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Kettzer
Kettzer
Er hatte Daerreine vor zwei Jahren in einem Park mit einem Ententeich kennen gelernt. Sie saß auf einer schwarz-gestrichenen Bank und blickte durch eine viel zu große Sonnenbrille auf die Kinder, die fröhlich die Enten fütterten. Etwas nachlässig war ihr hochgestecktes Haar unter einem transparenten roten Tuch verborgen. Eine Lockensträhne fiel ihr ins Gesicht; sie versuchte sie mehrmals hinter das rechte Ohr zu klemmen. Leicht wippend schaute sie in die Ferne, und hielt dabei ein zerfetztes Taschentuch in den Händen. Er lief auf sie zu und überlegte, was er sagen würde. Überlegte, warum sie weinte. Stand vor ihr. Daerreine nahm ihn nicht wahr, oder ignorierte ihn. Er setzte sich zu ihr, lehnte sich zurück, kramte eine Packung Gauloise aus der großen Tasche seines Trenchcoats und bot ihr eine Zigarette an. Sie hob die Brille etwas an und wischte sich die Tränen weg. Ihr linkes Auge war angeschwollen; an ihren Bewegungen erkannte er, dass jemand sie gnadenlos verprügelt hatte. Sie nahm die Zigarette, er bot ihr Feuer an, und sie rauchte still. An ihrem Zeigefinger prangte ein Ring mit einem ziemlich großen Klunker. Ihre Schuhe waren ein Designermodell. Und später erfuhr er, dass ihre Nase ein Schmitzsches Original war. Er packte ein Stofftaschentuch aus seiner Tasche und reichte es ihr. Sie putzte sich nicht gerade damenhaft die Schmitzsche und lächelte. Dann nahm sie die Brille ab, musterte ihn und fing an zu singen: „More than words is all you have to do to make it real…” Da musste er auch lächeln.
Ein Mann in Schwarz rempelte ihn heftig an. De Vlies blieb irritiert stehen und der Mann grinste böse: „Alles in Ordnung zuhause?“
Daerreine hatte mit Lucio zusammengelebt. Lucio war ein kleiner, jähzorniger Anwalt, der viel Dreck am Stecken hatte, wusste man in der ganzen Stadt. Das erklärte nicht unbedingt, warum er seine Frau verprügelte. Aus Daerreine war in dieser Hinsicht nicht viel herauszubekommen. De Vlies und Daerreine trafen sich oft. Sie fühlte sich in seiner kleinen, ordentlichen Wohnung wohl, auch wenn es ihr anzusehen war, dass sie nicht in so einfachen Verhältnissen hätte leben können. Sie spielte mit seinen schweren Büchern, strich über das Leder und dachte sich manchmal zu den Titeln Geschichten aus: Der Kaufmann von Venedig war ein gutaussehender Italiener mit Jaguar, unzähligen Blondinen und einer treuen, brünetten Ehefrau, die an Anmut nicht zu schlagen war und all ihre Konkurrentinnen schließlich ausstach. Der kleine Prinz war ein mittelloser Prinz, der 99 Mal versuchte, ohne Vermögen, nur mit Titel, seine Prinzessin zu finden. Nach dem 99. Mal gab er auf und besann sich darauf, erst einmal Geld zu verdienen. Der Spieler war ein vom Schicksal begünstigter, junger Mann, der wann immer er Geld brauchte, im Roulette gewann, und es anschließend auf Parties und für schöne Frauen verprasste; bis er in einem Duell um die Frau, die er liebte, unglücklich ums Leben kam. Obwohl ihre Geschichten einfach gestrickt waren, hörte De Vlies ihr gerne zu. Sie zeichnete mit einer außergewöhnlichen Lebhaftigkeit ihre Charaktere und vergaß dabei alles um sich herum. Das waren zudem die einzigen Momente, in denen sie frei heraus redete. Wenn sie nicht ihre Geschichten spann, schmiss sie sich ihm an den Hals. Die ersten drei Male wies er sie ab. Da die Stimmung danach immer in eine schwarze Grube fiel, ließ er sich darauf ein.
