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- 02.06.2004
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Kalte Gefühle
Schier unendliche Weiten erstreckten sich zu Füßen des Baumes, dort, wo der majestätische Berg, den er krönte, grün und weich hinabfiel, glitt, hinunter bis auf die prachtvolle Ebene. Die Hänge streckten und reckten sich nach allen Seiten, drängten fort und blieben doch, wo sie waren, als hielten sie inne, um zurückzublicken zum Baum, als forderten sie ihn auf, mit ihnen zu gehen, ihnen zu folgen bis mitten hinein in jene fernen Landstriche, die des Morgens von der Sonne rot und herzlich wachgeküsst wurden und die des Abends schläfrig, trüb vor Dunst, und doch glücklich sich von ihr verabschiedeten, dankbar für den schönen Tag, der neuerlich über sie hinweggeflutet war, sie bedacht hatte mit seiner immer wiederkehrenden, doch nicht desto minder wundervollen und atemberaubenden Fülle von Leben, Luft und Emotionen. Und Klarheit.
Wohin er sich auch wandte, nichts blieb seinem Blick verborgen, so klar war der Tag, der Himmel, die sanfte Brise, die von ihrer langen, spannenden Reise unzählige Eindrücke mitbrachte von üppigen Grasebenen, harzig duftenden Wäldern und sprudelnden Bächen. Keine Wolke und nicht der blasseste Schimmer einer tückisch verschleiernden Nebelwand getrauten sich den Blick zu blockieren, sich allein in die unermessliche, freie Weite zu begeben, wo sie hilflos ausgeliefert wären den energisch vereinten Anstrengungen des erzürnten Landes, den Störenfried zu vertreiben, um die Idylle, wie sie hier herrschte und wie sie niemand missen wollte, wiederherzustellen und erneut Ruhe einkehren zu lassen.
Silbern blinkend und funkelnd wie flüssiger Diamant ergoss sich ein zartes Rinnsal, nur einen Steinwurf unterhalb der knorrigen Wurzeln des alten Baumes sich aus unterirdischen Verliesen befreiend, jauchzend hinab, begab sich erwartungsschwanger auf den Weg ins Leben und spielte unterwegs unaufhörlich, fröhlich, mit den saftigen Wiesen, die, gestreichelt vom Wind, das Wettrennen mitmachten, übermütig wie kleine Welpen in der unbeschwerten Zeit ihrer Jugend.
Und die Hänge, schon sehnsüchtig auf dem Sprung hinab ins goldene Tal, verharrten noch immer, warteten, ungeduldig tuschelnd, auf den Baum, ob er ihnen folgen würde und teilhaben am Wunder der Freiheit.
Doch der Baum konnte nicht fort von hier, so gern er es wollte – und auch wieder nicht –, wusste er um die Verpflichtung, die Verantwortung, die er trug; hier zu verharren und zu wachen, zu sehen, zu hören, zu fühlen, das war seine Aufgabe. Nicht Zeit seines Lebens, doch zumindest für eine unbestimmte Weile würde er über der Landschaft, nach der ihm verlangend dürstete, thronen und stoisch, majestätisch wie der Berg, auf dem er stand, erwachsen war zu stattlicher Größe, seine rissigen Äste und Zweige ausbreiten über der Welt. Bestimmt und fordernd deuteten sie in jede Richtung, zeigten auf alles und doch nichts, als dirigierten sie das Treiben selbst über nicht mehr messbare Distanz, ohne jedoch eigens darin involviert zu sein.
War es Herrsch- oder Sehnsucht, die jene gewaltige Geste geformt, den Baum geprägt hatte?
Wohl keines von beiden, vielmehr dürfte dies alles dem Mitgefühl zuzuschreiben sein, das tief in seinem Innern von Beginn an geruht, gelauert hatte auf den Moment, da es die harte, raue Borke durchdringen konnte, hervorbrechen in einem Schwall warmer Sympathie.
Doch möge man sich nicht irreführen lassen von dieser scheinbaren Idylle, geschaffen durch Gefühle und die Worte, sie zu beschreiben, sondern sei stattdessen vielmehr vorbereitet auf die ganze Tragik, die dahinter ruht und, ausschlaggebend für den vom Baum eingeschlagenen Weg, sei er weise oder töricht, untrennbar verknüpft ist mit seinem Schicksal.
