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Kellerkiste
Es riecht muffig hier unten. Nach Erde und feuchtem Stein. Die Natur drückt sich von außen gegen die alten Mauern des Hauses. Früher hatte Sofie Angst davor, die knarrende Treppe in den Keller hinunterzusteigen, meistens gingen dann ihre Eltern.
Nach der Beerdigung ihrer Mutter ist sie hierher zurückgekommen, ist immer wieder durchs Haus gewandert. Sie hat alles durchgesehen, jeden Schrank, jede Kommode, hat Schubladen auf- und wieder zugeschoben.
Seit zwei Tagen ist Marie da – süße, laute Marie. Dreißig Jahre ist es her, dass sie das Klassenzimmer betrat, sich umsah und ohne zu zögern auf Sofie zumarschierte, um sich neben sie zu setzen. Nun hilft sie ihr dabei, die Kisten zu packen, die Zimmer auszuräumen.
Staubkörner tanzen im Lichtkegel der Lampe. Es knirscht im Mund, wenn Sofie die Zähne zusammenbeißt. So wie damals, als sie die Kuchen essen musste, die Tom im Sandkasten buk.
Sie verschränkt die Finger ineinander, löst sie wieder, wischt mit einer Hand über die andere. Die Innenflächen sind feucht. Die Nägel spröde, der Lack ist an einigen Stellen abgeplatzt.
Mit neun entdeckt sie die kleinen bunten Fläschchen in dem Schrank unterm Waschbecken. Wählt Pink. Ihre Hand zittert, als sie die Farbe aufträgt, an manchen Stellen malt sie daneben.
Tom kneift die Augen zusammen, als sie sich auf dem Spielplatz treffen und einander gegenüber auf die Wippe setzen. Nach einer Weile sagt er, sie solle kurz warten, er müsse schnell was holen. Er kommt mit einem Edding zurück, hockt sich auf ihre Seite der Wippe und bittet sie, die Hände ausgestreckt aufs Holz zu legen. Er zieht die Kappe vom Stift. Sofie will protestieren, aber dann beobachtet sie Tom gebannt dabei, wie er ihre Fingernägel anmalt. Einen nach dem anderen.
Abends bemerkt ihre Mutter die schwarzen Nägel und zieht Sofie ins Bad. Sie tränkt Wattepads mit Nagellackentferner und reibt damit so lange hin und her, bis die dünne Haut an Sofies Fingerspitzen ganz rot ist und jegliche Farbe verschwunden.
„Hast du dich verlaufen da unten?“, ruft Marie aus der Küche.
„Komme gleich.“
„Mach keine Wissenschaft draus. Hauptsache, der Wein knallt.“
Maries Lachen poltert die Treppe hinab, wird immer leiser und landet vor Sofies Füßen.
Sie geht vor dem Regal in die Hocke und sieht die Weinflaschen durch. Irgendwo muss er sein, dieser weiche, würzige Rote, der so gut zu Rinderfilet passt.
Hinter ihr klirrt etwas. Sie fährt herum. An der gegenüberliegenden Wand, auf Omas Kommode, steht die Kiste, die Sofie vor Jahren hier abgestellt hat.
Sie richtet sich auf. Da ist es wieder. Leise nur. Sie denkt an Mäuse, die zwischen weggepackten Erinnerungen umherklettern.
Langsam geht sie auf den Karton zu, legt die Hände darauf und lauscht. Die alten Backsteine dünsten Feuchtigkeit aus, sie kann sie sehen. Hauchdünner Nebel, der sich auf die Haut legt. Sofie reibt sich über die Arme und betrachtet die Kiste.
Sie ist nicht beschriftet.
„Sag mal, brauchst du Hilfe?“
Sofie sieht Marie regelrecht vor sich, wie sie oben in der Küche steht. Die senkrechte Falte zwischen ihren Augenbrauen, das leichte Zucken der Mundwinkel. Spürt den Blick, diesen schweren Blick, den Marie ihr manchmal zuwirft, wenn Stille zwischen ihnen entsteht.
„Ich sag’ doch, ich bin gleich da!“
„Ist ja gut, entspann dich.“ Marie schnalzt mit der Zunge. „Ich geh’ eine rauchen.“
„Mach das.“
Sofie hört, wie sich die Terrassentür öffnet und wieder schließt.
Der Karton fühlt sich klamm an, als sie ihn öffnet. Sie greift hinein.
An ihrem zehnten Geburtstag steht Tom im Garten, tritt von einem Bein aufs andere und hält ein unförmiges Geschenk in der Hand. Immer wenn er sich bewegt, klirrt es leise.
Als Sofie ihn begrüßt, nimmt er ihre Hand und zieht sie um die Hausecke. Er mag die anderen Kinder nicht besonders.
„Pack aus!“ Er sieht sich immer wieder um.
Vorsichtig zieht sie das Windspiel aus der Verpackung und hält es hoch.
„Meine Mutter sagt, es klimpert, wenn jemand an dich denkt“, sagt er.
Er sieht sie an, die braunen Augen weit geöffnet. Sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange, zieht ihn hinter sich her – die Treppe hinauf in ihr Zimmer – und sie hängen das Windspiel an die Lampe über dem Bett.
Manchmal, mitten in der Nacht, bewegt es sich sachte, das Klirren weckt Sofie auf. Sie liegt da und beobachtet die dünnen Schnüre, an denen die Glasstücke hängen.
