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- 04.03.2018
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K
Früher war er oft hier gewesen am Fuß der Kastanie, auch mit der, deren Namen er nicht mehr denken mochte. Die Kastanie stand auf einer schmalen Lichtung, nur ein Pfad führte zu einem Hochsitz, an dessen Gestänge jetzt Moose und Pilze fraßen. Noch war die Verbuschung nicht weit vorangeschritten und überließ hüfthohem Graswuchs den Vorrang. Der Baum hatte schwere Äste in die Breite gedrückt und schon damals den Freiraum darüber mit ausuferndem Blattwerk gefüllt.
Er dachte an das Herz, das er an jenem Sommertag in die Rinde gekerbt hatte, mit seinem Anfangsbuchstaben und ihrem K darin. Das Taschenmesser hatte Blasen in seiner Hand hinterlassen, die er mit den Zähnen aufgekaut hatte.
Gelacht hatte sie, war ihm mit den Fingerspitzen über die Handfläche gefahren und hatte ihn geküsst. Das Blätterdach sank bis aufs Gras, sie waren ungestört gewesen.
Sie öffnete die Lippen und drückte ihre Zunge an seine Lippen, bis er erwiderte. Damit hörte sie auf, als er eine zitternde Hand unter ihren Rock wandern ließ. Vorsichtig strichen seine Finger über die Knie und die Innenseite ihrer Schenkel. Sie ließ es geschehen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. An ihrem Atem merkte er, dass es ihr gefiel. Bald kniete er sich hin, beugte den Kopf und tauchte zwischen ihre Beine. Sachte forschte er, drückte sie mit dem Kinn, spürte ihre Wärme. Er küsste die weiche Haut ihrer Oberschenkel und die Falten ihrer Hüfte unter den Bändern ihres Slips. Sie öffnete die Beine. Als seine Zunge über ihre Scham glitt, stöhnte sie leise und kippte das Becken nach vorne. Ihr Duft weckte eine Gier in ihm, die ebenso neu war wie das, was er vor sich sah. Er richtete sich auf, legte seine Hände um ihre Hüfte und drückte das harte Vorderteil seiner Hose zwischen ihre Beine.
Schon als er es tat, ahnte er, er war zu weit gegangen. Sie stieß ihn weg, stand auf und strich ihren Rock glatt. Obwohl er eine Entschuldigung stammelte, kniff sie die Lippen zusammen und schlug ihn auf die Wange. Ruhig stieg sie auf ihr Fahrrad und fuhr los, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Zurück blieb das Herz in der Baumrinde und eine Taubheit, die ihn nicht mehr verließ. Saft quoll aus der Rinde hervor und erinnerte ihn an das Wundwasser nässender Sommerknie. Er wartete, bis das Herz angetrocknet war, dann fuhr er die grobe Kontur mit der Fingerspitze ab, stoppte bei dem Plus, zog die Kuppe über den senkrechten Strich und folgte dem waagerechten bis zu ihrem Buchstaben. Mit dem Fingernagel ging er unter den Rand des K, um die Rinde abzuheben und die Kerben unkenntlich zu machen. Als er fand, es sei undeutlich genug, verließ er den Wald und kehrte erst sieben Jahre später zurück.
Er folgte dem Weg, der ihn zur Kastanie bringen würde, damals wie heute eine mächtige Schönheit, deren Krone ihre Nachbarn weit überragte. Unverrückbar standen die Bäume an ihrem Platz wie Wahrheiten, die nicht angezweifelt werden. Der Gedanke gefiel ihm, schon als er in dem dünnen Waldführer darauf gestoßen war, weil es diese Art Wahrheiten in seinem sonstigen Leben nicht gab.
Was ihn anfangs zurückbrachte, konnte er nicht sagen, er spürte, der Wald tat ihm gut. Bei seinen bald täglichen Besuchen begann er, die Wege zu verlassen und tiefer in den Wald zu dringen. Sein Blick wanderte die Stämme hoch und suchte zwischen den vielen Blättern nach dem einen besonderen. Es wurde ihm klar, er war auf der Suche nach etwas, das er dort verloren hatte. Das Herz hatte er schnell gefunden und mit ihm einen Teil desjenigen, der er früher gewesen war.