Denn am Fuße des Baumes lehnt, nackt und bleich, ganz im Widerspruch mit der leuchtenden, atmenden Umgebung, ein Gerippe.
Vergilbt wie die Seiten eines alten, vielgelesenen Buchs, so schimmerte das Gebein in der freundlichen Frühlingssonne, strahlte blass und emotionslos eine in dieser sonst so reinen Natur befremdliche Kälte aus, die irgendwie fehl am Platze schien. Der knöcherne Schädel, dem sein fraglos beträchtliches Alter anhand der zahllosen Sprünge und Risse, die den kahlen Scheitel wie ein Gespinst überzogen, deutlich anzusehen war, ruhte sanft auf der trockenen Brust, wie wenn ein Wandersmann, müde vom langen Marsch, im warmen Schatten eines Baumes eingenickt wäre. Doch schlief der Knochenmann nicht, sämtlichen Fleisches beraubt, dessen Ermattung eine Rast erforderlich machen würde, sondern starrte bewegungslos, traurig, aus leeren Augenhöhlen, in die sich die Schatten vor dem gleißenden Licht des Tages geflüchtet hatten, die grüne Steilung entlang hinab auf jene lockenden Lande, in die die Ausläufer des Berges mündeten. Weit von sich streckte er die knochigen Zehen, als fordere er den blau leuchtenden Horizont auf, ihm die Sohlen zu kitzeln, seiner heiseren Kehle ein Lachen zu entlocken, das glockenhell klingen und den Baum, den Berg, die Welt erfreuen und bereichern könnte. Doch war es still.
Frische Halme spielten um des Skelettes Knöchel, rieben sich an ihnen wie die Katze am Bein eines fröhlichen Kindes, nur waren jene Gebeine nicht fröhlich, sondern sogar, wäre ein Kind hier in der zugigen Höhe, fähig, ihm schlagartig alles Frohlocken zu entreißen, es weinend die Wiesen hinunter zurückzuschicken in den tröstenden Schoß der Mutter.
Trost; so einsam, wie das Gerippe hier war, den Rücken stützend an des Baumes knorrige Rinde gepresst, spendete niemand ihm Trost, leistete niemand Gesellschaft. Und so saß es also dort, auf der Kuppe des Berges, am Fuße des Baumes, und blickte unbewegt vor sich hin, die Beine lang ausgestreckt, die vielgliedrigen Hände flach, beinahe tastend auf den weichen, atmenden Boden gelegt, als wolle es ihn streicheln, ein letztes Mal, lang nach dem eigenen Ableben, Leben spüren. Doch spürte es nichts als den Wind, der hohl und pfeifend durch seine Knochen fuhr und eine eisige, triste Atmosphäre schuf.
Aber wenn auch der Schein eine karge Trostlosigkeit vermittelte, so war das Gebein, ohne es zu wissen, doch nicht allein. Denn hinter seinem Rücken erwuchs der Baum, an dem es lehnte, den es mit dem letzten Atemzug vergessen hatte, der aber nach wie vor es stützte, ihm Halt bot, über all die Jahre, Jahrzehnte hinweg da war und wachte. Nicht über die Weiten, die allerorts sich erstreckten und sich unter den dachartig entfalteten Armen des Baumes räkelten, scheinbar sicher, dass er Acht gab und ein Auge auf sie hatte, sondern über die sterblichen Überreste jenes unglücklichen Mannes, der an jenem unglückseligen, kalten Tage sich mit schleppendem Schritt unter die damals schon uralten Zweige des Baumes rettete, der der klirrenden Eiseskälte stur die Stirn bot.
Zu dieser Zeit war Winter, wie er hier jedes Jahr einzog und mit erbarmungsloser, glasiger Kälte in die Erde, die Steine schnitt und ihnen Jahr für Jahr Substanz abnagte, jedes Mal nur ein klein wenig mehr, und auf diese geduldige Weise mit schier unaufhaltsamer Gleichförmigkeit seine eigene Landschaft formte, den Berg aufraute und ihn samt all der auf ihm wachsenden Gräser, Blumen und eben auch Bäume unter einer tiefen, scharfkantigen Kruste aus weiß, blau und violett schillernden Eiskristallen verbarg.
