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Karategott
Ich fuhr sechzig und versuchte, an Schweinemedaillons zu denken. Zartrosa Fleisch, das auf dem Teller in Pilzsoße schwamm. So schmeckte der Geburtstag meines Vaters. Als Beilage Kroketten und ein paar unnütze Salatblätter.
Die Landstraße erlaubte 100. Hinter mir drängelten andere Autos. Die Fahrer hupten und überholten schließlich.
Als ein Traktor aus einem Feldweg auf die Straße fuhr, blieb ich hinter ihm. Trotzdem näherte ich mich Kilometer für langsam gefahrenen Kilometer dem Landgasthaus Könemann. Die Medaillons würden wie jedes Jahr großartig schmecken, sie waren nicht das Problem.
Unter den Reifen knirschte der Parkplatzsplitt. Mein Vater stand neben dem Glaskasten mit der Speisekarte und winkte. Er lächelte zwar, trat aber auch ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Es war 11.52 Uhr an seinem zweiundsechzigsten Geburtstag. Seit einigen Jahren hatte er sich nicht einfach damit abgefunden, dass er alt wurde. Er zelebrierte es. Unter anderem hieß das: Gegessen wird um zwölf, und zwar Punkt. Genauso war es immer bei Oma und Opa gewesen.
Obwohl ich meinen Vater kommen sah, zuckte ich zusammen, als er an das Sicherheitsglas klopfte. Ich fuhr die Scheibe herunter.
„Wo warst du denn schon wieder?“, fragte er. Da er keine Antwort erwartete, fügte er umgehend hinzu: „Warum stellst du dich nicht da vorne hin?“ Er zeigte in Richtung der Parkplätze direkt beim Eingang. Nur ein einziger, mindestens fünfzehn Jahre alter Mercedes stand dort.
„Warum steht ihr denn nicht da?“, fragte ich zurück.
„Wir sind zu Fuß. Nach dem Essen gleich ein Spaziergang, sonst setzt es an.“ Er streichelte seinen Kugelbauch.
„Hast du noch keine Probleme mit“, legte er fest. Sein Blick blieb kurz am leeren Beifahrersitz haften.
„Bist du allein?“, fragte er.
„Ja.“
Das Auto blieb, wo es war. Mein Vater wies noch drei Mal darauf hin, dass er das nicht verstehe, warum ich mich nicht da vorne hinstellte. Erst dann kamen wir zu Begrüßung, Gratulation und Geschenkübergabe. Ich hatte die 36 Kammern der Shaolin-Trilogie auf DVD besorgt.
Drinnen am Tisch wartete bereits meine Mutter. Sie blickte mir über die Schulter, während sie mir die Hand gab.
„Bist du allein?“
„Ja, er ist allein“, sagte mein Vater. Er nahm mir die Jacke ab und legte sie auf den freien Stuhl an dem Vierertisch, über dem bereits seine und die Jacke meiner Mutter hingen.
„Wo ist denn die Marina?“, wollte meine Mutter wissen.
„Kann er doch gleich immer noch erzählen“, sagte mein Vater. „Lass uns erstmal bestellen.“
Das Ritual fiel diesmal kurz aus. Normalerweise stieß meine Mutter meinen Vater mindestens fünf Mal an, zeigte auf die Karte und sagte: „Mh, das klingt auch lecker“, worauf mein Vater die Lippen zu einem abschätzigen Strich zusammenpresste und sagte: „Ja, gut, aber ich glaube, ich nehme wie immer.“
Das ergebnisoffene Studium der Karte war eine Lüge. Was wir bestellten, wenn wir bei Könemann aßen, stand seit dreißig Jahren fest.
Zwei Tische weiter deckte die Kellnerin einem alten Ehepaar auf. Pilzsoße dampfte auf dem Teller des Mannes. Ich sah hin, mein Vater sah hin. In all den Jahren hatten die Medaillons nichts von ihrer Qualität eingebüßt, dabei war ich nicht sicher, ob der Koch noch lebte, der sie in meiner Kindheit zubereitet hatte.