Er begann, den Müll entlang der Wege einzusammeln und in Plastiktüten zu stopfen, die er mitbrachte und auf dem Rückweg in den Container am Tennisheim warf. Dosen, feuchtes Toilettenpapier, Kronkorken und Zigarettenstummel aus dem Wald zu holen, gab ihm eine stille Befriedigung.
Als die Wege abgesucht waren, ging er tiefer ins Unterholz, scharrte mit Händen und Füßen unter dem Laub, zog jahrealte Plastiktüten und Flaschen aus dem weichen Boden und freute sich über jeden gefüllten Beutel, den er aus dem Wald trug.
Wenn er am Ende des Tages zum Tennisheim ging, standen sie dort in rosigen Polohemden an Stehtischen unter Sonnenschirmen mit bayrischer Bierwerbung. Beim ersten Mal riefen sie ihm zu, was denn das nun werde? Er zeigte auf den Beutel und antwortete: … aus dem Wald. Dabei zog er die Schultern hoch. Langsam öffnete er den Deckel und legte die Tüte in den Container. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen.
Einer von ihnen reckte den Daumen hoch, die übrigen schüttelten die Köpfe, grinsten und prosteten sich zu. Die nächsten Abende nickten sie ihm zu, einer legte zwei Finger an die Stirn.
Er wischte sich die zotteligen Haare aus dem Gesicht und grüßte zurück, sofern das, was aus seinem Bart drang, als menschliche Äußerung durchgehen konnte. Hinter seinem Rücken runzelten sie sonnengebräunte Stirnen und flüsterten komischer Kauz. Es störte ihn nicht, solange sie ihn gewähren ließen. Auf eine für ihn verdrehte Art und Weise schienen sie zu schätzen, was er tat.
Nachdem er allen Müll aus dem Wald herausgesucht hatte, begann er, tote Zweige, die gesunde Sprösslinge zu Boden drückten, herunterzuheben und ins Unterholz zu schichten. Die Baumtriebe richteten sich sogleich auf und es dauerte nicht lange, da hatten sie ihre Blätter wieder zum Licht hin ausgerichtet. Die neuen Blätter nahm er zwischen Daumen und Zeigefinger und befreite sie von der Knospenhülle, streichelte mit der flachen Hand über das weiche Grün, als wäre es der Kopf eines Kindes.
Er las Bücher über Flora und Fauna des heimischen Waldes, lernte Insekten zu unterscheiden, Bäume zu bestimmen und aus den Fährten zu erkennen, welche Nager und welches Rotwild ihre Spuren hinterließen.
Bäume kommunizierten miteinander, las er dort und wahrlich fühlte er sich vom Wald willkommen geheißen, sobald er ihn betrat. Aus dem Rascheln der Blätter hörte er geflüsterte Grüße, so zart und flüchtig, dass er sie nicht greifen konnte. Er antwortete, indem er höfliche Formeln murmelte und dazu den Kopf nach rechts und links beugte.
Immer wieder kehrte er zu der Kastanie zurück, nach Jahren der Abwesenheit war der Baum ins Zentrum seines Daseins gerückt. Die Ruhe und die Schlichtheit des Wesens beeindruckten ihn, ebenso die enorme Standhaftigkeit und Größe. Es gab so vieles, was die Kastanie ihn lehrte, vor allem innere Haltung und Genügsamkeit. Sie war einfach da und blieb, wer sie war, ohne den Versuch, mehr zu erscheinen.
Auf einem geraden Stück Weg übte er den festen, sicheren Gang, hielt seinen Körper aufrecht und reckte die Arme wie Äste in die Luft. Der Kastanie näherte er sich vorsichtig und langsam, doch mit festem Schritt.
Das Herz, das er in einem lang vergangenen Leben in den Stamm geschnitzt hatte, war gewachsen. Die Kastanie hatte sich Mühe gegeben, die Wunde in ihrer Außenhaut zu überwalmen. Aus ihrem unkenntlich gewordenen Buchstaben war etwas Neues erwachsen. Ein ominöses Geheimzeichen, das er nicht zu entschlüsseln vermochte. Manche Dinge stachen schärfer betont hervor, andere traten in den Hintergrund. Wenn er blinzelte, was er bei grellem Licht zunehmend tat, sah er in den beiden aufrechten Herzbögen die Brust einer jungen Frau. Er konnte nicht verhehlen, dass ihn diese Momente berührten. Sie berührten ihn auf eine andere Art als die Erhabenheit des Baumes. Er dachte an eine Hand, die unter einen Rock wandert, und fühlte Regungen, die fordernd, jedoch nicht direkt unangenehm zu nennen waren.
