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Jonas Geister

fvg

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07.09.2010
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Jonas Geister

Der Anfang


Endlich kam der Schnee. Wie eine feine weiße Decke legte er sich über Parks, Vorgärten und Autodächer. In der Dämmerung des späten Nachmittags schlummerte etwas Zauberhaftes. Es war ein Tag vor Weihnachten. Und die Menschen vergaßen ihre Sorgen für eine Weile.
Selbst die winzige, ein wenig heruntergekommene Kneipe bemühte sich diese Atmosphäre aufzugreifen. Den Tresen schmückte eine Lichterkette, die an längst vergangene und verstaubte Festtage erinnerte.
Der Fremde trat ein und rieb sich die Hände, die der Frost gerötet hatte. Er überblickte das Halbdunkel des Lokals. Schließlich schien er fündig geworden zu sein. Zielstrebig durchquerte er den Raum. Er näherte sich einem Burschen, der in sich zusammengesunken an der Theke kauerte und gedankenverloren an seiner Bierflasche nippte.
„Hallo Jonas. Es ist lange her.“
Der Angesprochene reagierte langsam. Wie in Zeitlupe drehte er sich um, sah den Störenfried ungläubig und betroffen an. „Martin.“
„Überrascht einen Landsmann zu treffen?“
Jonas schüttelte den Kopf. „Es gibt mehr Deutsche in dieser Stadt, als mir lieb ist. Nur ausgerechnet dich hätte ich nicht erwartet.“
Martin schnitt eine Grimasse. „Was dagegen wenn ich mich setze?“
„Ja. Wenn ich ehrlich sein soll.“
Der Neuankömmling ignorierte die Abweisung und ließ sich auf dem Barhocker neben seinem Bekannten nieder, winkte den Wirt heran und bestellte sich ebenfalls ein Bier. Die nächsten Minuten verstrichen ohne ein weiterführendes Gespräch. Erst als Martin die Schale mit Erdnüssen von sich wegschob, erkundigte sich sein Nebenmann: „Also. Was führt dich hierher?“
„Oh. Zunächst einmal kannst du dir gar nicht sicher sein, dass ich wirklich hier bin.“
Er schenkte Jonas ein seltsames Lächeln. „Es gibt Menschen, die behaupten, sie hätten einen Freund in der Stunde seines Ablebens gesehen.“
Jonas musterte desinteressiert die Leuchtschrift an der Wand vor ihm. „Ich bin sicher zu dieser Anekdote gibt es auch eine Pointe.“
Martin lächelte wieder. „Dieser Freund befand sich zu besagten Zeitpunkt im Ausland.“ Er zündete eine Zigarette an.
„Bist du gekommen, um mir Geistergeschichten zu erzählen?“, fragte Jonas barsch.
Martins Gesicht hatte schlagartig einen ernsten Ausdruck angenommen. Er antwortete aber nicht sofort, sondern beobachtete wie sich der Rauch langsam in der Luft auflöste. „Nein. Tatsächlich bin ich deinetwegen hier. Damals hattest du es so eilig die Stadt zu verlassen. Du hast dir nicht einmal die Zeit genommen, dich von deinen Freunden zu verabschieden.“
Jonas schnaubte wegen dieser Worte missbilligend. „Ich habe mich bereits einmal verabschiedet. Das genügt, findest du nicht?“
Martin lachte erbittert auf. „Oh ja. Natürlich.“
„Es war Weihnachten“, sagte Jonas vorwurfsvoll. „Da sollte man sich nicht verabschieden. Sie sollte sich nicht verabschieden.“
Schweigen senkte sich über die beiden Männer, das durch ihre Erwähnung ausgelöst wurde.
„Ja. Es war Weihnachten.“ sagte Martin nun sanfter. „Ich weiß, dass du diese Zeit hasst.“
„Ich hasse Weihnachten nicht.“
„Nein, stimmt ja. Du hasst dein Leben.“
Jonas war von den trübseligen Worten seines Freundes nicht überzeugt. „Ist es das, was du willst? Über mein Leben sprechen?“
„Ja. Ich vermute, das war meine Absicht. Wir sind Freunde, Jonas. Wenigstens glaube ich das. Wir hätten schon lange darüber reden sollen. Aber du bist einfach vor diesem Gespräch davongelaufen. Du bist aus meinem Leben verschwunden wie sie aus deinem.“
Jonas richtete anklagend den Finger auf Martin. Für einen Moment sah es so aus, als wüsste er nichts darauf zu antworten, weil seine Hand in der nächsten Sekunde schon wieder schlaff auf seinen Schoß zurücksank. „Nein. Hör auf damit. Ich lebe noch. Sie ist tot!“
Martin schüttelte traurig den Kopf. „Und genau das ist der Punkt. Ich bin mir gar nicht sicher ob du lebst.“ Jonas spielte mit einer Erdnusshälfte. „Du solltest bei Gelegenheit darüber nachdenken.“ Scheinbar hatte er dem nichts mehr nachzusetzen. Er rutschte geräuschlos vom Barhocker, bahnte sich einen Weg durch die düstere Kneipe und verschwand.
Jonas blieb allein zurück. Und er dachte nach.


