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Jemand ertrank letzte Nacht in meinem Pool
Mein Name ist Eugen Hartwig, geboren am 4.7.1963. Nur eine kurze Version meines Lebenslaufes; damit sie verstehen wo ich jetzt stehe und was ich bin: ich durchlief, aus meiner Sicht, eine normale Kindheit, behütet, finanziell abgesichert und somit angstfrei. Meine Eltern waren vermögend, Vater starb an einem zu schwachen Herzen. Relativ zeitnah Mutter durch einen Unfall beim Fallschirm-
springen. Da war ich fünfzehn, meine Treuhänder verwalteten viel Geld und die besten Rechtsanwälte ersetzten die starke Hand meines Vaters. Meine schulische Laufbahn verlief reibungslos, Abitur im Internat, Uni - alles summa cum laude. Ich vergrößerte den adelig anmutenden Landsitz meines Vaters, der immer mehr zu meinem wurde. Freunde brauchte ich eigentlich nicht, ein - zwei (die meine Mutter schon zu Jugendzeiten schmallippig mit ihrem um zwei Millimeter angehobenen rechten Mundwinkel als "treue Seelen" bezeichnete). Besonders einer bereitete mir viel Vergnügen: Holger "Holli" Schneider. Der große Zweifler, ständig auf der Suche nach Alternativen, neuen Lebenswegen, unterschwellig aggressiv in seiner Rhetorik - amüsant eben, hauptsächlich aufgrund seines überhöhten Frauenbildes. Er entführte Engel, die sie auf Erden auch bleiben sollten. Was natürlich nicht eintrat - ich kann das bestätigen, da ich aus sportiven Gründen mit allen geschlafen habe.
Am "Tag der Deutschen Einheit " 2013 lud ich Holli zu unserem traditionellen herbstlichen Umtrunk auf meinem Anwesen ein. Es war ein warmer Abend, und so entschloss ich mich, etwas am Pool vorbereiten zu lassen. Mediterrane Leckereien, viel Alkohol (Holli legt in dieser Beziehung eine gewisse Maßlosigkeit an den Tag), Musik aus verlorenen Tagen...das halbe Programm, er war ja nicht einer meiner Geschäftspartner. Ich bevorzugte den kleinen Pool nahe der Grundstücksgrenze, nicht ganz so schön wie der große am Haupthaus, jedoch die massive Mauer aus importiertem finnischen Granit machte auch was her. Er kam pünktlich um 20.00 Uhr (und wenn ich sage pünktlich, meine ich auf die Sekunde, eine weitere Macke seinerseits). Er sah aus wie immer, zerschlissene Jeans, schwarzes verblichenes T-Shirt vom Discounter, Turnschuhe aus Indonesien (nicht die teuren). Ich kam nie dahinter, ob das jetzt Lebensstil, vorgetäuschte Armut oder Gleichgültigkeit war. Anzüge waren seine Sache nicht.
Nun gut, das war Holli. Umarmung, Schulterklopfen - "Mensch Eugen, du alte Nazisau" - "Ach Holli, du blödes Marxistenschwein". Rituale. Essen, Trinken, Austauschen alter Geschichten, friedliche Atmosphäre. Kurz bevor es hitziger wurde beim Austausch neuer Geschichten. Holli hatte seinen vierten Wodka auf Eis in Arbeit ,wurden wir durch unerwartete Geräusche abgelenkt.
Ein Schaben, Kratzen, Keuchen durchsetzt von unverständlichem Fluchen kam vom oberen Ende der Granitmauer, auf der ein Mensch versuchte, sich durch den oben liegenden Natodraht (ich weiß, ein Stilbruch, aber aus versicherungstechnischen Gründen nicht zu umgehen) zu kämpfen. Ich konnte mich ob der Unmöglichkeit dieses Unterfangens und der Situation einer eigentümlichen Faszination nicht erwehren, während Holli rund- und rotäugig seinen Wodka in den Pool spuckte.
Wohl begünstigt durch einen enormen Adrenalinspiegel und/oder anderer Substanzen, schaffte es die Person, sich zu befreien, was nur zur Folge hatte, dass ein drei Meter tiefer Sturz in den unbeheizten Pool folgte.
Nach dem finalen Platsch und der Abregnung des verdrängten Wassers in Form von feinem Niesel bis Schlagregen verschwanden die letzten Wellen leise gurgelnd in der Überlaufrinne des Pools. Der Körper unseres Überraschungsgastes trieb kopfunter mit abgespreizten Extremitäten im azurblauen Wasser meines Beckens, die halblangen schwarzen Haare umspielten wie im tänzerischen Wettstreit mit roten Schlieren medusenartig den Hinterkopf. Die Musik passte…
Ich musste dieses fast perfekte Arrangement gedanklich verlassen, da Holli akustische Störungen von sich gab. Habe ich das schon erwähnt? Er gehört zu der Sorte Mensch, dessen Grundumsatz von einem Brei unpassender Geräusche kommentiert wird. Wie ich ihn manchmal hasse…Letztendlich kristallisierte sich der Brei zu dem Satz: “Der Mann braucht Hilfe!“ Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass mir diese
Notwendigkeit auch schon in den Sinn gekommen sei (was gelogen war) und das dem nicht unbedingt so ist, weil die Person ja schon tot sein könnte, versuchte Holli doch tatsächlich auf eigene Faust, etwas zu unternehmen. Mit einer heftigen Linksdrehung entriss er sich meinen beschwichtigenden Händen (ich habe schöne Hände) und wollte sich in das Wasser stürzen. Absprungwinkel und die Einschätzung seines Gleichgewichtsinnes waren schlecht gewählt. Mein linker Fuß besorgte den Rest und seine hehre Tat nahm ein abruptes Ende. Nachdem der Körper sich ausgekreiselt hatte und zur Ruhe kam, beugte ich mich zu ihm herab (zu nah, sein stinkender Atem nahm mir fast den letzten Rest Selbstbeherrschung) und flüsterte in sein Ohr: „Wir werden ihm helfen, aber das ist mein Pool. Ich werde jetzt in mein Haus gehen, meinen Anwalt anrufen und dann werden wir tun, was zu tun ist.“
Als ich nach dem Telefonat wieder zum Pool kam, war Holli weg. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Die Musik erzählte immer noch von verlorenen Zeiten und meine Augen, Gedanken suchten und fanden den Punkt oberhalb der Schädeldecke unseres Gastes, wo Haare und Blutfäden in vollkommener Harmonie ihren Tanz tanzten.