Aus welchem Grund der Mann sich bei jenen Bedingungen aus dem Haus gewagt hatte, was ihn trieb – es wird auf immerdar sein Geheimnis bleiben. Doch irgendwann musste er an einen Punkt gekommen sein, an dem der Hunger oder die Kälte, wohl aber beides, ihn trotz sich langsam anbahnender Vorzeichen überrascht hatten, und an dem es keine Aussicht auf eine schnelle, erfolgreiche Rückkehr mehr gab, und so schleppte er sich weiter, gepeinigt von schneidendem Wind und stechendem Hagel, auf der Suche nach einer Höhlung im Fels oder vielleicht nach einer leerstehenden Hütte, die ihn aufnehmen und wärmen könnte. Doch ganz offensichtlich, und das stellt die ganze schreckliche Tragik jenes schicksalsträchtigen Tages – sowohl für den Mann als auch für den Baum – dar, wurde er nicht fündig. Und als er sich die Bergspitze hinaufgearbeitet hatte, jeglichen Gefühls in den Fingern, Zehen oder dem zu einer roten Maske erstarrten Gesicht beraubt, blickte er auf der anderen Seite hinunter, wurde der auch hier endlosen blendenden Eisdecke gewahr – und resignierte.
Nicht nur körperlich hatte ihm der Winter gnadenlos zugesetzt, auch war sein Geist umnebelt, vor Kälte, Einsamkeit und Angst, und als er sah, dass keine Aussicht auf ein Entkommen aus jener frostigen Hölle bestand, da nahm er seine letzten, schnell ersterbenden Kräfte zusammen und kroch auf den sich schwarz im Schneegestöber abzeichnenden Baum zu, um sich still an ihn zu lehnen, mit Blick auf jenes Gebiet, in dem er seine Heimat vermutete, und schloss die Augen.
Der Tod war gütig, denn er kam milde und angenehm über ihn wie müde herbeigesehnter Schlaf, und in einer letzten Woge aus Wärme und Erleichterung deckte er ihn zu und nahm ihn mit sich fort. Das Leben war aus dem Manne gewichen, und als wolle er ihm eine letzte Ehre erweisen, deckte der Winter sein Opfer zu, zog langsam ein flockiges, weiches Leichentuch aus tanzenden Schneekristallen über die sterbliche Hülle des tapferen Menschen, der ihm bis zuletzt zu trotzen versucht hatte und nun doch den Kampf verloren hatte, den Kampf ums Leben.
Als die erstarkende Sonne des Frühlings, noch vorsichtig tastend, der winterlichen Tristesse zu Leibe rückte, ihr weißes Kleid allmählich zum Schmelzen brachte und so die Bäche, Flüsse, Ströme und Ozeane speiste, legte sie mit der Zeit die Gräser frei, die Bäume und Sträucher, und allesamt reckten sie sich empor, genossen die lang ersehnte Wärme und kamen wieder zu Kräften. So wich auch das abweisende Weiß, welches sich über den Berg und den Baum gelegt hatte, nach und nach frischem Grün, und erste Blumen brachen zaghaft durch das feuchte Erdreich. Frohlockend tirilierten die Drosseln und Nachtigallen, denn jetzt war Frühling.
Und mit der strahlenden Sonne taute nun auch die Leiche des Mannes, den ganzen Winter über sanft gefangen im Verlies der Kälte, und begann zu zerfallen. Ganz langsam gewann die Fäulnis die Oberhand und forderte ihren Tribut. Schrecklich anzusehen war es, ein trauriges Ende jenes unschuldigen Mannes, der nun unter beißendem Gestank seiner fleischlichen Hülle beraubt wurde, bloßgestellt durch die Macht der Natur. In Lappen hingen Haut und Fett von seinem Gesicht und gaben den Blick frei auf gelbliche, noch feuchte Wangenknochen. Und als die Maden von dem Körper Besitz ergriffen hatten und aus unzähligen offenen Stellen, Augenhöhlen und Gedärmen hervorbrachen, schien die Demütigung vollkommen. Keine üblere Schändung eines toten Menschen hätte man sich vorstellen können, und doch legte die Schöpfung – welch heuchlerischer Begriff angesichts dieses Dramas! – noch ein paar Briketts nach, als sie dem Toten schlussendlich, wie um ihn auf ewig zu peinigen, durch Wind und Wetter und räuberisches Getier seine letzte Zuflucht entriss, die fransigen Kleider von seinem Körper fetzte, die bis zum Schluss scheinbar pflichtbewusst seine Lenden, seine Scham verdeckt hatten.
