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Kälteschlaf
„Doctor Jones muss weg“, sagt Nadia. „Heute noch. Mir egal, wie du das anstellst.“
Die Kälte, mit der sie das sagt, lässt mich buchstäblich vor dem Telefonhörer zurückweichen. Dann setzt zuverlässig die innere Stimme ein, die Nadia verteidigt. Selbstschutz, ist doch klar. Letztlich geht es ja um ihr Leben, Jones würde sie glatt umbringen. Sie oder er, was soll man da machen?
Dabei hat sie ihn doch auch einmal geliebt.
*
Alien war der erste Film, den wir damals in der winzigen Zweizimmerwohnung sahen, in die wir nach knapp drei Monaten Beziehung gezogen waren. O-Ton, Director's Cut – klar, als Studenten zählten wir uns zur intellektuellen Elite. Zum Einzug hatten wir uns selbst die Tetralogie auf DVD geschenkt, Blu-ray und HD-Fernsehen waren damals noch nicht erschwinglich, jedenfalls für uns. Während Sigourney Weaver von dem außerirdischen Biest durch die Gänge der Nostromo gehetzt wurde, lehnte Nadia in meinem Arm, die Beine unter den Körper gezogen. Statt an den gruseligen Stellen ihr Gesicht in meiner Brust zu vergraben, wie es andere vor ihr getan hatten, erklärte sie mir die Bildästhetik von Ridley Scott und H. R. Giger, bis ich leicht genervt ihren Mund mit meinem verschloss und ihr das Weinglas aus der Hand nahm. Das Alien fand gerade sein drittes Opfer, als wir, bereits halbnackt, zum Bett wechselten. Dass wir nur selten hollywoodreif zur selben Zeit kamen, störte uns nicht, ich hatte ja noch zehn gesunde Finger. Wir saßen rechtzeitig wieder auf der Couch, nun endlich schweigend, als Lieutenant Ripley das Monster endgültig erlegte und sich gemeinsam mit dem zweiten überlebenden Crewmitglied für den Kälteschlaf bereitmachte: mit dem Kater Jones.
Am nächsten Morgen waren wir uns einig, dass auch wir eine Katze mit diesem Namen haben wollten. Der Doctor schlich sich erst später dazu, weil unser Jones – der in seinen schwarz-weißen Kuhflecken wenig Ähnlichkeit mit seinem rotgetigerten Filmvetter hat – so einen weisen, leicht entrückten Blick aufsetzt, wenn er uns von der Fensterbank aus beobachtet. Beim Kochen; beim Debattieren; beim Lieben. Beim Streiten.
„What's up, Doc?“ Ich grinse ihn freudlos an, nachdem ich das Telefon weggelegt habe. „Wir müssen uns nach einer neuen Bleibe für dich umsehen, mein Junge.“ Er hat mich das ganze Gespräch lang mit seinem unnachahmlichen Blick angesehen, als würde er mich analysieren. Auf jeden Fall versteht er, wenn man seinen Namen nennt.
Wohin mit ihm? Ich bin der Frage zu lange aus dem Weg gegangen, hätte mir längst eine Lösung überlegen müssen. Jetzt bin ich in Zeitdruck, und das macht es nicht leichter.
Bei Nadias ersten Niesanfällen hatten wir noch gewitzelt: Katzenhaarallergie, haar-haar! Doch die Schnelligkeit, in der sie sich über verstopfte Nase und Hustenattacken bis zum ausgewachsenen Asthma steigerte, war nach Ansicht des Allergologen rekordverdächtig, und das Lachen verging uns. Die Batterie von Tests, die Nadia durchlief, brachte wie üblich keine eindeutigen Ergebnisse, Tierhaare waren nur eine von mehreren Möglichkeiten. Als der Arzt das Wort „psychosomatisch“ ins Spiel brachte, ging Nadia an die Decke. Für sie war das gleichbedeutend mit „Hypochonder“, „Münchhausen-Syndrom“ und „Klapsmühle“ – völlig indiskutabel.