Er öffnete die Haustür. Kein Radio, kein Fernseher, kein Gesumme. Er vertrieb schnell alle schlimmen Vorstellungen und schaute in die Küche. Sie war blank geputzt und aufgeräumt. Plopp. Der Wasserhahn tropfte. Plopp-plopp. Auf dem Küchentisch lag ein rotes, dickes Taschenbuch. Plopp. Er strich über die Seite. Kapitel XXXIII. Plopp-plopp. Bis dahin hatte er ihr schon vorgelesen. Die Reise nach Atlanta stand bevor. Plopp. Er drehte den Hahn zu und begab sich ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, ihre Schmuckschatulle geöffnet. Ihre Perlenkette war verschwunden.
Auf sie einzureden hatte nichts gebracht. Daerreine ließ gar nicht mit sich reden. Ihre Ehe war nicht sein Problem, und er hatte sich schlicht da herauszuhalten. Es ging ihr schlecht. In regelmäßigen Abständen kam sie weinend zu ihm. Irgendwann gingen ihm die Worte aus, und er schwieg und tröstete sie körperlich. An einem regnerischen Tag packte sie ein großes, rotes Taschenbuch aus ihrer Gucci-Tasche. Sie hielt es ihm hin und bat: „Ich möchte, dass du mir das ganze Buch vorliest. Machst du das?“ Auf dem Cover waren Vivien Leigh und Clarke Gable in inniger Umarmung abgebildet. Er lächelte skeptisch und fragte: „Vom Winde verweht?“ Sie hörte leichten Spott in seinen Worten und erwiderte: „Ich kann natürlich auch weiterhin Geschichten erzählen und die einzige bleiben, die hier überhaupt irgendetwas zu erzählen hat!“ Sie hatte eine gemeine Art, Tatsachen zu verdrehen, die besonders dann hervortrat, wenn sie etwas erzwingen wollte. Dabei ereiferte sie sich so leidenschaftlich, dass er lieber nachgab. Sie war es gewohnt, dass man sie um Verzeihung bat, sogar dann, wenn sie Fehler beging. Jedes Mal unterdrückte er die aufkommende Frage, ob ihr Gatte sie auch nur einmal um Verzeihung gebeten hatte. „Das stimmt so nicht, Daerreine. Ich lese dir gerne das Buch vor.“ Sie lächelte: „Das ist sehr lieb. Fängst du sofort an?“
Die Perlenkette war verschwunden. Bevor er sich vergegenwärtigen konnte, was das bedeutete, klingelte es an der Tür. Ein mittelgroßer, kräftiger Mann reichte ihm die Hand und sagte: „Hallo, Herr De Vlies. Ich bin Herr Sélever-Audessus. Sie werden nach Daerreine suchen, aber das sollten sie lassen!“
„Entschuldigen Sie bitte...“
„Nein, ich habe jetzt kaum Zeit. Kommen Sie morgen ins Café Americano. So gegen drei Uhr. Guten Tag!“
De Vlies wusste nun also, dass Daerreine verschwunden war. Kein Einkauf oder ein Besuch bei einer ihrer „kleingeistigen“ Freundinnen, wie sie selbst über sie sprach.
Eines Morgens hatte sie vor der Tür gestanden. Mit einem riesigen karierten Koffer und diversen Tüten. „Ich bleibe bei dir. Du hast doch nichts dagegen?“ Sie wirkte entschlossen, gleichzeitig aber strahlte ein Hauch Ängstlichkeit aus ihren Augen. Ein kalter Wind zog durch die Baumwipfel und verlieh dem ganzen Tag einen deprimierenden Anstrich. Dabei stand Daerreine vor ihm und bat um Einlass. Bat um viel mehr als das. „Natürlich nicht, komm rein. Warte, ich helfe dir.“ Er brachte den Koffer in sein Schlafzimmer, sie folgte ihm, kramte aus ihrer geräumigen Handtasche eine Schmuckschatulle heraus und legte ihre Perlenkette in zartrosa ab. De Vlies lächelte. Er hatte sie schon seit langem darum gebeten. Sie hatte sie, seit dem er sie kannte, immer getragen. „Ich mache uns einen Tee.“ „Nein“, widersprach sie, „ich koche einen Tee und du schaust, wie weit wir mit dem Buch waren, ok?“ Das Buch lag auf seinem Nachttisch, er hatte nie darin geblättert, wenn sie nicht anwesend war. Er schlug es auf; sie waren beim zweiten Buch. Kapitel VIII. Es ging nach Atlanta.