Der erste Geist

Er wanderte ziellos durch die verschneiten Straßen. Nach dem unerfreulichen, und wie er sich eingestehen musste, auch merkwürdigen Besuch seines damaligen Freundes verspürte er ein wachsendes Bedürfnis kalte Winterluft einzuatmen. Zweifellos bedeutete ihm sein Leben nicht viel. Das hatte es vielleicht damals. Und selbst wenn er es sich zurückwünschte – er wollte nicht mehr darüber nachdenken. Er wollte vergessen.
Weihnachten warf überall seine Schatten voraus, obwohl das Fest noch gar nicht begonnen hatte. Durch die Schaufenster drang warmes Licht in den winterlichen Vorabend. Jonas betrachtete beim Gehen seine Schuhe und versuchte sich auf das Geräusch zu konzentrieren, das seine Absätze beim Auftreten erzeugten. Bei einer schmalen Seitenstraße zwischen einem Buchladen und einer Fleischerei, die nicht im festlichen Glanz erstrahlte, hielt er inne. Neben den Abfalltonnen bemerkte er einen Schemen, die Silhouette einer Gestalt. Sie winkte ihm zaghaft zu. Jonas kniff die Augen zusammen und fragte sich, ob sie ihm einen Streich gespielt hatten. Vorsichtig näherte er sich der Figur. Im Schein der Neonlampe erkannte er das Gesicht. Furcht und Erstaunen regten sich in ihm. Fast wäre er gestolpert und gegen die Tonnen geprallt. Dort in dieser Nebenstraße weit entfernt von der Stadt, die er verlassen hatte, und seiner Vergangenheit stand sie.
„Du kannst es nicht sein!“
„Du hast recht. Ich bin es nicht, Jonas. Du glaubst nur, dass ich es bin. Das geht vorbei.“
Seine Frage kam nach einem kurzen Moment des Erkennens, und er stellte sie mit unverhohlener Erleichterung. „Du bist nicht real? Du bist nur eine Vorstellung?“
„Ich bin deine Vorstellung, um ganz genau zu sein.“
Jonas wartete. „Und was bist du wirklich?“
„Nun. Du könntest mich als Vergangenheit ansehen. Ich bin deine Vergangenheit ohne sie“, antwortete die Erscheinung.
Er musste sich gegen die Laterne stützen, um mit der Situation fertig zu werden. „Du siehst aus wie sie.“
„Weil du mich so siehst.“
„Du meinst, du hast sie niemals gesehen?“ Er versuchte seine Ungläubigkeit zu verbergen.
„Nein. Wie könnte ich? Ich wurde in dem Augenblick geboren, als sie aufhörte zu existieren.“ Die Worte klangen selbstverständlich, aber er glaubte auch eine Spur Bedauern herauszuhören.
„Du weißt nicht, wie du aussiehst?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Vorstellung davon.“
Jonas musterte ihre Gestalt genauer und stellte fest, dass sie tatsächlich nicht ihrem genauen Ebenbild entsprach. Ihre Konturen waren unfeiner, irgendwie verschwommen. Und das ungewöhnlichste waren ihre Augen. Zwei winzigkleine schwarze Teiche, in denen sich die Außenwelt spiegelte.
„Was willst du von mir?“, fragte er skeptisch.
„Ich möchte, dass du mich begleitest.“
Er entgegnete ihren Blick erstaunt. „Ich soll dich begleiten? Wohin?“
Die Erscheinung lächelte. Wenigstens wirkte es so. „In deine Vergangenheit.“
Jonas Griff klammerte sich fester um die Laterne. Er wagte es kaum den Gedanken auszusprechen. „Du willst mich in die Vergangenheit bringen? Zu ihr?“
„Wieder falsch. Sie wird es bereits nicht mehr geben.“
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Warum willst du mich dann dort hinbringen?“
„Du wirst sehen.“ Und abermals umspielte der Anflug eines Lächelns ihre unwirklichen Lippen.

Jonas blinzelte. Wie er hierher gekommen war, überstieg seinen Horizont. Aber es handelte sich eindeutig um die Stadt, in der er ein halbes Leben verbracht hatte. Die Erscheinung stand neben ihm und deutete nach vorne ins Zwielicht. Viele Menschen waren dort im Dunkel, sodass er sie nicht erkennen konnte. Um so deutlicher erkannte er den Rettungswagen. Das gleiche galt für die Sanitäter in ihren roten Jacken und die Polizisten. Und natürlich Martin. Eine weitere Gestalt hockte auf dem nassen Asphalt, scheinbar über irgendjemanden gebeugt.
Jonas musste sein Gleichgewicht halten. Er wusste, wer vor ihm auf dem Bürgersteig kniete. Und was noch viel erschreckender war, er wusste über wem sein zitterndes Ich kauerte. Einer der Notärzte redete auf ihn ein. Er meinte ein Es tut mir leid zu verstehen.
„Warum?“, begann Jonas und musterte die Erscheinung blass. „Warum ein zweites Mal?“
Sie reagierte nicht. Sein Ich vor ihm auf der Straße starrte den Rettungshelfer teils ungläubig, teils angewidert an.
„Holt sie zurück.“
Zuerst war es nur ein Flüstern, dann wurde es immer lauter bis es schließlich zu einem verzweifelten Schreien anschwoll.
„Holt sie zurück!“
Jonas spürte eine unsichtbare Faust in seinem Magen. Er zuckte zusammen. „Ich will das nicht sehen.“, flehte er.
Seine Begleiterin blieb ungerührt.
Martin trat auf den Jonas zu, der in seiner Verzweiflung den Sanitäter anbrüllte und zog ihn sanft zurück.
„Jonas. Jonas . . . bitte. Du kannst nichts mehr tun. Es tut mir so leid.“
Dieser blickte ihn an wie ein Kind, das nicht verstand, warum es Ärger bekam.
„Nein, Martin. Ich kann nicht. Ich kann sie doch nicht alleine hier liegen lassen. Martin? Das kann ich doch nicht, oder Martin?“
Sein Freund führte ihn behutsam von dem Szenario fort. Das letzte was Jonas hörte war Martins Trost.
„Nein, Jonas. Sie ist nicht allein.“
Die Straße war nun gespenstisch leer. Nur die Polizisten und Notärzte waren noch nicht fertig mit ihrer Arbeit. Die Erscheinung näherte sich geradewegs der Trage, auf der die Tote lag.
„Das ist sie?“, rief sie in kindlichem Entzücken. „So sehe ich aus?“
Jonas folgte ihr an die Bahre. „Sie sieht aus wie ein Engel.“ Er versuchte ihre Hand zu greifen, aber es gelang ihm nicht. „So friedlich. Nicht so, wie sie aussehen sollte. Das Messer ist einfach so durch ihre Brust . . . und dann noch so friedlich. Das ist nicht richtig. Nicht so friedlich.“ Er schaute die Erscheinung beklommen an, als erwarte er eine Antwort von ihr, ob alles seine Richtigkeit besaß.
„Weißt du, warum ich dich hergeführt habe?“
Er schüttelte gequält den Kopf. Sein Blick ruhte wieder auf der Trage.
„Hier beginnt es.“
Matt sah er seine Begleiterin an. „Hier beginnt was?“
„Dein Leben ohne sie.“
„Ich wünschte, es hätte nie begonnen.“
Sie lächelte traurig. „Ich weiß.“ Sie reichte ihm die Hand. „Es wird Zeit. Bringen wir es zu Ende.“
Und sie ließen die Episode zurück, in der die Rettungskräfte ihre Instrumente einsammelten.
„Heute sollte so etwas nicht passieren.“, sagte der Eine.
Der Andere schüttelte den Kopf. „Nein. Fröhliche Weihnachten.“

