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Kamille Kobe bringt die Eier
Kobe war sehr früh am Morgen von seinem kleinen Anwesen im Tal aufgebrochen, um das Futter für Susa, seine einzige Kuh, und für die Stallkaninchen zu beschaffen.
Er besaß zwar keine Wiese und keinen Acker, aber er durfte das Gras, das auf den vielen Feldwegen und in den Straßenböschungen wuchs, für seine Tiere mähen. Und das war in reichlicher Menge vorhanden.
Alle zehn bis fünfzehn Meter blieb Kobe stehen, schöpfte neuen Atem und neue Kraft. Es war ein hartes Stück Arbeit für den alten Kobe, Tag für Tag das Futter für die hungrigen Tiere heranzuschaffen.
Aber das war es nicht, was an diesem Morgen die Sorgenfalten in Kobes Gesicht getrieben hatte. Was ihn an diesem Morgen so bedrückte, das war das schadhafte Dach seines Hauses.
Kobe hielt wieder an, schaute gegen den Himmel und sah die schwarzen Regenwolken drohend dahin ziehen. Mit Sicherheit würde es in der nächsten halben Stunde wieder zu regnen anfangen. Noch gestern war er, nach einem starken Regenguss, auf den Dachboden gestiegen. Da hatte er dann feststellen müssen, dass zu den bestehenden undichten Stellen - es waren sieben an der Zahl - noch zwei weitere hinzugekommen waren.
Daher war er auch an diesem Morgen, gleichzeitig mit dem Futtermachen, auf dem Schuttabladeplatz am Waldrand gewesen. Er hatte dort eine alte, verbeulte Blechwanne und einen beschädigten Zinkeimer gefunden.
Beide Gefäße waren jedoch im unteren Teil noch wasserdicht. Er konnte sie also zum Unterstellen unter die neu aufgebrochenen Dachlöcher gebrauchen, und so hatte er sie zu dem Grünfutter auf den Handwagen gepackt.
Kobe schüttelte den Kopf. So konnte das nicht weitergehen. Das Dach würde die kommenden Herbststürme und den Schneewinter nicht überstehen.
Aber er hatte kein Geld, um die längst fällige Reparatur ausführen zu lassen. Die wenigen Pfennige, die er für den Verkauf der Milch und der Eier einnahm, brauchte er dringend für die notwendigen kleinen Anschaffungen, die sich nicht vermeiden ließen.
Mal war es der Kauf eines Hemdes oder von ein Paar Strümpfen, mal war es ein Säckchen Körner für die Hühner und auf den Tabak für seine kleine Tonpfeife, die er am Abend auf der Bank vor seinem Hause zu rauchen pflegte, wollte er auch nicht gerne verzichten.
Wieder zog Kobe den Wagen an. Es waren jetzt nur noch dreißig, vierzig Meter, dann war er auf dem befestigten Fahrweg angelangt, der hinunter ins Tal führte.
Noch einmal, vor dem Erreichen der festen Straße, hielt Kobe an. Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Nein, so konnte das nicht weitergehen. Er musste etwas unternehmen.
Und Kobe fasste einen Entschluss. Noch heute Abend würde er zu Becker-Paule, dem Dachdecker gehen. Er würde ihm zuerst klipp und klar sagen, dass er kein Geld habe für das Dach. Aber er würde ihm anbieten, dreimal die Woche eine Kanne Milch ins Haus zu bringen, und dies drei Monate lang. Und für Weihnachten würde er ihm seinen fettesten Stallhasen, den „Barbarossa“ schlachten. Das war doch wahrhaftig ein Angebot. Dafür konnte Becker-Paule schon ein gutes Stück Arbeit leisten.
Am Abend ging Kobe zum Dachdeckermeister Becker-Paule. Der Meister saß gemeinsam mit seiner Familie in der Küche beim Abendbrot. Kobe schilderte dem Dachdecker die Lage. „Das Dach ist schlecht, Paule“, sagte er, „es muss dringend gemacht werden. Doch Geld habe ich nicht, Paule. Aber ich bringe dir, mindestens drei Monate lang, jede Woche drei Literkannen Milch von Susa ins Haus. Und Weihnachten, Paule, Weihnachten kriegst du Barbarossa, meinen besten Stallhasen. Und vielleicht sind auch noch ein paar Eier drin.“
Becker-Paule sah nur kurz auf. Kobe sah sein finsteres Gesicht. Dann sagte der Dachdecker: „Auf dein Dach, Kobe, gehe ich nicht. Ich bin doch nicht lebensmüde. Das Dach, Kobe, das kannst du abreißen und das ganze modrige Haus dazu“.