So oder so war uns längst klar, dass es tatsächlich am Kater lag, zum Handeln konnte ich mich trotzdem nicht überwinden. Bis Nadia vorgestern fast gestorben wäre.
Ins Tierheim bringen oder gar aussetzen könnte ich ihn nie. Umbringen ist nicht mal einen Gedanken wert. Ihn in die viel zitierten „liebevollen Hände“ abzugeben, wäre die einzig realistische Option. Natürlich nicht so kurzfristig, da hätte ich mich eher kümmern müssen. Hätte, sollte, müsste. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, sagt mir sein Blick. „Vergiss es“, raunze ich ihn an, erschrocken reißt er die Augen auf, als ich seine Futtervorräte in einen Karton feuere. „Wer verlässt denn bitte seine Frau für eine Katze? Das steht doch in keinem Verhältnis.“
Der Eigensinn der Katzen ist sprichwörtlich, und Doctor Jones hat uns niemals verraten, warum er irgendwann nicht mehr zu Nadia auf den Schoß sprang, sondern nur noch zu mir. Von ihr nimmt er gerade noch gnädig das Futter entgegen, aber natürlich lässt er sich damit nicht seine Zuneigung abkaufen, er ist schließlich kein Hund. Irgendwann gab sie es auf, und seitdem ist Jones nicht mehr unsere, sondern meine Katze.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie das mit Absicht macht“, sage ich zu Jones, während ich sein Katzenklo leere, um es einzupacken. Er trägt jetzt wieder seinen Akademikerblick. „Ein Asthma entwickeln, um dich aus dem Haus zu treiben? Jetzt hör aber auf. Nadia ist einfach krank, so was soll vorkommen.“ Jones blinzelt. „Körperlich krank“, setze ich hinzu.
Als wir beide unser Studium fast zeitgleich beendet hatten, fand ich sofort einen gut dotierten Job, Ingenieure mit Programmierkenntnissen waren als Seiteneinsteiger in der IT-Branche heiß begehrt. Nadia entschied sich, noch ein Promotionsstudium anzuhängen, weil sie sich als Kunsthistorikerin von einem Doktortitel bessere Berufschancen versprach. Ich zog das nie in Zweifel, unterstützte sie ohne Zögern, Geld brachte ich ja genug nach Hause, und wir waren uns immer einig, dass materieller Wohlstand sowieso nicht das Wichtigste war. Nur in gedankenlosem Scherz sagte ich einmal, sie könne wohl hinter einer promovierten Katze nicht zurückstecken. Nadia ging wortlos aus dem Zimmer, ich sah, wie sie mit den Tränen kämpfte. Ich habe nie gewagt, den Vorfall wieder anzusprechen, nicht einmal, um mich zu entschuldigen.
Die Katze. Jean Gabin und Simone Signoret. Soll auch toll sein, aber mit französischem Kino konnte ich noch nie viel anfangen. Für den O-Ton reicht es da bei mir nicht, und in der Synchronfassung klingen die Dialoge meistens irgendwie gestelzt. Jedenfalls kenne ich von diesem Film nur die Inhaltsangabe aus der Fernsehzeitschrift: ein altes, verbittertes Ehepaar; er liebt die Katze abgöttisch, sie ist eifersüchtig – mit irgendwelchen dramatischen Folgen. Warum kommt mir das jetzt in den Sinn? Nadia und ich sind erst Anfang dreißig, als verbittert würde uns wohl niemand beschreiben, und ein Psychodrama findet hier auch nicht statt.