Der Flussarm war zugefroren. Kinder spielten darauf lärmend Eishockey. Die beiden Männer gingen Jonas entgegen, ohne ihn zu bemerken. Wieder war er selbst dabei. An den Gesprächspartner erinnerte er sich nur sehr dunkel. An das Gesicht. Den Namen hatte er vergessen.
„Ich möchte noch nicht nach Hause. Lass uns noch ein Weilchen weitergehen.“ Die Worte kamen aus Jonas Mund, aber sie klangen stumpf.
„Aber es wird schon dunkel. Und vor einer Stunde hast du dasselbe gesagt. Willst du denn immer weitergehen?“
„Ja. Ja, ich wünschte, ich könnte das. Immer weiter. Und nicht zurück in ein leeres Haus mit einem Weihnachtsbaum. Ich weiß gar nicht, warum ich ihn aufgestellt habe.“
„Ich weiß, dass Weihnachten eine schwere Zeit für dich ist.“
„Nun. Auch nicht schwerer als der Rest des Jahres.“
„Ich habe Angst um dich, Jonas. Ich habe Angst, du kommst nicht mehr mit deinem Leben zurecht. Mit dem Leben.“
Jonas schwieg. Dann blickte er auf und sah in das Gesicht seines Nebenmannes. Und die Traurigkeit, die dieser in seinen Augen erkannte, war erschreckend.
„Ehrlich gesagt, möchte ich gar nicht mehr leben.“
„Und sterben? Was ist damit?“
Diesmal schaute er ihn lange an, bevor er antwortete. „Nein. Ich fürchte, dass will ich auch nicht.“
Sie schlenderten an den Zuschauern vorbei, und der Jonas, der zurückgeblieben war wandte sich an die Erscheinung. „Ich verstehe immer noch nicht, warum du mir das alles zeigst.“
Sie erwiderte seinen Blick fast mitleidig. „Keine Sorge. Es wird sich alles zusammenfügen.“
Er betrachtete finster das vereiste Ufer. „Bring mich nach Hause. Ich ertrage diese Stadt nicht länger.“
Sie beachtete ihn nicht. „Du liebst sie, nicht wahr?“
Jonas reagierte sehr schnell. „Natürlich habe ich sie geliebt. Was ist das für eine Frage?“
„Nein. Ich glaube, du hast mir nicht zugehört.“ Ihre Stimme klang scharf. „Du liebst sie.“
Er wehrte ab. „Ich denke, jeder liebt seine Frau. Auch wenn sie tot ist.“
Sie blieb hartnäckig. „Aber bei dir ist es etwas Anderes. Du liebst sie so, als würde sie noch leben.“
Jonas schüttelte zerknirscht den Kopf. „Das macht keinen Sinn.“
„Oh. Ich denke schon.“
„Was meinst du damit?“ fragte er aufmerksam.
Seine Begleiterin schloss die Augen. Ein jäher Windstoß riss an ihren Haaren. „Ich bringe dich besser zurück. Ich kann nicht länger bleiben.“
Um Jonas herum begann sich die Welt zu drehen. Und er glaubte, dass sich das Szenario langsam auflöste. Doch er war noch nicht bereit. „Du kennst den Sinn.“
„Keine Fragen mehr“, sagte die Erscheinung, ihre Stimme klang leise. „Das Reisen macht mich müde.“ Und auch ihre Gestalt verblasste immer mehr.
„Nein“, sagte er entschlossen. „Verrate ihn mir.“
Ihre Konturen wurden schwächer und schwächer.
„Du kennst ihn. Verrate ihn mir!“
Jonas kniff die Augen zusammen, um die hauchdünne Silhouette der Erscheinung auszumachen. Sie schenkte ihm zum Abschied noch ein zaghaftes Lächeln. Er streckte die Hand aus, um sie zu berühren. „Warte ...“ Doch ehe er den Satz beenden konnte, war der Geist seiner Vergangenheit schon verweht.


Der zweite Geist

„Warte ...“
Seine Hände ertasteten einen harten Gegenstand. Eine der Abfalltonnen. Verwirrt blickte er sich um. Er war zurück in der Seitenstraße. Wieder in der Stadt, in die er sich zurückgezogen hatte, um seine Vergangenheit zurückzulassen.
Jonas torkelte aus der Gasse auf die belebte Einkaufsstraße. Es war kurz vor Geschäftsschluss. Menschen drängelten sich in den Läden, um die letzten Geschenke zu besorgen. Männer und Frauen, eingehüllt in dicke Wollschals, eilten an Jonas vorbei. Im Schaufenster der kleinen Buchhandlung erhaschte er einen Blick auf eine Ausgabe von Dickens Weihnachtsgeschichte. Ebeneezer Scrooge und die drei Weihnachtsgeister prangten auf dem Einband.
„Ein schöner Zufall, oder?“ Jonas fuhr nervös zusammen, als er die Stimme hinter sich vernahm. „Ich hoffe, du hast auf mich gehört und nachgedacht.“ Martin lachte leise.
„Bist du schuld daran?“, erwiderte Jonas aufgebracht. „Lässt du mich Dickens nachspielen?“
Martin lehnte sich gegen das Schaufenster und wühlte in seiner Manteltasche nach der Zigarettenschachtel. „Ich glaube nicht, dass ich daran Schuld bin. Ich habe bereits versucht, es dir zu erklären. Vielleicht bin ich gar nicht hier.“
„Hör mit diesen Spielchen auf!“, fauchte sein alter Freund gereizt. „Du tauchst hier ungebeten auf und bringst Unordnung in mein Leben.“
Martins Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. „Dein Leben war nicht in Ordnung, Jonas.“
Jonas rang nach Worten. „Doch. Das war es. Wenigstens bevor ...“
„Sie gestorben ist.“ Martin zog ungerührt eine Braue hoch.
„... Du erschienen bist“, beendete Jonas den Satz.
„Du bist ein schlechter Lügner.“
Sein Gegenüber musterte ihn misstrauisch. „Und was bist du?“
Martin grinste. „Du kannst mich den Geist der Gegenwart nennen, wenn du möchtest.“
Der illustrierte Scrooge auf dem Buch fixierte Jonas mit seinen strengen Augen.
„Ich finde, der darf Weihnachten nicht fehlen“, sagte Martin.
Jonas begriff, dass er keine andere Wahl hatte, als auf seinen Freund einzugehen. „Na schön. Du willst, dass ich mitspiele? Wie geht es weiter? Geht es jetzt wieder um sie?“
„Nein. Es geht um dich. Von Anfang an.“