Als er dieses Mal an den Stamm trat, spürte er, etwas war anders – als hätte eine Knospe ihre Spitze geöffnet und würde nun Frühlingsduft verströmen.
Durch das Blätterdach drang ein dunstig-mildes Zwielicht, das die Kontur der Rundungen glättete und bernsteinfarben erglühen ließ. Möglicherweise lag es an diesem Licht und seinen Effekten, dass er den Baum und seine gefurchte Borke anders sah als jemals zuvor. Flechten und Risse wirkten mit einem Mal wie ein gemustertes Kleid, das sich um die Lenden einer Frau schmiegt.
Das Herz hatte sich wulstig nach außen gedrückt, es wölbte sich unwiderstehlich aus dem Stamm, geschwollenen Brüsten gleich, die sich ihm darboten. Dort, wo das Herz in die mittige Spitze sank, war die Wulst besonders ausgeprägt, sie reckte sich ihm V-förmig entgegen, einladend und nahezu obszön.
Er drückte seinen kratzigen Bart auf den Wulst und schmeckte die herbe Rinde. Als er seine Zunge entlang der Mittelfurche des Herzens zog, nahm ihm der Geruch beinahe die Sinne. War es Einbildung oder erzitterte die Kastanie unter seiner Liebkosung? Er konnte nicht aufhören mit dem, was er tat, das Rascheln der Blätter erschien ihm mit einem Mal rhythmisch.
Endlich fand er eine Möglichkeit, dem einzigen Wesen, das ihm etwas bedeutete, nahezukommen. So nahe, wie sich Individuen nur kommen können. Der Zauber des Moments sollte nicht enden und so tat er alles, um die Verbindung nicht zu verlieren.
Wie im Rausch entledigte er sich seiner Kleider und drückte den Körper an den Stamm. Die Berührung der rauen Borke führte auf seiner nackten Haut zu einem Reigen wohlig schmerzhafter Reize, als würde sein Körper von einem niedergehenden Funkenregen überzogen.
Endlich vollführte er die Vereinigung mit diesem bewundernswerten Wesen, nach dem er sich in seinem tiefsten Inneren gesehnt hatte. Vorsichtig rieb er seine Körpermitte am kühlen Stamm und bedachte das Herz mit weiteren sanften Küssen. Er wusste, es brauchte nicht viel, um diesen intimen Kontakt zu einem Ende zu führen und befreit von allen Fesseln seines bisherigen Daseins ließ er es geschehen.
Wind fuhr in die Baumkronen ringsum und ließ sie heftig aufrauschen. Ermattet sank er am Fuß des Baumes nieder. Es dauerte einige Atemzüge, bevor er verstand, was mit ihnen geschehen war.
Nie zuvor hatte er seinen Körper derart intensiv gespürt und niemals war die Berührung eines anderen Wesens derart erfüllend gewesen. Da war etwas zwischen ihnen, etwas Gewaltiges, das vorher schon schlummerte, doch der intime Kontakt hatte es hervorgebracht. Dunkel erinnerte er sich an die Verliebtheit, die er einst gespürt hatte, doch hier und jetzt war es anders. Eine Gewissheit nahm Platz in seinem Bewusstsein. Die Kastanie würde ihn nicht enttäuschen.
Er nahm sich Zeit, weil er wusste, wie schnell Liebe zerbrechen konnte, wenn er zu forsch vorging. Alles in ihm verlangte nach einer zeitnahen Wiederholung, doch auch seine wundgescheuerte Zungenspitze und andere Überempfindlichkeiten zeigten ihm: Als schwacher Mensch musste er sich behutsam an diese besondere Form der Liebe gewöhnen. Er fand nicht, dass daran etwas falsch war, doch es erforderte gewisse Gewöhnungen und Umstellungen. Während dieses kleine Pflänzchen in ihm wuchs, hatte er ausreichend Zeit, sich weiter um den Wald zu kümmern.
Um die größeren Äste, die quer lagen, in kleinere Abschnitte zu sägen, stahl er die Bügelsäge seines Nachbarn aus der gemeinsam genutzten Garage. Er sägte so lange er vermochte, bis er vor Schmerz den Arm sinken lassen musste. Dennoch mochte er die harte Arbeit und das Gefühl, etwas zu bewirken. Es fühlte sich an wie Körperpflege, wie das Entfernen einzelner borstiger Haare oder das Schneiden von Fingernägeln – beides Tätigkeiten, die er an sich selbst nicht mehr ausführte, weil er sie als nicht mehr nötig erachtete.