Kobe sah, wie Franziska, Pauls Frau, erschrocken aufsah. Dann war nur noch ein eisiges Schweigen in dem Raum.
Kobe verließ das Haus. Langsam und mit schweren Schritten ging er in sein Tal zurück.
Am anderen Morgen, Kobe war gerade vom Futtermachen zurückgekommen, stand Franziska in seinem Hof.
„Kobe“, sagte sie, „Paule hat das gestern Abend nicht so gemeint. Paule ist kein schlechter Mensch. Er ist nur immer im ersten Moment so heftig. Wirklich Kobe, Paule ist ein guter Mensch. Er wird sich in den nächsten Tagen auch das Dach ansehen“.
„Ich hab´ kein Geld“, sagte Kobe. Sein Gesicht sah müde aus und war ohne Hoffnung.
„Du brauchst kein Geld“, sagte die Frau. „Paule hat mir aufgetragen, dir zu sagen, er hätte gern für jeden Ziegel, den er ersetzen muss, ein Ei und für seine Arbeit zu Weihnachten das Stallkaninchen“.
Kobe guckte ungläubig und verwundert zugleich. „Da hat sich dein Paule aber ‘nen mächtigen Ruck gegeben, Franziska. Das ist ja nun wirklich kein Geschäft für ihn“. Franziska war dann wieder gegangen. Kobe machte sich, immer noch verwundert und misstrauisch zugleich, an die Arbeit.
Nach zwei Tagen schon war der Dachdecker da. Er besah sich das Dach und versprach, in ein bis zwei Wochen die Sache zu erledigen.
Tatsächlich kam Becker-Paule zu der besagten Zeit angefahren. Er hatte seinen Sohn mitgebracht, der bei ihm in der Lehre stand. Und eine Menge Material hatten die Handwerksleute auch dabei.
Schon nach zwei Tagen war das Dach wieder hergestellt. Neben den Ziegeln hatten die Dachdecker auch noch einige Sparren und Latten ersetzt.
„Es waren 73 Ziegel, Kobe“, sagte Becker-Paule, als die Arbeit geschafft war. „73 Ziegel“, wiederholte Kobe, „73 Ziegel, das sind 73 Eier, Paule. Die werden pünktlich abgeliefert, nicht auf einmal Paule, aber jede Woche soviel ich kann“. „Und zu Weihnachten den Stallhasen, Kobe“, lachte Becker-Paule, „aber sauber geschlachtet, hörst du Kobe“?
„Geht alles in Ordnung, Paule“, antwortete Kobe und auf seinem Gesicht waren keine Schatten mehr. „Nächste Woche, Paule, bringe ich die ersten Eier“.
Nun machte sich Kobe einen Plan. Jede Woche würde er sechs oder sieben Eier bei Becker-Paule abliefern. In nur elf bis zwölf Wochen war er dann mit den Eiern fertig.
Als Kobe in der darauf folgenden Woche mit sieben Eiern im Korb in Becker-Paule’s Haus eintrat, rief Harald, das jüngste der Becker-Kinder: „Kamille Kobe bringt die Eier“.
Kobe sah an Franziskas Gesicht, dass ihr der Ausruf ihres Sohnes nicht gefallen hatte. „Das ist für dich der Herr Jakob Landberg, du Lausejunge", wies sie den Jungen zurecht. Aber Kobe lachte: „Nicht schlimm, Franziska. Die Kinder sagen ja alle „Kamille Kobe“ zu mir. Das ist halt mal so, wenn man so einen Namen hat. Und Auf wiedersehn bis zur nächsten Woche“.
Als Kobe auf dem Heimweg war, dachte er wieder einmal über seine Vergangenheit nach. Der kleine Harald hatte ihn mit seinem Spitznamen, Kamille Kobe, gerufen. Den Namen hatte er seit jener Zeit, da er noch in größeren Mengen Tee- und Heilkräuter gesammelt und auf den Speicher zum Trocknen aufgehängt hatte.