Doch niemand war da, der Mitleid, Ekel oder Hass empfunden hätte, außer dem Baum, der dieses grausige Spektakel von Anfang an beobachtet hatte. Doch auch er hatte zu keinem Zeitpunkt Wut oder Angst verspürt; wie konnte er es auch wagen? Die Dinge kommen und gehen, Leben werden geschaffen und ebenso wieder vernichtet. So hatte es jene übergeordnete Macht eingerichtet, die niemand sah oder hörte, die aber ein jedes Wesen auf den Weiten dieser Welt kannte, die stets und ständig da war. Nicht nur hier oder dort, nein, vielmehr überall gleichzeitig formte jene höhere Präsenz, ohne innezuhalten und zu bewundern, was sie geschaffen oder zu beweinen, was sie ruiniert hatte. Sie bewegte sich auf einer Ebene, die keinen Platz für Gefühle bot.
Der Baum urteilte nicht. Er maßte es sich nicht an, sich aufgrund des sich direkt zu seinen Füßen abspielenden Geschehens ein negatives oder positives Bild der Schöpfung zu machen. Dazu war er auch nicht in der Lage, niemand vermochte dies. Und doch durchlebte er eine Wandlung, eine unbekannte Flut erschütternder Regungen wälzte in ihm heran, und irgendwann war er nicht mehr fähig, sie zurückzuhalten.
Unerwartet erleichtert kam er sich vor, als wäre der Korken einer unter Druck stehenden Flasche Schaumwein blitzartig entfernt worden, doch er konnte dieses Gefühl nicht einordnen. Bis heute hält er Wacht bei jenem Gebein, ohne sich dessen bewusst zu sein, was ihn dazu treibt.
Und wenn der Baum dies auch nicht begriff, nicht begreifen konnte, spielte er doch eine ungeheuer wichtige, noble Rolle; gemessen an der Bedeutsamkeit der ganzen Welt zwar unermesslich klein, doch für die Seele des Toten war seine Präsenz essenziell.
Er war, wenn man es so bezeichnen möchte, der Bürge des Mannes. Er hielt ihm die Tür zur Erlösung offen.
Denn noch war der Tote nicht völlig von der Welt verschwunden, noch hatte ihn die Unendlichkeit nicht geschluckt. An dem Tage, da der Mann dem Leben entschlummerte, dahinschied in der unbarmherzigen Kälte, da hatte sich ein Teil von ihm gelöst. Es war das Eigentliche, das ihn zu Lebzeiten zu einem atmenden, fühlenden Wesen gemacht hatte, ohne das er nichts gewesen wäre als eine nichtige Hülle, eine Marionette, deren Fäden durchgeschnitten, aufgegeben worden waren.
Es war seine Seele. Mochte das Herz auch aufgehört haben, zu schlagen, mochte den Lungen ein für alle Mal sämtlicher Odem entwichen sein, so bedeutete dies nicht den Tod der Seele. Vielmehr war es nun an der Zeit, eine neue Stufe zu erklimmen, sich auf ein höheres Niveau der Existenz zu erheben, die Reise anzutreten wie ein Vogel, den es nach einem langen und üppigen Sommer in den Süden zieht, weil es seine Bestimmung ist.
Und als also die Seele den Körper verließ, waren jene sterblichen Überreste des Mannes nicht mehr er selbst, sondern lediglich Erinnerung, Andenken an vergangene Zeiten, ein früheres Sein, das nun aufgegeben und entseelt war. Ein Haus, das von allen Bewohnern verlassen ward, und das doch Bestand hatte, Relikt einer lebendigen Ära, und das nun nach und nach zerfiel.
Doch wie auch die Bürger eines verlassenen Hauses nicht einfach vom Antlitz der Erde verschwinden, sondern weiterziehen, so war auch die Seele jenes Mannes noch da, ein unbestimmtes, helles Leuchten über seiner Leiche, das für einen kurzen Moment, die Dauer eines Atemzugs, verharrte und auf der Spitze des Berges weithin sichtbar als Mahnmal diente, wie ein Signalfeuer bis zum Horizont erstrahlte, als wolle es jedem mitteilen, dass es nun soweit sei, die Reise antrete.