Mein Vater winkte die Kellnerin heran, aber die sah ihn nicht. Er winkte heftiger und schien kurz davor, sich lautlich bemerkbar zu machen, als meine Mutter ihn stoppte. Bitte, sagte sie, die komme schon wieder.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und sah Rentner, die ihre Spargelcremesuppen, Zanderfilets und Steaks nur zur Hälfte aßen und dann seufzend das Besteck an die Seite legten. Sie wischten sich den Mund und seufzten noch einmal.
Meine Mutter legte die Karte auf den Tisch. Sie hatte nur einmal darauf hingewiesen, was auch lecker klang. Es hatte nie ernsthaft infrage gestanden, dass sie die kleine gemischte Fischplatte nehmen würde.
Zeit zu reden.
Marina ist tot, schoss es mir durch den Kopf. Bei der Fremdenlegion. Im Weltall. Auslandsaufenthalt, irgendwo, warum egal. Hat sie nicht gesagt.
Mein Vater schwebte mit seinem Hintern einige Zentimeter über der Sitzfläche seines Stuhls. Mit einer Hand an der Rückenlehne und der anderen auf dem Tisch drückte er sich hoch wie bei Dips, hoch, runter, hoch, runter. Parallel dazu ging sein Mund auf und zu, auf und zu, jedes Mal, wenn die Kellnerin ihre prall gefüllten Platten auf einem Tisch abgestellt hatte und wieder in der Küche verschwand, ohne ihn zu beachten. Hoch und runter. Es machte mir Angst, wie angestrengt und fast schmerzverzerrt er dabei das Gesicht verzog.
„Jetzt lass das sein, Rudolf“, sagte meine Mutter scharf. „Die wird uns schon nicht vergessen.“
Mein Vater blinzelte sie skeptisch an. „Ach.“ Er winkte ab.
Durch die Schwingtür brachte die Kellnerin vier kleine Tablette mit Suppenterrinen. Daneben lagen jeweils eine braune und eine weiße Scheibe Brot. Mein Vater stemmte sich nach oben, ungesehen.
„Das darf doch wohl nicht wahr sein“, flüsterte er.
„Rudolf, setz' dich hin.“
„Ach.“
Meine Mutter sah noch einmal in die Karte. Ihre Augen bewegten sich nicht dabei. Sie klappte das Menü wieder zu und fragte: „Wo ist denn nun die Marina?“
„Jetzt sei nicht so neugierig“, sagte mein Vater, ohne die Schwingtür zur Küche aus den Augen zu lassen.
„Was hat das denn mit neugierig zu tun? Ich werde doch meinen Sohn fragen dürfen, wo seine Freundin ist. Seine Verlobte fast ...“ Sie sah mich an. „Hattest du doch gesagt, als ihr aus Schweden zurück wart?“
„Norwegen.“
Meine Mutter fixierte die Blumenvase in der Mitte des Tischs und schnaufte böse aus.
„Und wo ist jetzt die Marina?“
„Im Weltall.“
„Was?“
„Ich muss auf die Toilette.“
Spritzer meiner Pisse sprenkelten die Klobrille gelb. Das machte mich traurig, denn Marina und ich hatten uns beim Pissen kennengelernt. Wir waren ineinandergelaufen, nachdem wir auf einem Festival aus dem Gebüsch zurückkamen. Sie grinste bekifft, als sie sich entschuldigte. Es war dunkel, aber immer noch warm, und sie ging barfuß. Wir standen da und rieben uns die Stirn und sahen uns in die Augen, im Knisterlicht eines nahen Lagerfeuers. Auf der Bühne gaben Slime ein Konzert ihrer Revival-Tour. Der Sänger röchelte ein letztes Mal ins Mikrofon, dass sie, also wir, keine Bullenschweine wollten, und dann endete die Musik und alles war Jubel. Aus der Gruppe beim Feuer rülpste jemand. „So ist richtig“, bemerkte ein Mitglied der Runde.
„Hast du dir weh getan?“, fragte Marina.
Ich schüttelte den Kopf.
„Und du?“, fragte ich.
