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Jola und die tätowierte Brieftaube
*für die allerbeste Jola der Welt*
„Papa?“, fragt Jola, „Papa, kann ich eine Brieftaube haben?“
„Das heißt: Kann ich bitte eine Brieftaube haben“, antwortet Papa, ohne von seiner Zeitung aufzuschauen.
Jola zieht eine genervte Grimasse, aber das sieht Papa natürlich nicht. Er hat nur Augen für den blöden Sportteil.
„Papa, kann ich bitte eine Brieftaube haben?“, fragt Jola noch einmal.
„Prima!“, murmelt Papa. „Geht doch! HSV 4. Werder 0. Wirklich ganz prima, Jola.“
Er lächelt zufrieden.
Offenbar ist für ihn das Thema damit erledigt.
„Also darf ich?“, fragt Jola, für die das Thema überhaupt noch nicht erledigt ist.
Papa legt widerwillig die Zeitung auf den Wohnzimmertisch.
„Was darfst du?“
Jola seufzt. Anscheinend muss sie heute alles dreimal sagen.
„Eine Brieftaube haben!“ Und bevor Papa wieder meckern kann, fügt sie schnell hinzu: „Bitte!“
Sicher ist sicher.
Papa kratzt sich ratlos am Kopf.
„Was in aller Welt willst du mit einer Brieftaube, Jölchen?“
„Einen Brief verschicken natürlich.“ Jola verdreht die Augen. Manchmal ist Papa echt schwer von Begriff.
„Einen Brief verschicken natürlich“, wiederholt Papa. „Also ich benutze dafür ja den Briefträger.“
„Joaaaa, ein Briefträger geht auch“, räumt Jola ein. „Aber ich finde Brieftauben einfach viel, viel niedlicher.“
„Verstehe“, sagt Papa, dem an der Nasenspitze abzulesen ist, dass er gar nichts verstanden hat.
„Gibt es eigentlich auch Briefhamster?“, fragt Jola hoffnungsvoll. „Denn wenn ja, die finde ich nämlich noch viel, viel niedlicher.“
„Nein“, sagt Papa stirnrunzelnd. „Ich glaube nicht, dass es Briefhamster gibt.“
„Briefkaninchen? Briefkätzchen? Glitzer-rosa Briefeinhörner?“
Papa schüttelt den Kopf. „Nein, nein und nochmals nein. Und garantiert nicht in glitzer-rosa. Die Post ist nämlich gelb.“
„Schade!“, sagt Jola. „Na ja. Dann eben doch eine Brieftaube. Aber eine mit meinem Namen drauf. Als Stempel. Damit ich sie immer wieder finden kann unter all den anderen Brieftauben. Abgemacht?“
Sie hält Papa ihre Hand so hin, dass dieser nur noch einzuschlagen braucht.
Macht er aber nicht.
„Komm mal her“, sagt Papa stattdessen.
Jola klettert rasch auf seinen Schoß.
„Ich glaube nicht, dass man Brieftauben stempeln kann“, sagt Papa. „Schon allein deshalb, weil es nicht wasserfest wäre. Immerhin muss so eine Brieftaube ab und an ja auch durch Regen fliegen.“
Jola nickt und überlegt kurz. „Aber ein Tattoo würde halten, oder?“
Papa beißt sich auf die Unterlippe. „Bestimmt.“
„Na also! Problem gelöst“, sagt Jola und reibt sich zufrieden die Hände. „Dann kommt da ein Flammenherz drauf mit meinem Namen drin.“
„Wem willst du eigentlich einen Brief schicken?“, fragt Papa. „Mit deiner tätowierten Brieftaube.“
„Meinem total coolen Brieffreund“, antwortet Jola wie aus der Kanone geschossen.
Papa zieht erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Du hast einen total coolen Brieffreund?“
„Nein“, gibt Jola zu. „Den brauche ich auch noch. Aber eins nach dem anderen.“
Das sagt Mama immer, wenn sie Zeit gewinnen will.
„Soso“, murmelt Papa. „Du brauchst also eine tätowierte Brieftaube und einen total coolen Brieffreund. Ist das alles, oder hättest du auch noch gern ein wahnsinnig schnelles Postauto dazu?“
Jola räuspert sich vernehmlich.
„Werde bitte nicht albern, Papa!“, rügt sie in strengem Tonfall. „Als ob du dir ein wahnsinnig schnelles Postauto leisten könntest. Von deinem Gehalt.“
Das Letzte ist auch so ein Satz, den Mama immer sagt.
„Ich dachte ja nur“, murmelt Papa. Er hat einen ganz roten Kopf bekommen, was ihm eigentlich ganz gut steht.
„Was ich aber zuallererst brauche“, sagt Jola, „ist ein Brief. Denn ohne Brief nützt mir weder die tätowierte Brieftaube noch der total coole Brieffreund etwas. Logisch, oder?“
Papa nickt müde, sagt aber nichts.
Jola blickt ihn erwartungsvoll an.