Dann begab sie sich zielstrebig, unbeirrbar, auf den Weg. Anmutig und weich glitt sie durch die Luft, dicht über dem warmen Erdboden, und zog ein bewunderndes Wispern hinter sich her, wann immer sie über still daliegende Wiesen oder Felder strich.
Tage vergingen, und stetig strebte die Seele bestimmt in ein und dieselbe Richtung, bei Tage kaum mit dem Auge auszumachen, doch ganz sacht spürbar, und bei Nacht als gleißendes Funkeln, gleich einem fallenden Regentropfen, in dem sich die Lichter unzähliger Sterne brachen.
Und dann, nach Dutzenden von Tagen und Nächten, erreichte sie den Rand der Lebenden Lande, wo sie unvermittelt übergingen in eine unbegrenzte flache Landschaft, die sich zu allen Seiten schwarz bis zum düsteren Horizont hinzog, durchsetzt mit vereinzelten niedrigen, blattlosen Sträuchern und hartem Schilf, das aus einer alles bedeckenden, trüben Wasseroberfläche ragte. Doch obwohl die Ebene abweisend wirkte, das brackige Wasser erstickend und unergründlich, war dies das Ziel. Denn soweit das Auge reichte, gesetzt den Fall, jemand würde jemals sehenden Auges bis hierhin vordringen, war die Landschaft überzogen mit unzähligen winzigen, blau leuchtenden Punkten, Fackeln im Dunkeln, die dicht gedrängt über dem morastigen Wasser schwebten und beständig auf und ab glitten, pulsierend wie der unstete Flug des Kolibris. Dies war der Puls des Lebens und zugleich der Puls des Todes; der Puls des Seins. Denn was hier sich ausbreitete, flach und schwarz, und doch leuchtend, ähnlich den bösartigen Totensümpfen mit ihren finstren Irrlichtern, das war die Ebene der Seelen.
Und just in dem Moment, da die Seele des Mannes, der auf der Höhe des Berges im Eis starb, hinzustieß, sich zu all den anderen, ungeduldigen Seelen gesellte, da war es, als wäre ein finaler Tropfen in ein bis zum Rand gefülltes Fass gefallen. Auf einen Schlag nämlich lösten sich unsichtbare Bande, und die gesamte Ebene schien langsam aufzusteigen, als würde eine gewaltige Flut die Wasseroberfläche unaufhörlich anheben. Doch nicht die Ebene oder das Brackwasser hoben sich empor, sondern die Seelen; sie stiegen auf und schwebten gemeinsam empor, so wie sie nebeneinander geharrt hatten auf den Moment, der ihnen die Erlösung bringen sollte. Nun war dieser Moment gekommen, und alle zusammen flogen sie empor in die unfassbaren Weiten des nächtlichen Himmelszeltes, allen voran die Seele, deren Reise wir bis hierhin begleitet haben. Und, angekommen am Sternenbaldachin, der nächtens alles überspannte und alles überblickte, suchten sich die Seelen einen freien Platz und ließen sich dort nieder, und seitdem hängen sie am Himmel, wie sie vormals über der Ebene schwebten und wachen über die Welt, auf der sie einst wandelten.
Und jedes Mal, wenn die Sonne hinterm Horizont verschwindet und allmählich die Lichter am schwarzen Himmel aufleuchten, strahlt ein Stern besonders hell: die Seele jenes einsamen Mannes.
Und dann geht ein Schauder durch die Zweige des Baumes auf der Spitze des Berges, und die Blätter rascheln sanft, selbst wenn kein Wind weht. Er hat seine Aufgabe bestanden.
Ein kleines, rundes Blatt löst sich vom höchsten Zweig und segelt sanft hernieder, schaukelt hin und her wie ein behäbiges Schiff und legt sich schließlich leise und weich auf das entblößte Brustbein des Skeletts, dort, wo einst seine Seele gesessen hatte.
Eine letzte Geste des Wächters an seinen Schützling, der nun seinerseits droben am Nachthimmel wacht.