch nicht weiß, wirft sie mir die nächste Frage zu.
Wieder einmal ist die einfachste Antwort auch die unsinnigste. Sie ist hier, sie sollte wissen, wo ich lebe. Trotzdem fragt sie mich danach. "Ich lebe im Hier und Jetzt, aber bemühe mich auch im Gestern und Morgen zu leben." Ich weiß nicht, wie ich ihren Gesichtsausdruck deuten kann. Ihr Farbenspiel hat wieder zugenommen.
"Sollen wir uns vielleicht hinsetzen?", ihre Stimme durchzuckt mich wie Donner. Waren ihre bisherigen Fragen und Antworten zumindest noch rätselhaft, so erscheint mir diese einfach nur unsinnig.
"Was machst Du denn hier?", mein Onkel steht in der Tür, schaltet das Licht an. Für einen Moment bin ich wie erstarrt. "Du solltest eigentlich schlafen, schließlich ist die Nachtwache unsere Aufgabe." Ich blicke zu ihr hin, sehe sie aber nicht mehr.
Ich schlurfe wieder die Treppe hinaus, allein. Mein Zimmer ist weiterhin dunkel.
Auf dem Boden liegt ein Plüschtier. In zwei Teilen. Ich frage mich, ob sie es war, ob sie wütend ist, oder enttäuscht. Es könnte natürlich auch eines der anderen Kinder im Hause sein, dass nach einer Möglichkeit zur Rache gesucht hat. Ich weiß es einfach nicht.
Ich liege im Bett und lasse versuchsweise noch einige Dinge fallen. Aber sie bleiben liegen.