Sie zuckte die Schultern. Es war der dritte Tag des Festivals und Marina roch nicht besonders gut. Sie war attraktiv, stieß aber aus der Masse der Hippie-Indie-Emo-Irgendwie-alternativ-Mädchen nicht hervor: Hoch oben abgeschnittene Jeans, ein Motörhead-T-Shirt, zerzauste Haare, Lederband-Gebimmel an den Handgelenken und den Fußknöcheln. Hätten wir unsere Köpfe nicht gegeneinander gerammt, wären wir wohl aneinander vorbei gelaufen, um irgendwann zu sterben und nie etwas von der Existenz des Anderen erfahren zu haben. Rückblickend wäre das das Beste gewesen, aber damals wusste ich das nicht. Statt zu sterben, ohne voneinander zu wissen, liebten wir uns eine Weile. Die Bedeutung unserer Köpfe war uns bewusst. Zur Begrüßung und zum Abschied rieben wir die Stirn aneinander, statt uns zu küssen.
Ich spuckte in die gelbe Pfütze und strich mir mit dem Zeigefinger über die Stirn. Er roch nach Rauch, nicht nach Marina.
Zurück am Tisch ließen weder mein Vater noch meine Mutter locker.
„Eben hat sie schon hergesehen und genickt“, sagte mein Vater. „Aber jetzt passiert wieder nichts. Ich gehe gleich vorne mal hin.“
„Ist vielleicht besser, ja“, sagte ich. Meine Mutter meinte, ich solle ihn nicht auch noch ermutigen.
„Und was war jetzt mit der Marina?“, fragte sie.
„Habt ihr schon was zu trinken bestellt?“, fragte ich.
„Nee“, sagte mein Vater. „Wir wissen doch gar nicht, was du willst.“
„Wasser“, sagte ich.
Mein Vater grinste und fragte mich, ob ich los gewesen wäre. Bevor ich antworten konnte, klapperten die Schwingtüren, die jemand von der anderen Seite aufschob, große schwere Teller voller grüner Bohnen mit Speck, Bratkartoffeln und Leber mit Röstzwiebeln auf den Unterarmen balancierend. Wie die Kellnerin mit ihrer Leber dahin tänzelte, war sie für meinen Vater einen Moment lang die Frau, um die sich alles drehte. Marina war das für mich gewesen, bevor ich ihr die Wohnungstür vor der Nase zugeschlagen hatte.
Meine Romanze war zu Ende, die meines Vater begann. Die Frau mit den Lebern auf dem Arm nickte ihm zu, und er winkte und lächelte und setzte sich endlich hin, und dann lächelte er nicht mehr und sagte: „Wollen wir das Beste hoffen, genickt hat sie eben auch schon.“
Meine Mutter verschränkte die Arme vor der Brust.
„Erfahren wir denn jetzt heute noch, was mit der Marina-“
Ich sprang auf, schlug mit der Handkante den Tisch in zwei Teile wie ein Karategott und schrie: „Sie ist im Weltall, meine Fresse, das habe ich doch gerade gesagt!“
Überall um uns herum aßen und seufzten die Leute einfach weiter, und als ich den Tisch ansah, war er noch in einem Stück, und ich saß auf meinem Stuhl, und meine Mutter sah mich mit diesem Blick an, der mir verriet, dass sie die Antwort schon kannte, obwohl ich noch nichts gesagt, geschweige denn geschrien hatte. Ich war kein Karategott. In der D-Jugend habe ich geweint, wenn mir einer zwischen die Beine grätschte. Mein Vater bekam noch immer diesen peinlich berührten Gesichtsausdruck, wenn die Nachbarn, die noch lebten, ihn beim Bier darauf ansprachen, was ich für eine Memme gewesen war.
„Wir sehen uns im Moment nicht so oft.“
„Habt ihr euch gestritten?“
Mein Vater tippte mit dem Finger auf den Tisch und sagte: „Na, jetzt reicht es aber, das geht uns nun wirklich nichts an.“
„Wir sehen uns einfach nicht mehr so oft“, sagte ich.
Sekundenlang legte sich eine Stille über den Tisch, so bedrückend, dass sie fast das Suppengeschlürfe übertönte. Mein Vater berichtete von Onkel Werner, der sich ja Solarzellen aufs Dach machen wollte, und jetzt wird das nicht mehr gefördert, und bei der Bank haben sie auch die Schultern gezuckt, und wenn man heutzutage die Nachrichten guckt, kann man sowieso nur noch mit dem Kopf schütteln.