Das Windspiel liegt leicht in ihrer Hand. Verknotete Fäden, die Farben der Plättchen sind stumpf geworden. Es riecht nach ihm. Alles in diesem Karton, ihre halbe Kindheit.
Die Decke des Kellers sackt herab, Sofie fasst sich an den Hals und schnappt nach Luft. Sie wirft das Windspiel zurück in die Kiste, fährt sich mit der Hand durch die Haare. Sie sind feucht. Wie an dem Morgen, als sie im Wald Verstecken spielten und Sofie sie sich immer wieder aus dem Gesicht strich. Alles war von einem feinen Film überzogen, die Haut, die Blätter, die Steine am Flussufer.
Ihr Herz schlägt gegen den Brustkorb, pocht hinauf bis in den Hals. Sie will schlucken, doch es geht nicht. Um sie herum verschwimmen die Konturen. Sofie leckt sich über die Lippen, spröde Haut unter ihrer Zunge. Sie sieht hinter sich, doch da ist nur das Weinregal. Dreht sich um, schaut wieder in den Karton, da ist Tom. Die Briefe, die er ihr geschrieben, die Bilder, die er gemalt hat, ausgedachte Schatzkarten, Kastanientiere. Sie flüstern, sie kriechen aus der Kiste, erzählen eine Geschichte, die tief begraben liegt.
Sofie krallt sich an der Kommode fest. Der Boden fühlt sich weich an. Blätter unter ihren Füßen, feuchte welke Blätter. Sie schlägt die Hände vor den Mund, taumelt rückwärts. Toms Gesicht löst sich aus dem Mauerwerk. Er starrt sie an, die Haut ganz weiß. Sein Mund ist aufgerissen, er streckt die Hand nach ihr aus. Sie stolpert, stößt gegen das Regal, eine Flasche Rotwein fällt heraus, zerschellt am Boden.
Sie spürt sein Glühen, als er sie von zu Hause abholt. Irgendetwas hat ihn verärgert. Als sie ihn fragt, winkt er nur ab und zieht sie mit sich.
Sofie will ihn aufheitern, Verstecken spielen, wie früher. Sie kauert unter einer großen Tanne und traut sich kaum zu atmen. Er springt aus dem Dickicht, wirft sie um und drückt sie zu Boden. Presst ihre Hände in die feuchte Erde. Seine Augen, da ist was, das Sofie nicht kennt. Etwas, das sich in sie hineinbohrt. Ihr wird schlecht. Tom ist stark und schwer, sie schafft es nicht, ihn abzuwerfen. Er küsst sie auf den Mund, die Wangen, die Ohren – den Hals. Sofie wirft den Kopf von einer Seite auf die andere. Seine Lippen nass und kalt.
„Lass das!“, brüllt sie.
„Mit Julian machst du’s doch auch!“
Sofie versucht, Tom zu beißen, strampelt wie wild. Ihr Knie trifft ihn im Schritt, der Griff lockert sich und sie rennt los. Schlägt Äste zur Seite, stolpert über Wurzeln, rennt weiter. Weg von dem Knacken und Fluchen, das ihr durch den Wald folgt.
Er ist dicht hinter ihr, erwischt mal ihre Haare, den Saum der Regenjacke, ihre Hand. Am Fluss holt er sie ein. Die starken Regenfälle der letzten Tage haben ihn in einen tosenden Strom verwandelt. Sofies Flehen ist kaum zu hören. Langsam kommt Tom auf sie zu, kaum zwei Armlängen trennen sie noch. Sie kreisen umeinander. Ein Lächeln huscht über Toms Gesicht. Sofie schreit. Schreit all ihre Angst und Verzweiflung hinaus, stürmt auf ihn zu und stößt ihn weg. Überrascht taumelt er zurück, rudert mit den Armen, stolpert. Alles ist überzogen von einem feuchten Film. Die Haut, die Blätter, die Steine am Flussufer.
Maries Schritte auf der Kellertreppe hallen dumpf in Sofies Kopf. Sie kauert in der Ecke, presst die Hände auf die Ohren und hält die Augen geschlossen. Die Wände kommen näher. Sie kann sich nicht bewegen.
„Ach du Scheiße!“
Marie riecht nach Zigaretten, vertreibt den Geruch nach Erde und feuchtem Stein. Sofie öffnet die Augen, sieht an ihr vorbei.
„Ich wollte das nicht.“
Marie dreht sich um, wirft einen Blick auf die Kiste und wendet sich wieder Sofie zu. „Ich dachte, du hast die schon lange …“
„Bring sie weg.“
„Aber was –“
„Bring sie weg!“
„Komm mit nach oben.“ Sie packt Sofie am Ellenbogen und zieht sie hoch. Langsam steigen sie die Treppe hinauf. Mit jedem Schritt wird das Flüstern leiser. Sofie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Tut mir leid.“
„Hier!“ Marie hält ihr die Zigarettenschachtel hin und schiebt Sofie auf die Terrasse. „Ich kümmere mich um die Kiste. Und um den Wein.“
Sofie legt sich ins Gras. Die Halme kitzeln ihren Nacken, der Boden ist warm. Langsam beruhigt sich ihr Atem, sie schließt die Augen, zieht an der Zigarette.
Vor dem Haus wird etwas Schweres in eine Mülltonne geworfen, der Deckel zugeknallt.