Das Eis spiegelte den neonfarbenen Schein der Laternen wieder. Die vergnügten Stimmen der Schlittschuhläufer vermischten sich mit den kratzenden Lauten ihrer Kufen auf dem glatten Untergrund.
„Das ist eine Schlittschuhbahn“, stellte Jonas unwirsch klar.
„Ich möchte dir etwas zeigen.“
„Und wenn ich es nicht sehen möchte?“
Martin deutete auf zwei junge Menschen, die Hand in Hand über die Eisfläche glitten. „Zu spät. Da sind sie.“
Jonas war verblüfft. „Du zeigst mir zwei Teenager?“
„Oh. Sie sind zweifellos älter. Und verliebt.“ Martin lächelte wehmütig.
Jonas lächelte ebenfalls, allerdings spöttisch. „Was verstehen sie von der Liebe!“
Sein Begleiter runzelte die Stirn. „Verstehst du etwas davon?“
„Natürlich. Ich habe geliebt.“
„Na, dann sag mir, was machen sie falsch?“
„Wer lieben möchte, muß wissen was Leid bedeutet.“ Jonas starrte finster auf die Eisläufer.
Martin lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf das junge Paar. „Jeden Moment ist es soweit. Er wird ihr einen Antrag machen.“
Sie beobachteten wie der Junge seine Freundin zum Anhalten bewegte, indem er sie sanft gegen die Bande drückte. Seine Nervosität steigerte sich.
„Warum macht er das? Was verspricht er sich davon?“ Jonas klang tatsächlich verständnislos.
Martin blinzelte verwundert. „Also. Ich denke, er möchte für ewig mit ihr zusammen sein.“
„Dann ist er dumm“, sagte Jonas bitter. Er bemerkte den fragenden Blick seines Freundes. „Sie wird ihm das Herz brechen. Bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Wie sie es macht, darauf kommt es nicht an. Aber sie wird es tun. Das ist sicher.“
Das Mädchen lächelte glücklich und küsste den Jungen.
Martin klatschte in die Hände. „Siehst du? Er hat es geschafft.“
„Das ist der Anfang seines Unglücks.“ beteuerte Jonas grimmig.
„Oder es ist der Beginn seines Glücks.“
Sie sahen einander an.
„Du hältst es tatsächlich für unmöglich“, sagte Martin. „Glaubst du an die ewige Liebe?“
„Ja. Aber sie ist ein Widerspruch.“ Jonas vollführte eine Kopfbewegung zu dem Pärchen. „Ihre Liebe könnte über den Tod hinauswachsen. Und dennoch kann sie den Tod nicht überwinden. Sie werden niemals für immer zusammensein.“
„Vielleicht ist das doch möglich.“ Martin erwartete eine Reaktion von seinem Freund.
Schlittschuhläufer kicherten und lachten, und ihre fröhlichen Laute hallten in der Stille des Winterabends.
„Komm mit. Ich werde dir noch etwas zeigen.“

„Einen Vorgarten?“ Jonas verzweifelte endgültig an der Absicht seines Begleiters.
„Meinst du nicht, daran könnte ich mich erinnern?“ setzte er sarkastisch hinzu.
„Schau durch das Fenster.“
„Das werde ich nicht tun.“
„Schau durch das Fenster.“ sagte Martin unbeirrt.
Jonas warf ihm einen unsicheren Blick zu, den er nickend erwiderte, und näherte sich dem Sims. Das Bild, das sich ihm bot, war kitschig. Die heimische Familie hatte sich im Wohnzimmer versammelt. Die Kinder tobten ausgelassen um die geschmückte Fichte. Die Eltern lächelten vergnügt, hielten sich in den Armen und sahen dem Schauspiel wohlwollend zu. Er drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Jonas betrachtete diese Szene mit Abscheu, und dennoch berührte ihn dieses Ritual tief. „Warum gehen wir nicht rein?“, fragte er.
„Was sie sagen, ist unwichtig.“
Jonas verlor die Geduld. „Na dann sag mir doch, was wichtig ist!“
Martin stellte eine Gegenfrage. „Was meinst du?“
Jonas schaute noch einmal durch die Glasscheibe. „Sie sind glücklich.“
Martins Gesicht kam dem von Jonas sehr nahe. „Bist du glücklich, Jonas?“
Dieser sah ihn stumm an.
„Weißt du noch, was Glück ist?“
Jonas konnte die Intensität von Martins Blick nicht ertragen. Er wandte sein Gesicht ab und starrte beschämt auf den Schnee, der in der Dunkelheit weißlich schimmerte. „Warum stellst du mir Fragen, auf die du die Antworten bereits kennst?“
„Ja. Ich kenne sie, mein Freund. Aber du kennst diese Antworten nicht.“
Jonas wusste zunächst keine Erwiderung. Sein Mund schnappte einige Male. „Ich kenne alle Antworten.“
Martin sah ihn streng an. „Möchtest du leben?“
Jonas Stimme zitterte. „Ja.“
„Möchtest du leben.“ wiederholte Martin seine Frage.
„Nein. Nein, ich möchte nicht leben.“
„Möchtest du sterben.“ Martin hatte sich verändert. Er war es immer noch, nur wirkte er viel größer und autoritärer. Jonas schien es, als habe er seinen Freund noch nie gekannt.
„Ja. Ich möchte sterben.“ Seine Stimme klang heiser und er ballte seine Hände zu Fäusten. „Ich möchte sterben.“