Damals kamen viele aus dem Dorf zu ihm und fragten ihn um Rat wegen ihrer Wehwehchen. Kobe hatte ihnen dann seine Erfahrungen und Ratschläge mitgeteilt, die er zum großen Teil selbst noch von seinem Vater erhalten hatte. Und er hatte ihnen dann von seinem Tee und den Heilkräutern abgegeben, die den Übeln abhelfen sollten.
Ja, damals hatten sie ihm den Spitznamen „Kamille Kobe“ gegeben. Kobe seufzte. Das war seine beste Zeit gewesen. Das war auch die Zeit, als Marie, seine Frau, mit ihm ihr Leben in einem schönen Gleichklang und in Frieden teilte.
Dann aber kamen die Rückschläge. Es fing damit an, dass es ihm zwei Jahre hintereinander das Korn verhagelte. Das hatte ihn niedergeworfen. Und er war keiner von denen, die sich aufzubäumen vermochten, die sich nicht unterkriegen ließen. Bald fing er an zu trinken und dann begann er damit, die Felder zu verkaufen.
Von da an verstand er sich lange Zeit nicht mehr mit Marie.
Aber das Schlimmste kam erst. Das Schlimmste waren seine Dummheiten, die er dann machte. Er fing an, auf fremden Wiesen Futter zu holen und ließ unterwegs anderer Leute Kartoffeln, Gemüse und manchmal auch ein Huhn oder eine Ente mitgehen.
Danach war Marie wieder gut zu ihm. Marie, sie war eine gute Frau. Als sie vor drei Jahren starb, da hatte sie ihn auf dem Sterbebett gebeten: „Kobe, bleib’ jetzt so, wie du bist. Armut ist keine Schande“. Und er hatte es ihr versprochen.
Die im Dorf aber, die hatten ihm nicht verziehen. Sie ließen ihn wegen dieser alten Geschichten immer noch links liegen.
Aber Kobe hatte dennoch Freunde. Es waren die Kinder, die kleinen Jungen und Mädchen, die hin und wieder auf seinen kleinen Hof kamen, um nach den Tieren, besonders nach den Stallkaninchen, zu sehen.
Kobe hatte allen seinen Tieren Namen gegeben, der Kuh, den Kaninchen und auch den Hühnern. Daran hatten die Kinder ihren Spaß.
Für die Kaninchen hatte Kobe besonders klangvolle und bedeutende Namen gefunden, Namen, die er noch aus seiner Schulzeit behalten hatte. So gab es bei ihm die Stallhasen „Cäsar“ und „Bismarck“, und den schon erwähnten „Barbarossa“, und auch der „Alte Fritz“ gehörte zu der erlauchten Gesellschaft im Kaninchenstall. Und dass die „Prinzessin Wilhelmine“ und die „Kaiserin Maria Theresia“ besonders gerne den ganz jungen und zarten Klee mochten, das wussten die Kinder längst.
Kobes bester Freund war Alex, der Sohn des Backes-Müller. Der Schulweg von Alex führte Tag für Tag an Kobes Haus vorbei.
Da gab es dann meistens irgendetwas zu besprechen. Erst gestern, als Alex auf dem Nachhauseweg von der Schule in Kobes Haus rein kam, hatte der Junge wieder eine wichtige Frage.
„Kobe“, hatte Alex gefragt, „wann bekommt Susa wieder ein Kalb“? Und Kobe hatte geantwortet: „Ich denke, Alex, sie soll nächstes Jahr im Mai wieder kalben. Ich will sie früh genug zum Stier bringen“.
Daraufhin hatte Alex gemeint: „Ja, Kobe, das musst du dann wohl, zuerst muss Susa zum Stier, sonst wird das nichts“. „Aber ja, Alex“, hatte Kobe gelacht, „du bist ein kluger Junge. Und wie war’s heute in der Schule?“ „Heut’ war’s mal wieder prima, Kobe. Fräulein Moosmann hat uns auch aufgabenfrei gegeben, weil es so heiß ist“
„Jetzt musst du aber nach Hause, Alex“, hatte Kobe das Gespräch beendet, „Mutter wartet daheim schon mit dem Pfannkuchen.“
Und Alex war dann pfeifend davon gezogen.