Vor Wochen hatte er Geldbörse und Telefon auf den Esstisch gelegt, war der Arbeit ferngeblieben und hatte nicht mehr in seiner Wohnung genächtigt. Er wusste, diese Art Leben lag hinter ihm, es bestand nur aus grauer Bedeutungslosigkeit. Bei seinem letzten Besuch ließ er den Schlüsselbund auf der Garagentür stecken, er würde ihn nicht mehr benötigen.
Mit den Abschnitten der Äste blockierte er etwas entfernt den Weg, der in diesen Teil des Waldes führte, indem er sie zu einem Haufen auftürmte und mit allerlei stacheligem Gestrüpp bedeckte. Zusätzlich schob er Laub auf den Weg und verdeckte ihn, so gut es ging. Auch die Markierungen des Wanderwegs schabte er von den Stämmen und malte woanders neue. Er fand es erstaunlich, wie aufgeräumt und doch erfrischend natürlich der Wald danach auf ihn wirkte.
Mittlerweile konnte er die feinen Gerüche des Waldes unterscheiden, roch die Botenstoffe der Bäume, unterschied Zufriedenheit und Verlangen, aber auch Durst und Alarm. Seine Ernährung hatte er gänzlich umgestellt auf Beeren, aber auch Insekten, die über die Baumrinde liefen und nach einem wunden Punkt suchten, um in die Rinde einzudringen. Gerne folgte er den Hilferufen der Bäume. Es hatte etwas von Lausen, fand er. Der Gedanke gefiel ihm und brachte ihn zum Schmunzeln. Die Bäume dankten ihm die Pflege mit Zuckerwasser, das sie aus den Blättern tropfen ließen, er musste nur den Mund darunter halten.
Symbiose las er in einem seiner Bücher, dem schimmelgrünen mit dem abgegriffenen Einband, mit dem er einst Fliegen totschlug bevor er anfing, sie zu essen. Zusammenleben zum gegenseitigen Nutzen. Er wusste, der Baum stand in Kontakt mit seinen Artgenossen und sein Wurzelwerk bildete mit dem Pilzgeflecht im Waldboden ebenfalls eine Symbiose. Diese Verbindung spürte er auch, wenn er die Zehen ins Laub grub, und sie war sinnvoll und wichtig. Doch an die tiefe Liebe, die ihn mit der Kastanie verband, konnte der Austausch im Wurzelwerk nicht heranreichen. Was sie verband, ging weit über eine Zweckgemeinschaft hinaus.
Mittagssonne brach sich den Weg durch das Blätterdach, tauchte das goldbraune Laub in Sprenkel gleißender Helligkeit. Ein Strahl fand den Weg vorbei an Ästen und Blattwerk und tunkte das Herz in der Kastanienrinde in warmes Himmelslicht. Wieder meinte er, es schwelle ihm entgegen, schmatze nahezu sehnsüchtig nach der Berührung seiner Zungenspitze. Länger schon und vor allem dauerhaft hatte er die Kleider abgelegt und mit ihnen alle Scham. Niemand war anwesend, der an seinem aufrechtstehenden Gemächt Anstoß genommen hätte oder daran, dass er sich an den Baum klammerte und die eine Stelle mit Küssen überdeckte, während er sich rhythmisch bewegte.
Heute war das Herz besonders gierig, wie ihm der eifrige Fluss des Baumsaftes verriet. Er hatte sich angewöhnt, schmutzige Dinge zu seiner Liebsten zu sagen, während er es tat. Und es schien ihr zu gefallen, wie er an den Säften spürte, die durch die Bastschicht schossen. Er roch den Kohlenstoff, der vom Baumwipfel zu den feinsten Wurzeln transportiert wurde, dort das symbiotische Pilzgeflecht speiste, das sich mit Nährstoffen revanchierte. Alles, was seiner Kastanie guttat, tat auch ihm gut. Und doch konnte es mit dem Kochen der Säfte, die er dem Baum durch seine Zuwendung bescherte, keinesfalls wetteifern.