„Natürlich ist bei uns nicht alles Gold, was erwartest du nach ... warte mal ... insgesamt acht Jahren? Ist doch völlig normal, dass sich da ein bisschen Routine breitmacht, ein paar Konflikte anfallen.“ Jones schaut mich nur an, als wolle er mich zum Weiterreden auffordern. Wir haben nie geklärt, welche Art von Doktor er wohl sein könnte, aber Psychiater wäre naheliegend. „Jedes Ehepaar streitet über irgendwas. Ob es nun Katzenhaare sind oder Geld oder Tapeten oder Politik. Deswegen verlässt man doch nicht seine Frau, schon gar nicht, wenn sie gerade eine schwere Krankheit durchmacht.“
Dabei wollten wir so vieles besser machen als unsere Altvorderen. Jedenfalls anders als Nadias Eltern, die unsere Hochzeitsfeier ruiniert hatten, indem sie sich mit den neuen Partnern des jeweils anderen lautstark über die Scheidungsgründe austauschten. Nicht, dass meine eigenen Eltern viel besser gewesen wären, als sie Nadias Familie ob ihrer Herkunft mit Nichtachtung straften. Unsere Hochzeitsnacht bestand in einem erschöpften Schlaf, nachdem wir einander geschworen hatten, unseren eigenen Kindern niemals so etwas anzutun.
Erst gar keine zu bekommen, war nicht die Lösung, die ich dafür im Sinn hatte. Doch Nadia wusste viele Gründe: Wir waren noch mitten im Studium. Sie fühlte sich einfach noch nicht bereit. Die Welt war so unsicher. Katzen könnten ein Ungeborenes mit Toxoplasmose gefährden. Die Aktivitäten, bei denen wir überhaupt ein Kind zeugen könnten, sind ohnehin längst auf nahezu Null reduziert, dafür hat es die Asthmaschübe nicht gebraucht.
Nadias letzter Anfall kam aus dem Nichts, eigentlich war ihre Medikation gut eingestellt, den Inhalator brauchte sie so selten, dass sie manchmal vergaß, wo sie ihn hingelegt hatte. Als ich sie auf dem Wohnzimmerteppich fand, konnte sie mir schon nicht mehr sagen, wo ich suchen musste, und bis ich das Ding gefunden hatte, war sie so dunkelblau angelaufen wie die Figuren in den Cartoons, über die wir früher zusammen gelacht hatten. Die Ärzte bestanden darauf, sie ein paar Nächte zur Beobachtung in der Klinik zu behalten. Und ich versuche nun planlos, ihre Rückkehr nach Hause vorzubereiten.
Jetzt habe ich alles im Auto. Kratzbaum, Schlafkorb, Katzenklo, Futtervorräte, Spielzeuge und jede Menge weiteren Kram. Die Rückbank musste ich umklappen, mir war nicht bewusst, dass so ein kleines Fellknäuel so viel Zeug braucht. Irgendwie ist mein Rollkoffer mit in das Gepäck geraten, den ich sonst immer für Dienstreisen benutze. Da passen genug Sachen für eine Arbeitswoche hinein.
Ich setze Doctor Jones in seiner Transportbox auf den Beifahrersitz und wir fahren los. Wohin, weiß ich immer noch nicht. „Kälteschlaf, Jonesy“, sage ich zu ihm. „Das wär's jetzt. Und dann einfach warten, bis ein Rettungsteam uns findet.“
*
Als ich nach Hause zurückkehre, packe ich als Erstes meinen Koffer wieder aus. Dann habe ich noch drei Stunden Zeit, bevor Nadia aus der Klinik kommt; natürlich mit dem Bus, um nicht in meinem katzenverseuchten Auto mitfahren zu müssen. Bis dahin sollten zumindest aus dem Haus möglichst alle Tierhaare beseitigt sein. Ein Ding der Unmöglichkeit, aber vielleicht reichen ja neunzig Prozent, unterstützt durch Nadias Überzeugung, dass sie nun vor der pelzigen Gefahr sicher ist.
„Hallo Schatz“, werde ich sagen, „ich bin froh, dass du wieder zuhause bist.“ Danach werde ich uns ein gutes Essen zubereiten, wir werden uns mit einem Glas Wein auf die Couch setzen und vielleicht etwas fernsehen. Und dann versuchen wir wieder fest daran zu glauben, dass wir bis an unser Lebensende zusammen glücklich sein können, weil unser größtes Problem gelöst ist.
Und morgen muss ich in Ruhe darüber nachdenken, wie Doctor Jones und ich aus diesem Dilemma herauskommen. Länger als eine Woche wird meine Schwester ihn nicht bei sich haben wollen.