„Hilfst du mir bitte, einen Brief zu schreiben?“
„Nichts lieber als das“, sagt Papa und schaut sehnsüchtig zu seiner Zeitung. „Zu dumm, dass wir kein Papier und keinen Stift hier haben. Liegt nämlich alles irgendwo in deinem unbeschreiblich unaufgeräumten Zimmer herum. Unmöglich zu finden.“
Komischerweise klingt er gleich ein bisschen fröhlicher.
„Zu dumm, dass wir das alles schon hier haben“, antwortet Jola und zieht aus ihrer Hosentasche einen zerknitterten Zettel und einen grünen Filzer. „Lag unter den Gummitieren und den Bauklötzen.“
„Wo auch sonst!“, sagt Papa zähneknirschend.
Er schnappt sich mit zwei Fingern das Blatt Papier. Dann nimmt er seufzend den Stift in die Hand.
„Also?“, fragt Papa. „Was soll ich schreiben?“
Jola überlegt kurz.
„Wie wäre es mit: Hallo total cooler Brieffreund“, meint sie schließlich.
„Toller Anfang“, sagt Papa. „Wirklich super! Deine Idee?“
„Ja“, antwortet Jola stolz. „Aber der Rest wird noch viel besser.“
„Ich kann es kaum erwarten“, erwidert Papa gähnend.
Jola kaut nachdenklich auf ihrer Unterlippe.
Dann diktiert sie: „Hallo total cooler Brieffreund, ich heiße Jola und bin sechs Jahre alt und komme in zwei Monaten in die Schule. Und dann kann ich dir bald selber Briefe schreiben.“
„Oh, das wird schön“, seufzt Papa.
„Pssst“, macht Jola, weil sie gerade so richtig in Fahrt gekommen ist. „Ich habe eine Mama, die ist immer klasse, außer wenn sie mit mir schimpft, und einen Papa, der ist fast genauso klasse, aber leider immer viel zu müde, um mit mir zu spielen, wenn er von der Arbeit kommt. Zu müde zum Zeitunglesen ist er aber nie… Hey, du schreibst ja gar nicht mehr.“
„Tschuldigung“, sagt Papa zerknirscht und kritzelt schnell ein paar Zeilen auf das Papier.
„Gut so“, lobt Jola. „Schreib: Ich habe einen Pudel, der Rosine heißt, aber dem schneiden wir nie die Haare, die wachsen einfach so wie sie wollen. Mein Lieblingskuscheltier heißt Banana-Joe und er ist aus Jeansstoff und deswegen zum Glück sehr pflegeleicht, wenn mein blöder kleiner Bruder Kakao auf ihn kleckert. Der Jonas kleckert nämlich immer. Und außerdem habe ich noch eine rosa Stoffkatze mit Namen Mamsell, das ist französisch und heißt Fräulein. Hat Mama mir gesagt. Und ich habe ein rosarotes Monster, das ich Schuuuhubert getauft habe. Und dann sind da noch Penny, die Puppe und ihre Frau, das Lotta-Schwein und Ohsüßohsüßohsüß und …“
„Wenn du alle deine Stofftiere aufzählst, brauchst du keine Brieftaube, sondern einen Flugsaurier“, unterbricht Papa Jolas Redefluss. „Du hast doch so furchtbar viele Stofftiere, Schätzchen.“
„Hundertmillionen“, behauptet Jola, obwohl es eigentlich nur siebenunddreißig sind. Das weiß sie ganz sicher, weil sie mit Mama erst neulich beim Kinderzimmeraufräumen alle laut aufgezählt hat.
„Wie wäre es, wenn du dich im Brief auf Banana-Joe beschränkst?“, schlägt Papa vor. „Erzähl doch lieber ein bisschen von deinem Arbeitsalltag. Das interessiert Brieffreunde für gewöhnlich sehr.“
„Ich bin sechs“, sagt Jola. „Ich habe keinen Arbeitsalltag.“
„Ich meine den Kindergarten“, sagt Papa.
„Schreib: Es ist absolut saudoof dort“, antwortet Jola.
Und das stimmt sogar, weil sie sich dort heute ganz heftig mit Isabell gestritten hat. Weil Isabell bei der Draußen-Tobe-Zeit Wasser auf Jolas Kreidezeichnung geschüttelt und alles verwischt hat. Oder umgekehrt. So genau, erinnert sich Jola gar nicht mehr, aber ist ja auch egal. Auf jeden Fall war es eine vollkommene Dumpfbatz-Idee gleichzeitig mit Kreide und Wasser zu spielen. Das geht immer in die Hose. Und jeder weiß das.
Und eigentlich ist Isabell die beste Freundin, die man sich wünschen kann. Aber nicht heute.
„Schreib: Isabell ist heute bescheuert“, sagt Jola und ballt ihre Hände zu Fäusten.
„Ernsthaft?“, fragt Papa und macht großen Augen.
„Neee, schreib das doch nicht“, antwortet Jola schnell. „Schreib lieber: Isabell ist heute kolossal bescheuert.“
Papa seufzt schon wieder. Aber immerhin hört er auf Jola und tut, was sie ihm aufgetragen hat.
„Okay, notiert“, sagt Papa. „Ich habe jetzt geschrieben:
Hallo total cooler Brieffreund.