Der Mann stand an der Balustrade und starrte auf das schwarze Wasser unter ihm. Es schneite. Und es war totenstill.
„Was macht er da?“ fragte Jonas.
Martin antwortete recht nüchtern. „Er springt. Was glaubst du?“
Jonas wurde blass. „Halte ihn auf!“
„Das geht nicht. Genaugenommen sind wir gar nicht hier.“
„Aber er springt!“ Die Worte schwankten zwischen Verzweiflung und Schärfe.
„Ja. Das gebe ich zu. Er springt. Heute. Morgen. Aber er springt.“
„Warum?“ hauchte Jonas.
„Er will nicht leben.“ Martin schien diese Tatsache hinzunehmen. „Seine Kinder. Beide sind gestorben. Es ist Weihnachten. Zuhause wartet vielleicht ein Baum auf ihn. Aber nicht seine Kinder.“
Es dauerte eine Weile bis Jonas diesen Satz realisiert hatte. „Und niemand kann ihn daran hindern?“
„Nein, nur er selbst ist dazu in der Lage. Aber er wird es nicht tun.“
Jonas wünschte, der Mann würde von seiner Absicht zurückschrecken.
„Und nun schau genau hin“, sagte Martin.
Die Figur am Brückengeländer schaukelte hin und her, wie ein Baumwipfel im Wind. Dann kippte er nach vorne und verschwand in der Finsternis.
„Oh mein Gott.“ Jonas spürte Übelkeit in sich aufsteigen.
„Ja. Oh mein Gott“, bemerkte Martin trocken. „Ich glaube du bist an der Reihe.“
Jonas wirbelte entsetzt herum. „Was?“
„Du bist der nächste.“ Martin vollführte eine Geste zum Geländer.
„Du bist verrückt!“
„Du hast gesagt, dass du sterben willst.“ sagte sein Freund mit erschreckender Ruhe.
„Ich ...“ stammelte Jonas.
„Spring!“, forderte ihn Martin ungerührt auf.
„Ich ...“
„Worauf wartest du noch? Spring!“
„Ich kann ...“ Jonas war den Tränen nahe.
„Du kannst nicht?“, fragte Martin mit gespieltem Erstaunen. „Also. Ich frage dich zum letzten Mal. Willst du sterben?“
Eine Stimme, die Jonas gehörte, aber weit entfernt schien, antwortete: „Nein.“ Jonas erschlaffte.

„Mach’s gut, Jonas.“
Jonas blinzelte. Da war das Schaufenster, aber keine Balustrade. Martin sah wieder freundlich aus, wieder wie der alte Martin, den er kannte und mochte.
„Du willst schon gehen?“
„Es ist Zeit für mich zu gehen“, sagte sein Freund. „Keine Sorge. Das war mein letzter Auftritt.“ Er lächelte sanft.
„Ich möchte nicht das du gehst. Noch nicht.“
„Ich kann dir nicht mehr helfen. Bald bekommst du die Antworten. Der dritte Geist. Weißt du noch?“ Martin lachte leise, während er gegen das Schaufenster des Buchladens klopfte. „Du musst nur bereit sein.“ Er zündete sich eine Zigarette an und ging.
„Und, sehen wir uns wieder?“, rief Jonas ihm hinterher.
Martin drehte sich um. „Man weiß nie was geschieht.“ rief er zurück. Er wendete sich ab und schlenderte pfeifend die Straße hinunter.


Der dritte Geist

Jonas betrachtete sein Gesicht, das sich im Glas spiegelte. Er sah krank aus, noch kränker als gewöhnlich. Er versuchte zu lächeln, aber sein Spiegelbild war unfähig dazu. Ein zweites Gesicht wurde im Schaufenster sichtbar. Der Mann, dem es gehörte, stand dicht hinter Jonas. Ein betagter Herr, mit faltenlosem, freundlichem Gesicht, grauem ordentlichen Haar und einem gebügelten, schwarzen Anzug, der perfekt saß.
„Guten Abend. Du wirst auf mich gewartet haben“, sagte er mit sanfter, melodischer Stimme.
Obwohl er den Fremden nicht kannte, erschien es Jonas richtig, dass ihn dieser so persönlich anredete. Aufgrund seiner korrekten Erscheinung, wollte Jonas förmlich bleiben.
„Sie müssen mich mit jemanden verwechseln. Ich glaube kaum, dass ich Sie kenne. Oder umgekehrt.“
Der alte Mann lächelte auf eine recht seltsame Art und Weise. „Oh, ich kenne jeden. Das ist sicher.“ Er machte eine wohl überlegte Pause. „Auch deine Frau.“
Jonas musste um Selbstbeherrschung ringen, die Bemerkung des Alten regte Ärger in ihm. „Sie sind ein Lügner!“
Der Herr strich mit der Hand über seinen Anzug, als wolle er ihn glätten. Natürlich war diese Geste nicht notwendig.
„Bedauerlicherweise muß ich dich widerlegen. Ich bin der Tod.“
Jonas schwankte. Diese Enthüllung war ein Schlag ins Gesicht. Damit hatte er nicht gerechnet. „Sie sind der Tod?“
Die Mundwinkel des Alten zuckten amüsiert. „Nun. Daran kann kein Zweifel bestehen.“
Diese Nüchternheit erschreckte Jonas. „Das ist unmöglich. Sie können nicht der Tod sein. Ich habe mir den Tod immer ... beeindruckender vorgestellt.“
Der alte Mann winkte ab, und sein Gegenüber meinte Missbilligung in seinem Tonfall zu hören. „Ich halte diesen Rummel, der um meine Person gemacht wird, für übertrieben.“
Jonas musterte nachdenklich die Krawatte des Mannes. Auch sie war schwarz. „Sie zeigen mir die Zukunft, nicht wahr?“
„Vielleicht“, sagte der Tod.
„Es ist wie bei Dickens. Sie sollten mir die Zukunft weisen. Sie sind der dritte Geist.“
„Dickens war ein kluger Mann“, bestätigte der alte Mann anerkennend. „Aber ich kann dir nicht die Zukunft zeigen. Auch nicht deine. Sie ist noch nicht geschrieben.“
„Dann schreiben Sie sie!“, bestimmte Jonas trotzig.
Der Tod schüttelte den Kopf. „Nur du kannst das.“ sagte er bestimmt.
„Und wenn ich es nicht kann?“
„Du vermisst sie.“
Jonas brauchte länger, um auf den raschen Gesprächswechsel einzugehen. „Lassen Sie sie aus dem Spiel!“, rief er zornig. „Es geht hier um mich!“
„Ja. Du hast Recht. Aber vielleicht solltest du meine Fragen beantworten.“
„Also, na schön. Ich vermisse sie wahnsinnig.“ Jonas sank in sich zusammen.
„Du möchtest sie wiederhaben.“
„Ja. Aber das geht nicht. So sehr ich es mir auch wünsche. Es geht nicht. Sie ist tot.“ Die Worte waren laut, aber kraftlos.
„Hängst du an deinem Leben?“
„Nein. Warum sollte ich? Ohne sie bin ich nichts.“ Er sah den Tod gebrochen an. „Was wollen Sie?“
Der Ausdruck des Alten blieb ruhig. „Ich will eine Entscheidung.“
„Eine Entscheidung für was?“
„Eine Entscheidung, ob du sterben oder leben willst.“
Jonas blinzelte mehrmals. „Also deswegen sind Sie hier?“
„Ja.“ Der alte Mann zwinkerte. „Wenn es um die letzten Dinge geht, bin ich immer sehr neugierig.“

