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Überarbeitet 10 / 2014
Kalt
Noel wacht morgens auf und findet, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist vier Uhr früh und es ist ungemütlich.
Heute muss er nicht zur Arbeit. Er führt ein ruhiges, sicheres Leben. Angehörige hat er keine, aber Nachbarn. Wenn er im Verkehr aufpasst, wird er über achtzig Jahre alt.
Er geht zur Heizung. Die Heizung läuft auf Hochtouren, trotzdem ist es kalt. Noel wundert sich und geht in die Küche. Kalt.
Draußen ist kein Nebel, und er fragt sich, ob es draußen warm ist. Er versucht, das Fenster zu öffnen, aber es lässt sich nicht öffnen. Nicht in diesem Zimmer und auch nicht in den anderen. Die Fenster sind wie festgeschweißt. Währenddessen wird es immer noch kälter. Seine Finger werden steif. Er zieht eine Jacke an, geht zum Telefon und wählt einige Nummern. Irgendwelche, denn er kennt niemanden. Es geht auch niemand ran..
Dann geht er durch die offene Tür hinaus und wundert sich, denn es ist still. Und eisig. Kein Auto fährt. Keine Menschen sind auf der Straße. So ist Noel allein mit dem Beton, gerade jetzt, wo er Hilfe braucht. Die Kälte wird zu Reif auf seinen Kleidern, dringt ein. Die Haut zieht sich zusammen, doch er friert noch mehr. Er sieht auf seine Uhr: elf nach vier. Die Stadtuhr zeigt: Punkt vier.
Sein Atem klirrt. Er läutet bei einem Nachbarn. Keiner öffnet.
Auch um Viertel nach vier zeigt die Stadtuhr vier Uhr an. Noel ruft mehrfach ‹Hallo›, doch niemand antwortet.
Er bewegt sich, um Wärme zu erzeugen. Er hüpft eine Minute auf und ab, dann hört er wieder auf.
Um vier Uhr zwanzig geht er los und erreicht den nächsten Stadtteil um vier Uhr zweiundvierzig. Er sieht sich um, doch nichts bewegt sich und es ist nichts zu hören. Seine Augen tränen, seine Füße sind kalt wie zwei große, gefrorene Steine.
Um fünf Uhr sieht er auf einer Parkbank Menschen sitzen. Sie atmen nicht mehr, aber kalt sind sie nicht.
Die Fahrzeuge auf der Straße bewegen sich nicht. Sie wirken wie stehen gelassen. Innen sitzen aber Tote.
Die Kälte wird arg, er weiß nicht mehr, was er tun soll. Er geht in den Park zurück. Kein Wind geht, die Bäume sind still. Seine Schritte werden kürzer. Er hat keine Zeit mehr, er wird erfrieren. Um sieben Uhr weiß er das.
Da steht ein Polizist auf dem Weg, starr, als wäre er im Gehen erfroren, mit erhobenen Armen und einer Miene, die sagt: "Tu es nicht!" Fünf Meter vor ihm ist eine Frau – mit einer kleinen Pistole auf die eigene Schläfe gerichtet. Sie hat geschossen. Die Kugel, noch im erstarrten Mündungsfeuer, hat sich knapp zwei Millimeter in die Haut gebohrt und ist stecken geblieben.
Noel geht durch die Kälte zur Frau, nimmt die Kugel, betrachtet sie kurz und lässt sie zu Boden fallen.
Er weiß nicht, wie spät es ist, und hat begonnen, zu erfrieren.
Seine Hände und Füße sind weg.
Auf einer Parkbank sitzt ein Spatz. Noel nimmt ihn. Setzt ihn auf den Boden wie ein Holzspielzeug. Legt sich anschließend auf die Bank, krümmt sich und stirbt.
*
Nach seinem Tod, nur eine zehntel Sekunde danach, wird es ohne Übergang tropisch heiß und innerhalb von Monaten ist Noel verwest. Nach hundert mal hundert Jahren sitzt der Spatz noch an derselben Stelle, aber von Noel sind selbst die Knochen verschwunden.
*
Danach war ein Rauschen zu hören, die Luft war voller Geräusche, der Wind, die Straße, ein Gebell. Der Spatz flog auf, verwirrt.
Ein Mieter des Hauses 34 blieb verschollen. Nichts erklärte sein Verschwinden und er blieb verschwunden. Hatte er das Land verlassen? Er hatte jedenfalls nichts mitgenommen. Nur vier Tage später spielte das bereits keine Rolle mehr.
Bei Schulzes klingelte frühmorgens das Telefon, aber niemand war dran, als Frau Schulze den Hörer abnahm. Frau Wober hörte jemanden mehrmals ‹Hallo!› rufen, entdeckte aber niemanden.
In den Boulevardzeitungen war anderntags von einem Wunder die Rede. Eine Frau hatte, in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, eine kleinkalibrige Waffe auf ihre Schläfe abgefeuert. Die Kugel war aber von der Schläfe abgeprallt und auf den Boden gefallen.