Als Kobe in der folgenden Woche zum zweiten Male die Eier in das Haus von Becker-Paule brachte, meinte Franziska so nebenher, man sehe nun Kobe schon lange nicht mehr in der Sonntagskirche.
Kobe war sehr verlegen, als Franziska ihn so ansprach und kratzte sich hinter dem linken Ohr. „Weißt Du“, begann er dann langsam und stockend, „weißt du Franziska, seitdem Marie tot ist, na ja und auch schon eine Zeit vorher, war mir’s gar nicht danach Und jetzt, ja jetzt ist auch noch der Sonntagsanzug verdreckt und kaputt. War mal bei Glatteis hingefallen, und da ist es dann passiert. Ein großes Loch ist in der Jacke, ein richtiger Fetzen hängt da raus. Ich kann so nicht mehr unter die Leute gehen“.
Schon am nächsten Morgen war Franziska das Tal hinaufgegangen zu Kobes Haus. Kobe war gerade im Hof beschäftigt. „Kobe“, sagte Franziska, „bist so gut und holst mir den Anzug. Ich werde ihn in Ordnung bringen“. Kobe nickte nur und verschwand in der Schlafkammer.
Bald erschien er wieder und hatte einen Leinenbeutel in der Hand, in den er den Anzug reingesteckt hatte.
Am nächsten Sonntag ging ein Raunen durch den Kirchenraum. „Kobe ist in der Kirche“, lief es flüsternd von Bank zu Bank.
Als der Gottesdienst beendet war und die Leute noch vor der Kirche, wie an jedem Sonntag, zu einem Schwätzchen verweilten, da war es der Schuster Franz, der auf Kobe zuging, ihm auf die Schulter klopfte und laut sagte: „Guten Morgen, Kobe, schön, dass du mal wieder da bist“. Und als Kobe um sich schaute, da blickte er in lauter freundliche Augen.
Da wurde es Kobe warm ums Herz. Sie sahen nicht mehr an ihm vorbei. Sie hatten ihn wieder in die Gemeinschaft des Dorfes aufgenommen.
Wenige Monate später, an einem Herbsttag, läutete das Sterbeglöckchen vom Turm der kleinen Dorfkirche. Wie ein Lauffeuer lief die Kunde von Haus zu Haus:„Kamille Kobe ist tot“.
Die Leute gingen auf die Straße, um die Neuigkeit zu bereden. Rosa, die Kriegerwitwe, ging zu Nikla, dem Stellmacher, der stets über alles genau Bescheid wusste, und fragte ihn: „Nikla, wie ist er denn so plötzlich gestorben“?
„Alex“, sagte der Stellmacher, „Alex, der Sohn vom Backes-Müller hat ihn gefunden. Der Junge kam am Mittag von der Schule. Und als er an Kobes Hof vorbeiging, da hörte er, wie Susa, die Kuh von Kobe, so jämmerlich brüllte. Ja, und da ging Alex ins Haus, um mit Kobe zu sprechen, warum Susa so brüllen tät. Ja, und da saß Kobe in der Küche auf der Bank, den Kopf auf den Tisch gestützt. Er schien zu schlafen. Aber als Alex den Kobe wachrütteln wollte, da ging das nicht, und Kobe sagte auch kein Wort mehr. Da ist dann der Junge nach Hause gerannt, zu seiner Mutter. Von weitem hat er schon gerufen: „Kobe sagt nichts mehr. Wir müssen schnell hingehen, wir müssen ihm helfen“!
Ja, und dann ist die Kathrin mit dem Jungen schnell runter gelaufen. Und es war dann so, wie der Junge gesagt hatte. Kobe redete nicht mehr, Kobe war tot. Aber vor ihm auf dem Tisch, da lag noch ein weißer Zettel. Darauf hatte Kobe noch was aufgeschrieben“?
„Was war das, was Kobe noch aufgeschrieben hat? wollte Rosa wissen
„Auf dem Zettel stand“, fuhr Nikla fort, „für Becker-Paule noch 28 Eier und an Weihnachten den Stallhasen Barbarossa. Und ganz unten auf dem Zettel standen noch drei Worte, in zittriger Schrift, kaum zu lesen, die drei Worte:
"Was denn! Was stand da noch?"
Nikla senkte den Blick.
„Herr erbarme dich“