Ich bin sechs Jahre alt und heiße Jola. Mama schimpft ständig mit mir und Papa hat nie Zeit. Beide sind klasse. Mein Bruder kleckert viel. Ich habe einen Pudel ohne Frisur und mein Lieblingskuscheltier ist aus Jeansstoff, der leicht zu säubern ist. Im Kindergarten ist es saudoof und Isabell ist heute kolossal bescheuert.
Jetzt fehlt nur noch: Liebe Grüße von deiner Jola.
Und schwupps, fertig ist der Brief!“
Während er spricht, versucht er unauffällig mit dem Ellenbogen, die Zeitung wieder zu sich heranzuziehen.
Aber Jola schüttelt wild mit dem Kopf und kickt mit einem geschickten Beinahe-Kung-Fu-Tritt die Zeitung im hohen Bogen auf den Boden.
„Von wegen. Da fehlt noch ganz viel. Wir sind noch lange nicht fertig. Ich habe noch mindestens 1000 wichtige Sachen, die mein neuer total cooler Brieffreund unbedingt über mich wissen muss.“
„Zum Beispiel?“, fragt Papa und sieht auf einmal sehr, sehr müde aus.
„Zum Beispiel Erstens“, kräht Jola. „Ich liebe Schnecken.“
Papa guckt komisch. „Seit wann?“
„Seit Mittwoch“, behauptet Jola. „Da hatte ich eine für fünfzehn Minuten als Haustier. Aber ich habe dann nicht aufgepasst und da ist Clarissa weggelaufen. Und ich habe sie gesucht und ein bisschen geweint.“
„Tragisch“, brummt Papa. „Aber wahrscheinlich hätte sich Clarissa eh nicht mit der tätowierten Brieftaube vertragen.“
„Also kriege ich eine?“, ruft Jola begeistert. „Geil!“
Papa sagt keinen Pieps, sondern massiert sich mit beiden Händen einfach nur ganz ausgiebig seine Stirn. Irgendwo im Haus klingelt ein Telefon.
„Zweitens“, diktiert Jola. „Zweitens: Ich kriege bald eine tätowierte Brieftaube mit einem Feuerherz und meinem Namen drauf…“
In diesem Moment steckt Mama den Kopf durch die Tür. In der Hand hält sie ihr Handy und streckt es Jola entgegen.
„Für dich, Schätzchen. Isabell fragt, ob du rüberkommen willst. Sie hat eine ganze Schachtel Kreide geschenkt bekommen. Und sie sagt, dass ihr den Gartenschlauch benutzen dürft.“
„Cool“, jubelt Jola und springt wie der Wind von Papas Schoß. Es gibt nichts besseres, als gleichzeitig mit Kreide und Wasser zu spielen. Das ist einfach das allerallerbeste. Und jeder weiß das.
Jola ist schon fast zur Tür hinaus, als sich Papa lauthals räuspert. Er sieht jetzt kein bisschen müde mehr aus, sondern hat seinen gefürchteten Was-man-angefangen-hat-muss-man-auch-zu-Ende-machen-Blick aufgesetzt.
„Und der Brief?“, fragt er. „Da fehlen doch noch 998 Sachen, die dein total cooler neuer Brieffreund unbedingt über dich wissen muss.“
„Macht nichts“, entgegnet Jola. „Ich brauch ja auch noch was für den zweiten Brief. Wenn ich nicht gleich alles erzähle, wirke ich total … monströs. So wie Mama neulich, als sie sich so doll geschminkt hat.“
„Mysteriös“, verbessert Papa.
„Das auch“, flötet Jola gutgelaunt. „Und eigentlich brauche ich ja auch überhaupt keinen total coolen Brieffreund mehr, weil Isabell ja jetzt gar nicht mehr kolossal bescheuert ist. Kein bisschen. Die ist nämlich megasuper.“
„Trotzdem finde ich …“, beginnt Papa und streckt dabei seinen Zeigefinger in die Luft, wie er es immer macht, wenn er einen längeren Vortrag halten will.
Aber Jola kennt das schon und weiß, was in so einer Situation zu tun ist. Mit drei schnellen Sätzen ist sie bei Papa, umarmt ihn und gibt ihm einen schmatzenden Kuss auf die Nasenspitze.
Das wirkt. Und wie das wirkt. Papa redet nicht mehr, sondern lächelt nur noch selig.
„Ich glaube, die Brieftaube freut sich auch darüber. Weil sie jetzt ja nicht mehr tätowiert werden muss“, sagt Jola.
„Hätte aber bestimmt sehr cool ausgesehen“, meint Papa. „So eine Taube mit einem Flammenherz-Tattoo ist schon ein echter Hingucker.“
Jola küsst Papa noch einmal. Dann springt sie auf und rennt endgültig in Richtung Haustür.
„Wenn du das so schön findest, kann ich mir ja später so ein Tattoo machen lassen“, ruft sie im Laufen. "Ich finde das nämlich auch schick."
Im Wohnzimmer beginnt Papa lautstark zu husten.
„Nur über meine Leiche“, krächzt er schließlich.
Aber das hört Jola schon gar nicht mehr.