Sein Schnäuzer und Kinnbart waren bretthart geworden vom getrockneten Baumsaft, wodurch es um einiges leichter wurde, seinen Mund an der aufgeworfenen Rinde zu platzieren und längere Zeit die Position zu halten.
Mit zunehmender Übung wuchs auch die Tiefe der gegenseitigen Befriedigung, das spürte er deutlich. Es war wie in einer guten Ehe und wie ein liebevoller Ehemann wich er fortan nicht mehr von ihrer Seite und las jeden Wunsch von den Lippen ab. Sein großes Vorbild waren zwei Bäume etwas den Taleinschnitt hinab, Buche und Kiefer. Sie wuchsen eng umschlungen, stützten sich gegenseitig, tranken dasselbe Wasser, teilten Wurzelgeflecht und Nährstoffe und waren glücklich miteinander. Sie würden gemeinsam altern und sterben, zu Boden sinken und verfallen. Mit allem, was sie jemals gewesen waren, würden sie ihrem Nachwuchs den Boden bereiten, ihn füttern, nähren und die Zukunft bereiten.
Wenn er nicht gerade aufräumte, die Vereinigung vollzog oder den Stamm nach Insekten absuchte, umarmte er den Stamm und grub seine Zehen in die Erde. Dort prüfte er den vom mächtigen Wurzelwerk durchzogenen Nährboden, dessen Ströme ein aufregendes Kribbeln in seine Fußsohlen aufsteigen ließ. Gesund, dachte er und lächelte, es fehlte ihnen an nichts.
Mit den ersten Herbststürmen fielen stachelige Kastanien auf den Waldboden. Aus denen, die aufplatzten, kullerten glänzende dunkelbraune Kugeln. Er freute sich über die Frucht seiner Lenden, sammelte händeweise ihrer gemeinsamen Nachkömmlinge und vergrub sie im ganzen Wald an vielversprechenden Stellen. Besonders geeignet erschienen ihm Lichtungen in Nähe von Wasseradern, die er unter der Humusschicht im Mineralboden wahrnahm.
Als die Blätter fielen und die Nächte kühler wurden, schmiegte er sich an den Stamm und half der Kastanie, zur Ruhe zu kommen. Der Baum dankte es ihm mit liebevoller Zuwendung und warf seine Blätter ab, mit denen er sich fortan nachts bedeckte. Er spürte das Ende des Wachstumszyklus, die Natur bereitete sich auf den nahenden Winter vor.
Von seiner einstigen Leibesfülle war ihm nicht viel geblieben. Mit jedem Tag verlor er mehr seiner Kraft und der andauernde Herbstregen ließ ihn ausgemergelt und zitternd zurück. Zugleich wusste er, wie wichtig Regen und Kälte für die Regeneration des Waldes und seinen Fortbestand waren und an diesem Ziel hatte er eifrig mitgewirkt.
Aus seiner Erschöpfung wuchs der Wunsch zu schlafen. Er hatte alles erlebt und getan, was einen Menschen ausmacht, hatte Liebe und Gemeinschaft erfahren, Leben gezeugt und für reichlich Nachkommen gesorgt. Sein Lebenswerk war vollbracht, nun war es an der Zeit loszulassen. Er schmiegte sich an den rauen Stamm und küsste ein letztes Mal das Zeichen, das in einem anderen Leben einmal ein K gewesen war.
Im nächsten Frühjahr sprossen auf vielen Lichtungen und Kahlstellen zarte Kastanienkeime aus dunkelbraunen Samen. Sie wanden sich wie weißliche Würmer aus der Frucht, reckten ihre Spitzen der Sonne entgegen und schlugen ihre feinen Wurzeln in den feuchten Waldboden, wo sie vom Pilzgeflecht begrüßt wurden, mit dem sie sich sogleich verwoben.
Am Fuße der mächtigen Kastanie lag ein Skelett, sauber abgefressen von allerlei Maden, Gewürm und Mikroorganismen. Friedlich lag es dort, zusammengekauert wie ein Embryo, eingesunken in ein Polster aus braunem, nassem Laub. Die Fingernägel waren lang, die Haare auf dem kahlen Schädel zottelig und die Zähne bleckten ein versonnenes Lächeln.
Aus der Erde am Grund des Brustkorbs begrüßten Winterlinge die Wärme des jungen Jahres mit leuchtend gelben Blüten, aus deren Anordnung sich ein Buchstabe ergab, ein kraftvoll geschwungenes K.