Jonas stand inmitten einer hügeligen Graslandschaft. Vereinzelte Bäume wurzelten auf den Erhebungen und warfen lange Schatten auf die Gräser. Der Wind wiegte sanft die Blätter und Halme, ein leises Lied aus Rascheln und Flüstern.
„Wo sind wir?“ Jonas strich mit den Handflächen durch das hochgewachsene Gras.
„Man könnte es als das Danach betrachten“, sagte der Tod.
„Sie meinen, das ist der Himmel?“
„Das Leben nach dem Tod. Der Himmel. Wie du willst.“
Jonas ließ seinen Blick wieder von dem alten Mann über die Landschaft schweifen. „So sieht also der Himmel aus.“
„Nein. Das ist individuell“, bemerkte sein Begleiter. „Diese Projektion entspricht sozusagen deinem Himmel.“
„Ja. Ich kenne diesen Ort. Ich habe als Kind davon geträumt.“
„Er entsprang in deinem Herzen. Du hast ihn erschaffen.“
„Sie meinen, wir sind für unseren eigenen Himmel verantwortlich?“ fragte Jonas verblüfft. Es verwunderte ihn ein wenig, dass es so einfach sein sollte.
Der Tod nickte. „Ja. Der Himmel ist ein Wunschbild, das ein Leben lang in einem aufbewahrt ist.“
Ein Vogel sang eine leise Melodie, die den Ort in eine liebliche Melancholie tauchte.
„Es ist einsam“, stellte Jonas fest.
„Das muß nicht so bleiben“, gab der alte Mann zurück.
„Und ich fühle mich sehr leicht.“
„An diesem Ort existieren keine Sorgen.“
Jonas Schloss die Augen. Es fühlte sich herrlich an. „Was meinen Sie damit, es muss nicht einsam bleiben?“
„Es ist dein Wunschbild. Du hast es geformt. Du kannst es erweitern.“
„Es ist hübsch hier.“
Der Alte sah sich um. „Ja. Das ist es.“
„Aber es ist nur ein Traum. Der Himmel ist nur ein Traum“, sagte Jonas traurig.
Der Tod lächelte. „Ein Traum, der ewig andauert.“
Sie beobachteten eine Weile die Schatten der Wolken, die über die Gräser hinwegzogen.
„Ich glaube, dieses Plätzchen gefällt mir“, bemerkte Jonas nachdenklich. „Wahrscheinlich gehöre ich hier her. Aber wer sagt mir, dass es so bleibt?“
Der alte Mann blinzelte freundlich. „Ich verspreche es dir.“

Der Strand war einsam und leer. Scharfe schwarze Felsen ragten ins Meer hinein. Der Himmel war eine endlose hellgraue Fläche, die sich bis zum Horizont ausdehnte und sich in der dunkelgrauen See verlor. Der Wind zerrte an Jonas Haaren und seiner Kleidung.
„Warum haben wir meinen Himmel verlassen?“, rief er, um die Brandung zu übertönen.
„Du bist noch nicht im Himmel. Hast du das schon vergessen? Du musst dich zuerst entscheiden.“
„Welchen Tag haben wir heute?“
Der alte Mann lachte. „Weihnachten.“
Jonas blickte über das aufgewühlte Meer und spürte wie sein Mut sank. Er griff eine Handvoll Sand auf und ließ die feinen Körner durch die Finger rieseln.
„Ich weiß nicht welchen Weg ich gehen soll“, rief er.
„Geh den Weg, den du für richtig hältst“, sagte der Alte geduldig.
„Es ist nicht einfach“, stellte Jonas fest.
„Niemand hat gesagt, dass es einfach ist. Aber es ist die letzte Entscheidung, die du treffen musst.“
Jonas schaute von seinem Begleiter zur See und wieder zurück. „Ja. Ich glaube, ich sollte mich beeilen.“
Der Tod lächelte. „Freut mich zu hören.“
Jonas ging vorwärts. Das Wasser umspielte seine Schuhe. Er watete weiter, tiefer in die See hinein. Als er bis zu den Knien versunken war, blickte er zurück zum Strand. Der alte Mann stand am Ufer und rührte sich nicht.
„Kommen Sie nicht mit?“, schrie Jonas ihm zu.
„Nein.“
„Ich dachte, der Tod würde den Sterbenden auf seinem letzten Gang begleiten?“
„Oh, keine Sorge“, erwiderte der Tod. „Wenn du stirbst, werde ich bei dir sein.“
„Soll das etwa heißen, dass ich nicht sterbe?“, entfuhr es Jonas verwirrt und zornig.
„Ich fürchte, dieser Schritt liegt bei dir.“ Der Tod zwinkerte ein letztes Mal, wandte sich ab und marschierte in die entgegengesetzte Richtung.
Der Anblick war äußerst sonderbar. Ein alter Mann, in einem schwarzen Anzug, der gelassen durch den Sand spazierte. Ab und zu hielt er an, um einem Seevogel nachzuschauen. Irgendwann war er nur mehr als dunkler Punkt zu erkennen, der noch endlos durch die graue Welt schwankte, bis er verschwand. Jonas merkte, dass seine feste Entschlossenheit wich. Er war allein, vor ihm nur dunkle Wellen. Er wusste, dass er nun an der Reihe war. Er stakte voran. Jeder Schritt war mühsam und ließ salziges Wasser aufspritzen. Er sah zum Himmel hoch, in der Hoffnung er würde vielleicht aufreißen, aber er blieb dunkel und traurig. Hinter diesen Wolken lag seine Zukunft. Er wollte nicht mehr zurück. Seine letzte Entscheidung stand bevor. Also entschied er sich ...