Er hasste diese Art von Cafés. Nachgeahmter amerikanischer Stil. Junge Menschen hielten sich hier auf, er verstand gar nicht, wieso der Kerl dieses Café ausgesucht hatte. Es passte gar nicht zu seiner Erscheinung. Die ganze Nacht hatte De Vlies wach gelegen. Er war durch die Stadt spaziert, aber ziemlich sicher, dass er Daerreine nicht finden würde. Eine seltsame Ahnung hatte sich eingeschlichen und drückte immer deutlicher auf sein Gemüt. Herr Sélever-Audessus trat ein. Er erblickte De Vlies und ging auf ihn zu. De Vlies hatte einen Tisch inmitten des Cafés ausgesucht. Seltsame Wahl. „Guten Tag, Herr De Vlies, haben Sie über meine Worte nachgedacht?“
„Herr Sélever-Audessus! Also, ich wüsste nicht, was es da zu denken gäbe!“
„Sie wissen doch ganz genau, wo Daerreine ist. Lassen Sie sie ziehen.“ Eine Kellnerin brachte Kaffee.
„Ziehen lassen? Ich habe sie doch nicht festgehalten. Wer sind Sie überhaupt?“
„Sie haben ihr die Perlenkette abgenommen. Man kann einem Menschen nicht einfach die Perlenkette abnehmen. Ganz egal, ob es weiße, graue oder schwarze Perlen sind.“
„Was reden Sie da? Sie hat die Kette von sich aus abgelegt! Wer sind Sie?“
„Sie haben sie dazu bewegt. War sie glücklich bei Ihnen?“
„Wer sind Sie?“, fragte De Vlies mit Nachdruck.
„Das werden Sie schon noch herausfinden. Glück ist eine fragwürdige Angelegenheit.“
„Wenn Sie mir nicht sofort sagen, wer Sie sind und woher Sie Daerreine kennen, dann gehe ich!“
„Gehen Sie.“
„Ich suche meine Frau. Guten Tag!“
De Vlies verließ das Café. Er wunderte sich über die Dreistigkeit Sélever-Audessus. Verärgert lief er die Einkaufsstraße entlang und überlegte, wo er Daerreine finden konnte. Er hatte „seine Frau“ gesagt, doch war sie auf dem Papier noch Lucios Frau.
Sie hatte sich schwer damit getan, sich an das ordinäre Leben des de Vlies zu gewöhnen. Er las ihr jede Nacht Seite für Seite ihre Lieblingsgeschichte vor, und sie grübelte, was in ihrem Leben die Wende gebracht hatte. Was den Ausschlag gegeben hatte, dass sie nicht so glücklich war, wie sie es sich als kleines Mädchen ausgemalt hatte. De Vlies war wunderbar. Er hörte ihr zu, er arbeitete hart, um ihr doch nicht jeden Wunsch von den Augen ablesen zu können. Und er schlug sie nicht. Er hörte ihr zu, er beobachtete sie, er ließ sie nicht aus den Augen. Und er bedrängte sie nicht. Es war warm in seiner engen Gemütlichkeit. Ganz anders als die Kälte Lucios weiten Reiches.
Vor Anson´s hielt eine schwarze Limousine. De Vlies schaute auf und traute seinen Augen nicht, als Lucio zusammen mit Daerreine ausstieg. Sie trug einen wunderschönen, mit Pelz verzierten schwarzen Samtmantel. An ihrem elfenbeinfarbenen Hals schmiegte sich ein Perlencollier. Schwarze, edle Tahitiperlen. Sie hatte das Collier oft im Katalog bewundert. Und sich an seine Schulter gelehnt, um ihn mit großen Augen anzusehen.
Im Americano schlürfte Sélever-Audessus gemütlich seinen Kaffee. Er saß inmitten des Raumes. Blickte man von der ersten Etage herunter, auf der sich zwar Tische befanden, die aber meistens unbenutzt blieben, fiel er sofort auf. Er beobachtete die jungen, sorgenfreien Menschen. Manche trugen apricot-farbene Perlenketten, andere im klassischen Weiß. Es war erstaunlich, in welchen Farben Perlen glänzen konnten. Ihm sprangen sie sofort ins Auge. Ihm sprang auch sofort ins Auge, wenn Menschen keine Perlenketten trugen. De Vlies beobachtete er schon seit langer Zeit. Es kam nicht oft vor, dass man auf sie traf. Er wartete. Er wusste, dass De Vlies zurückkehren würde. Er würde die Perlen wahrnehmen. Vielleicht würde er die zarte Akoya-Perle, die ihm Daerreine angelegt hatte, bemerken und abnehmen.