Als Marina mich fragte, ob ich sie schon mal betrogen hätte, hatte ich auch den Kopf geschüttelt, dabei lief das mit Linda da schon längst. Beide Male hatte Marina es am Wochenende wegen der Arbeit nicht zu mir nach Bielefeld geschafft, und ich war daheim geblieben wegen der Grunge-Party im X. Linda und ich lachten, weil wir uns zu Them Bones von Alice in Chains küssten, genau wie wir es fast 20 Jahre zuvor getan hatten. Ich hatte eigentlich immer Sex mit Linda, wenn wir uns trafen, was nicht mehr so oft vorkam, weil sie schon lange in Berlin lebte. Unser Körperkontakt passierte stets so routiniert, dass ich es gar nicht mehr als Sex wahrnahm, deshalb war mein Kopfschütteln gegenüber Marina streng genommen keine Lüge gewesen. Mit Linda hatte ich vor Jahren mein erstes, zittriges Mal erlebt, und wenn wir uns wiederbumsten, weil sie für irgendeine Geburtstagsfeier ein paar Tage in der Stadt war, dann sah ich manchmal vor mir, wie ich mit ihr auch mein letztes Mal erlebte, unser beider Fleisch schlaff und faltig, mein Penis nicht mehr richtig steif, und dann gar nicht mehr, nie mehr, bis ein Herzinfarkt mich dahinraffte, wegen des Rauchens.
„Und du?“, fragte ich. Marina erzählte von Patrick, den sie beim Tai Chi kennengelernt hatte. Vor mir sah ich sie ficken, die Arme und Beine zur Kordel umeinander gewickelt, im Lotusduft der Räucherstäbchen, während von irgendwo ein Gong erklang. Marina sagte, dass es ihr leid täte. Ich nahm die Entschuldigung an uns schmiss sie raus.
„Die Leonie hat schon ihr zweites Kind“, sagte meine Mutter. In der Grundschule hatte Leonie auch immer die besseren Diktate geschrieben. Später war ihr Abi meinem um fast zwei Noten überlegen gewesen. Sie hatte nicht irgendeinen Quatsch studiert, sondern als Auszubildende zur Groß- und Außenhandelskauffrau alles in Erfahrung gebracht, was für das Leben wichtig war. Jetzt hatte sie das Reproduzieren nicht nur begonnen. Sie hatte scheinbar auch nicht vor, es wieder einzustellen. Dieses Duell würde erst enden, wenn einer von uns beiden tot war oder eine in diesem Leben nicht mehr einzuholende Leistung erbracht hatte. Den Mars bewohnbar machen, zum Beispiel.
„Nicht schlecht“, kommentierte ich Leonies wiederholte Niederkunft. Meine Mutter nickte.
„Ja, schön ist das für Jochen und Ute“, meinte sie.
Die Kellnerin hatte ihr braunes Haar zum Zopf zurückgebunden und trug angenehm wenig Schminke. Mein Vater schien sich zunächst beschweren zu wollen, doch dann sah er sie ein bisschen länger an, als nötig gewesen wäre. Meine Mutter starrte an die Wand, im Kopf zweifellos bei Leonies Eltern, die mit ihren Enkelkindern spielten und sich dabei die alten Diktathefte ansahen, die Schrift verblasst, aber immer noch lesbar, und darunter: Null Fehler! Prima, Leonie! Daneben ein Smiley oder eine Micky-Maus-Hand, die den Daumen nach oben streckte.
„Wir nehmen einmal die gemischte Fischplatte und zweimal die Medaillons mit Champignons. Und zu trinken-“
Die Kellnerin schüttelte den Kopf.
„Tut mir leid, aber die Medaillons sind aus.“
„Oh“, sagte mein Vater. Er wiederholte es ein paar Mal. „Dann ...“
Er sah mich an.
„Weißt du schon, was du dann nimmst?“
Ich zuckte die Schultern.
„Dann brauchen wir nochmal einen Moment“, sagte er.