Noch ein Schritt ... Er versank tiefer ... Ich will

Noch ein Schritt ... und tiefer ... Ich will

Noch ein Schritt ... immer tiefer ... Ich will


Das Ende

Die Straßen waren jetzt fast leer. Der Buchladen war dunkel. Sie standen schweigend vor dem Schaufenster.
Der alte Mann brach das Schweigen. „Es ist schon spät. Wir sollten nach Hause gehen.“
„Ja. Eine Zigarette noch.“ Martin kramte die Schachtel aus seinem Mantel.
„Du rauchst zu viel“, stellte der Alte fest.
„Ich will einfach noch warten.“
„Wozu soll das nütze sein? Entweder es geschieht, oder es geschieht nicht.“
Ein Passant wünschte ihnen im Vorbeigehen eine frohe Weihnacht. Sie erwiderten den Gruß.
Martin sah seinen Gesprächspartner zweifelnd an. „Ich bin mir nicht sicher, ob diese Entscheidung richtig war.“
Der alte Mann zögerte nicht. „Oh. Glaub mir. Es war die einzige Entscheidung.“
Martin drehte nachdenklich sein Zigarettenpäckchen zwischen den Fingern. „Ich hoffe, dass sie richtig war.“
„Falls es dich beruhigt. Ich weiß es.“
Martin wirkte tatsächlich erleichtert. Er griff nach einer Zigarette und zündete sie an. „Ja. Ja, du hast recht.“
Sein Gegenüber deutete auf den Glimmstängel. „Können wir dann gehen?“
„Ja. Nur noch eine Zigarette.“
Der alte Mann seufzte. „Gut. Die letzte. Dann hörst du mit dem Rauchen auf.“
Sie konzentrierten sich wieder auf die Lichterketten, die scheinbar in der ganzen Stadt angebracht worden waren. Es schneite wieder. Es war ein Tag vor Weihnachten. Und die Menschen vergaßen ihre Sorgen für eine Weile.

Der Wind ging rauschend durch die Gräser. Das letzte Sonnenlicht fiel durch die Blätter. Jonas lehnte am Stamm eines Baumes und betrachtete die abendlichen Wolken. Die Hügel waren in goldenes und blassrotes Licht getaucht.
„Ich habe auf dich gewartet.“
Er drehte sich nicht um. Plötzlich verstand er den Sinn. Er verstand, was sich hinter dieser Entscheidung, vor die man ihn gestellt hatte, verbarg. Er glaubte Martins Stimme in seinem Kopf zu hören. Vielleicht ist es doch möglich.
„Ich muss nicht einsam bleiben“, sagte er und lächelte.
Sie setzte sich neben ihn ins Gras. Noch traute er sich nicht sie anzusehen, aus Angst sie könne wieder verblassen. Ihre Stimme reichte ihm fürs Erste.
„Du bist lange weg gewesen“, sagte sie.
„Und du bist sehr früh gegangen.“
Sie verzog die Lippen zu einem nachdenklichen Lächeln. „Nun. Ich denke, es zählt nur, dass wir wieder da sind.“
„Ja.“
„Und wollen wir jetzt zurückkehren?“
Er hielt irritiert inne. „In die Stadt?“
Sie lachte. Und ihr Lachen war eine Erleichterung. „Wohin du willst.“
„Ja“, antwortete er. „Ja. Wir gehen zurück.“ Er ließ den Blick über seinen Himmel schweifen. „Aber das hat noch Zeit. Wir wollen hier noch ein Weilchen sitzen. Vielleicht können wir die Sterne sehen.“
Sie sahen zu den Bäumen hinüber, die ins Zwielicht getaucht waren.
„Das ist ein Traum, nicht war?“
Sie lachte nicht. „Ja. Ein Traum der ewig andauert.“
Schweigend saßen sie nebeneinander. Am Himmel über ihnen erschienen die ersten Sterne.

 

Anmerkung:
Ja, ich hätte die Geschichte auch unter Weihnachten posten können ... aber persönlich sehe ich sie nicht als vordergründige Weihnachtsgeschichte. Also ...

fvg

 

Hallo fvg,
ich fand es so schade, dass noch niemand auf deine Geschichte geantwortet hat, dass ich jetzt doch einmal Mut fasse, obwohl ich echt nicht die große Fantasyleserin bin und daher auch nicht sicher weiß, wie zutreffend meine Anmerkungen sind, aber eine Leserin bin ich schon - also ...

Ich fand deine Geschichte schön, der Anfang hat mich, obwohl er sehr ruhig ist, in den Text hineingezogen, es liegt wohl an dem Landschaftsbild, das du hier einfängst:

Endlich kam der Schnee. Wie eine feine weiße Decke legte er sich über Parks, Vorgärten und Autodächer. In der Dämmerung des späten Nachmittags schlummerte irgend etwas Zauberhaftes. Es war ein Tag vor Weihnachten. Und die Menschen vergaßen ihre Sorgen für eine Weile.
Vielleicht lässt du das irgend weg, hab hier gelernt, dass es oft nur ein Füllwort ist, und das stimmt ja auch.

Schön finde ich auch, dass du einen Teil dieses Anfangs als Rahmen am Ende wieder aufgreifst:

Es war ein Tag vor Weihnachten. Und die Menschen vergaßen ihre Sorgen für eine Weile.
.

Mir gefällt dein Schreibstil sehr gut, auch den Inhalt und den Ablauf der Geschichte fand ich gut. Auch die verwirrenden kleinen Geisterschachteleien, dass z.B. Jonas sich selbst sieht, das fand ich schön. Man konnte auch gut nachvollziehen, dass und warum Jonas sich so entscheidet.

Allerdings hätte ich an einigen Stellen doch ganz schön gerafft und gekürzt, kann vielleicht aber auch an mir liegen, bin ein ungeduldiger Leser.
Aber ich fände es doch richtig, es daraufhin noch einmal durchzugehen.

Und jetzt so ein paar Sachen im Einzelnen:

Der Fremde trat ein, ohne dass man ihm groß Beachtung schenkte. Die wenigen Gäste beschäftigten sich, ihre Mienen ausdruckslos, lieber mit ihrem Drink. Der Neuankömmling rieb sich demonstrativ die Hände, um auf den Frost aufmerksam zu machen, der sie und auch sein Gesicht gerötet hatte.

Das ist ein Beispiel für mich, wo man kürzen könnte, ich würde
ihre Mienen ausdruckslos weglassen, weil die Atmosphäre in der Kneipe eigentlich schon klar ist.
Und den letzten Satz würde ich auch kürzen, für mich klingt er nach "zu viel", ich würde nur schreiben: Der Neuankömmling rieb sich die vom Frost geröteten Hände und spähte in den düsteren Raum.

„Bist du gekommen, um mir Geistergeschichten zu erzählen?“(KOMMA) fragte Jonas barsch.
Dieses Komma nach der wörtlichen Rede, hast du eigentlich immer übersehen. Das ist hier jetzt nur ein Beispiel.

Er schenkte Jonas eine seltsames Lächeln.
ein seltsames Lächeln.
Von dieser Sorte gibt es noch einige Tipp- und Flüchigkeitsfehler im Text, auch ein paar Zeichensetzungsfehler. Guck halt noch mal durch.

Dass der Tod Martin das Rauchen abgewöhnen will, das fand ich eine extra nette, witzige Idee, macht ihn so menschlich, den Gevatter Tod, so besorgt hätte ich mir diesen Kerl nicht vorgestellt!!

