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Jenseits des Schweigens
Jenseits des Schweigens
Hinter mir ist alles vergangen. Am Boden teilen sich Milben und Käfer das Reich, kämpfen um jeden Winkel, graben Gänge in den Staub, schaffen Festungen und Städte. In den Wänden leben die Mäuse, horten längst vergangene Nahrung, streifen umher, atmen leere Luft. In den Winkeln hausen die Spinnen, weben ihr Heim, fangen die Fliegen, sehen an stilles Gemäuer.
Die Uhren machten schon längst ihren letzten Schlag, den ich als einzige noch in meinen Sinnen habe. Der Tisch ist morsch, kleines Getier hat sich in sein Holz gesenkt. Im Dickicht der Stühle und Kisten stehen Schatten des vergangenen Lebens, das sich nur noch spiegelt in den trüben Fenstern, aus denen nichts mehr hinaus sehen kann. Die hier noch sind wollen nichts sehen, die anderen sind lang fort.
Der Staub hat bedeckt das ehemals waltende Leben. Nichts von Bedeutung hat hier noch eine Rolle zu spielen, denn ein verwehter Glanz hängt nur noch schweigend in den Vorhängen, deren einstige Pracht zerrissen und vernichtet ist. Während man in den anderen Zimmern nichts mehr finden würde, so fände man hier noch einen letzten, stillen Hauch, gefangen in den Dingen, die hier und da vergessen wurden:
Dort eine Tasse, darin noch ein kleiner Teich, hier ein Bild, das in Scherben liegt. Ein silberner Löffel, bereits grau und fad, schweigt seinen leisen Reigen in das Zimmer. Ein Seidentuch, früher ein feuriges Stück, heute ein Leichentuch für die Vergangenheit. Überall noch Spuren.
Im Spiegel kein Bild mehr. Das Zimmer liegt so lang schon in seinem Blick, dass er kein anderes Bild mehr zeigen kann. Eingebrannt liegt es vor ihm. Wir teilen unsere Trauer, denn wir sind verlassen.
Gemeinsam haben wir einen kleinen Traum:
Hinter uns wieder das Leben. Kein Staub, keine kleinen Bewohner, die nicht verstehen, was es bedeutet, hier zu sein. Keine einsamen Dinge, die wie wir auf eine Rückkehr warten. Von oben hören wir Schritte, die Tochter schwebt in seidenen Tüchern herab, das Zimmer erstrahlt in ihrem jugendlichen Licht, denn sie kommt ohne Trauer und Leid an den Tisch, setzt sich und bekommt von der Mutter die ersehnte Nahrung. Der Vater kommt herein, streicht sanft mit dem Finger auf mein weiches Holz, denn er liebt es, mich zu sehen. Die anderen Kinder kommen herein und setzen sich. Ein großes Mahl breitet sich aus, scheinbar über die ganze Welt erhellt das Lachen und Singen der Familie den blauen Himmel, der in Sonnenglanz durch die klaren Fenster blickt, so wie die Uhren den Mittag rufen. Leben hinter mir. Das ist der Traum.
Und wenn der verlorene Sohn käme, dann würde er das Leben schon hören. Er würde klopfen, den Vater gar nicht abwarten können, selbst öffnen, seinen Mantel über einen Stuhl legen, sich setzen und den Mittag mit allen teilen.
Er aber hört nichts, jetzt, da er sich nähert. Seine Zweifel liegen in seinem Gesicht. Eine Hand greift an mein morsches, altes Holz. Er aber klopft nicht. Zu lang ist es her, die Gebete für seine Seele, die schon verloren geglaubt war, müssen ihm ins Herz gestiegen sein, denn er zögert. Man wird mich nicht erkennen, denn es ist zu lang schon her, wird er sich denken. Tatsächlich vermutet er wohl, dass das Leben hinter mir weiter seinen Gang ging, nachdem er verloren war.
Darum geht er wieder, dreht sich einmal herum, zögert, aber geht für immer.
Hatte er eine Ahnung ? Konnte er wissen, dass alle anderen nicht mehr da sind ?
Wie gern hätte ich ihn eingelassen, hätte ich ihn getröstet. Er hätte alles neu erblühen lassen können. Seine Trauer wäre verschwunden mit dem ersten Sonnenstrahl, der durch die neuen Fenster in das Zimmer gegangen wäre. Er wäre nicht allein gewesen. Er hätte das Verschwinden der Familie, die so lang gewartet hatte, überwunden mit meiner Hilfe.
Ich aber bin nur eine Tür. Ich kann nur sprechen, wenn ich geöffnet werde.