Hat Spaß gemacht, deine schöne Geschichte zu lesen.
Viele Grüße Novak

 

Auf Wunsch des Autors von Fantasy nach Seltsam verschoben.

 

Moin Novak,

danke für das Kommentieren und schön Finden meiner Geschichte.

Ich glaub, die Empfindung bezüglich des Straffens und Kürzens könnte nicht nur an dir liegen ;). Ich versuche mich noch mal von diesem und jenen zu trennen. Ich kann aber nicht versprechen, ob das klappt.

Dieses Komma nach der wörtlichen Rede, hast du eigentlich immer übersehen.

Ja, I know, da wollte ich mich als nächstes noch mal ransetzen. Dabei schau ich noch mal nach etwaigen Flüchtigkeitsfehlern und Kommata. Man denkt, man hätte sie alle ausgemerzt aber ... :(.

Lg

fvg

 

Hallo fvg

Er hat mir gut gefallen, dieser Traum, der ewig andauert, auch wenn es sich sehr in die Länge zog. Die Geschichte spiegelt schön die Ängste und Zweifel eines Menschen, dessen Leben durch den Verlust eines andern aus der Bahn gerät. Welche Entscheidung er letztlich auch immer trifft, um sein Dasein wieder in den Griff zu bekommen, es kann nicht falsch sein, denn wie es bei anderer Wahl verlaufen würde, wird er nie wissen.

Noch ein paar Dinge, die mir beim Lesen durch den Kopf gingen:


Die wenigen Gäste beschäftigten sich, ihre Mienen ausdruckslos, lieber mit ihrem Drink. Der Neuankömmling rieb sich demonstrativ die Hände, um auf den Frost aufmerksam zu machen, der sie und auch sein Gesicht gerötet hatte.

Aufmerksamkeitsheischend scheint mir plausibel, doch für den Frost kaum. Die Kälte war schliesslich ein Umstand, der den andern Gästen bekannt sein musste, denke ich mir zumindest.

Der Ankömmling ignorierte die Abweisung und ließ sich auf dem Barhocker neben seinem Freund nieder, winkte den Wirt heran und bestellte sich ebenfalls ein Bier.

Freund klingt hier im bisherigen Bezug etwas ironisch. Wäre Bekannten vielleicht treffender? Später klärt es sich zwar, sie waren früher Freunde gewesen.

„Du stellst dir mich nicht vor. Ich bin tatsächlich existent. Und ich möchte, dass du mich begleitest.“

Hier stelltest du ein Paradox auf, das sich mir mit dem weiteren Verlauf etwas beisst. Er ist und bleibt eine Imagination.

Er meinte ein Es tut mir leid zu verstehen.

Hier wäre mir für das Zitat der wörtlichen Rede die Kursivschrift sympathisch erschienen. So stolperte ich.

Seine Begleiterin Schloss die Augen. Ein jeher Windstoß riss an ihren Haaren.

Seine Begleiterin schloss die Augen. Ein jäher Windstoß …

Jonas brauchte länger, um auf den raschen Gesprächswechsel einzugehen. „Lass sie aus dem Spiel!“ rief er zornig. „Es geht hier um mich!“

Ich rechne es der Erregung von Jonas zu, dass er hier aus der Rolle fällt und die Höflichkeitsform Sie einmalig fallen lässt, denn sonst lautete es: Lassen Sie sie aus dem Spiel!

Es muss nicht einsam bleiben.“ sagte er und lächelte.

Hier bezieht sich das Es wohl auf das Dasein? Doch kann Dasein einsam sein? Ich denke es ist mehr der Daseinsinhalt eines Menschen. Treffender schiene es mir also statt Es ein Ich, dies völlig unabhängig von Freud.

Sehr gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Moin Anakreon,

erst einmal schön, dass du diese lange (;)) Kurzgeschichte gelesen hast. Allerdings kann ich mich zu weiteren großen Straffungen und Kürzungen vorerst nicht durchringen.

Es freut mich natürlich auch, dass sie dir gut gefallen hat. Danke dafür.

Die Anmerkungen von dir, sind alle vollkommen sinnvoll und logisch, deswegen habe ich sie beherzt umgesetzt.

Lg

fvg

 

Hallo fvg,

mit der ersten Zwischenüberschrift war mir klar, dass dieser Text eine Adaption von Dickens' Christmas Carol ist. Und da dachte ich: Oh nein, bitte nicht. Etwas erleichtert war ich, als auf dasselbe Werk explizit Bezug genommen wurde, und dank dieses Funkens Selbstironie konnte ich die Geschichte durchaus genüsslich weiter lesen. Alles in allem aber enttäuschend, Copyright und sein Verfall 70 Jahre nach Tod des Autors hin oder her: Du hast in meinen Augen, von diesem "Gag" abgesehen, nichts über das Motiv der drei Geister aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft/Tod hinaus entwickelt, für mich bleibt es nur eine Schablonengeschichte.

Mir gefällt das Original aber immer noch besser, deine Geschichte kann sich damit auch qualitativ leider nicht messen. Hier geht es schlicht um Überwindung des Nachhängens, der Umklammerung an eine langjährige Liebschaft (dass es sich um etwas tieferes handeln könnte, lässt sich nur allzu vage herauslesen), die du am Ende leider auch noch kolportierst, indem du die Geliebte wieder auferstehen lässt, ob nun fiktiv-real oder imaginär, und alles in seichtem Kitsch verpuffen lässt. Da hingegen geht es um Reichtum, also seine giftige Wirkung auf den Charakter des Reichen sowie um das dadurch verursachte Leid seines Umfeldes, also auch um etwas ganz anderes. Hier geht es um das Ich, dort um die Entwicklung eines Ichs zum Wir.

Tut mir leid, ich würde gern etwas Positiveres dazu sagen, aber die Geschichte hat mir unterm Strich nicht so gut gefallen. :shy:


Viele Grüße,
-- floritiv.

 

Moin floritiv,

dass dir meine Geschichte nicht gefällt, damit muss der Autor leben können, und hey, kann ich ;). Dennoch danke, dass du sie gelesen hast. Das ist ja immerhin auch schon mal was wert.
Ansonsten gilt halt immer, Geschmäcker sind verschieden.

Nur das Attribut "Kitsch", das weise ich von mir ;).

Überwindung des Nachhängens wiederum gefällt mir, auch wenn ich glaube, dass es schon um ein bisschen mehr geht.

Nichts für ungut ...

lg

fvg

 

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