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Jamaikanisches Selbstbewusstsein
(überarbeitete Version)
"Welcome to Jamaica! Enjoy your visit in our wonderful country!", der Hotelmanager schüttelte jedem neuen Gast die Hand und legte Blumenkränze um ein Dutzend weiße Hälse.
"Was für ein herzlicher Empfang", schwärmte Judith und sog den Duft der Blüten ein.
"Das ist alles nur eine Masche. Das Lächeln ist dem Manager doch im Gesicht festgemeißelt", konterte Peter.
"In Deutschland bin ich noch nie so aufwendig begrüßt worden!", erwiderte Judith.
"Auf den Kitsch kann ich gerne verzichten! Ich wäre auch gerne an die Nordsee gefahren!" Peter vergrub seine Hände in den Hosentaschen und starrte aus dem Fenster. Judith hakte sich bei ihm unter.
"Ach komm, lass uns unsere Flitterwochen in diesem Paradies nicht mit einem Streit anfangen!"
Peter nahm ihre Hände in die seinen und sagte:
"Ja. Entschuldige."
Sein Lächeln versöhnte Judith sofort wieder und sie führte seinen Unmut auf die Erschöpfung nach dem langen Flug zurück.
"Komm, wir ziehen uns schnell um und vertreten uns die Beine am Strand", sagte sie. "Ich kann es nicht mehr abwarten, das Meer zu sehen!"
Zwanzig Minuten später wanderten sie an den Bungalows der Hotelanlage vorbei.
"Ist das nicht ein Christstern? Den haben wir zu Hause in einem Blumentopf!", rief Judith und deutete auf die leuchtend roten Blätter eines zwei Meter hohen Busches, der sich zwischen Palmen und unzähligen ihr unbekannten Pflanzen drängte.
"In der Größe?", fragte Peter. "Wie konnte ich den nur übersehen?"
"Ach du..." Judith versuchte ihn auf den Arm zu schlagen, doch er war schon zur Seite gesprungen. Lachend gingen sie weiter. Ein halbes Dutzend Touristen mit Taucherbrille, Flossen und Sauerstoffflasche auf dem Rücken übten im Swimmingpool Luftblasen an die Wasseroberfläche zu blubbern. Am Strand liefen weißgekleidete Hotelangestellte zwischen Mahagoni-Liegestühlen hin und her, um Polster, Handtücher, Cocktailgläser und Snacks zu verteilen. In einem der strohgedeckten Strandpavillons wirbelte ein Jamaikaner im Rhythmus von Jimmy Cliffs Reggaehit "Wonderful world, beautiful people" den Cocktailshaker durch die Luft. Am Bootssteg standen Surfbretter bereit und kleine Segel-, Ruder- und Motorboote dümpelten in den sanften Wellen. Einzelne Boote und Schwimmer wirkten verloren in dem unendlichen Blau der Karibik. Judith ließ sich die Wellen über die Füße rollen.
"Mensch Peter, kneif mich, ich glaube, wir sind in der Bacardi-Werbung gelandet!"
"Und es gibt keine gefährlichen Tiere, keine Malariamücken, man kann bedenkenlos das Wasser trinken und alles essen. So habe ich mir den idealen Urlaub vorgestellt!"
"Ach, du siehst alles immer so praktisch. Komm, lass uns am Strand entlang nach Westen laufen. Hinter der Landzunge haben wir bestimmten einen tollen Blick auf den Sonnenuntergang!"
Aber nach ein paar Metern standen sie vor einem Stacheldrahtzaun, der von Surfbrettern verdeckt war. Dahinter lag die nächste Hotelanlage
"Was ist das denn? Wir sind ja in einem Touristenknast!", sagte Peter.
"Reg dich nicht auf, das ist doch bestimmt nur zu unserer Sicherheit!"
"In was für einem Land sind wir denn, dass unsere Hotelanlage wie ein Gefängnis eingezäunt werden muss?"
"Dann gehen wir eben die Straße entlang bis zum öffentlichen Strand. Den muss es hier irgendwo geben. Lydia hat mir doch von den idyllischen Strohhütten erzählt, die ihre Clique für zehn Dollar am Tag gemietet hat."
Nachdem sie die beiden letzten großen Hotelanlagen hinter sich gelassen hatten, verwandelte sich die Asphaltstraße in eine Schotterpiste voller Schlaglöcher. Nur noch einzelne Mopeds holperten hier entlang. Ein Zicklein blieb mitten auf der Straße stehen, um an einem Stück Papier zu knabbern.
"Mir graust davor, hier ein Auto zu mieten bei den Viechern, die dauernd über die Straße laufen. Und an den Linksverkehr muss ich mich auch erst noch gewöhnen."
"Ach die Ziegen sind doch süß!"
"Nö, Ziegenfleisch soll sehr herzhaft sein!", Peter grinste und Judith boxte ihn in die Seite. Dann lachten beide, hielten sich an den Händen und beobachteten weiter alles Unbekannte um sich herum. Von den Fassaden der kleinen Hotels im Kolonialstil blätterte die Farbe, in einer Bar dudelte eine Musikbox im 50er-Jahre-Stil "Positive Vibrations". Ein paar Mädchen in Schuluniformen kamen ihnen entgegen. Das strahlende Weiß ihrer Blusen bildete einen starken Kontrast zu ihrer Hautfarbe, die von gut gebräunt bis fast Schwarz reichte. Sie lachten und riefen:
"Aales klaaa!"
"He, Judith, haben die etwa 'Alles Klar' auf Deutsch gesagt?"
"Das habe ich auch verstanden. Sieht man uns etwa schon von weitem an, dass wir Deutsche sind?"
Als sie aneinander vorbeigingen, begrüßten sich alle mit einem fröhlichen "Hello!", die Mädchen liefen weiter, steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Peter blieb stehen und drehte sich um.
"He, fängst du etwa schon an, dich nach fremden Frauen umzudrehen?"
"Ach, die sind mir doch viel zu jung. Aber schau nur, wie ihre Hüften schwingen! Jetzt kann ich auch verstehen, warum schon mehrmals eine Jamaikanerin Miss World geworden ist!"
"Ich fürchte, da muss ich dir neidvoll Recht geben. Aber auch die Hotelboys sind ja echt knackig!"
"Judith, ich glaube, ich muss auf dich aufpassen!"
"Au ja, die nächsten zwei Wochen kannst du mir nicht mit der Ausrede kommen, du hättest noch sooo viel Arbeit!"
Statt einer Antwort nahm er sie in die Arme und küsste sie.
Als sie sich wieder voneinander lösten, blickten sie in die glasigen Augen eines Jamaikaners. Unter seiner rot-gelb-grün gehäkelten Mütze quollen verfilzte Haare bis über die Schultern hinunter. Auf seinem T-Shirt prangte ein großes Hanfblatt mit Aufschrift "Legalize it".
"Ganja, very good quality, very cheap!", flüsterte er Peter ins Ohr und hielt ihm eine grün-bräunliche Masse entgegen. Dieser rümpfte die Nase und wandte sich ab.
"No, no, no, thank you!", Judith machte abwehrende Handbewegungen und zog ihren Freund hastig weiter.
"No problem, no problem!", rief der junge Mann ihnen nach. "Have a nice day!"
"Ja genau, der Tag ist schön genug, da muss ich mich nicht sofort zukiffen", sagte Judith.
"War das ein echter Rastafari?", fragte Peter.
"Von der Drogenfahndung war er wohl kaum."
"Seine Dreadlocks hat er bestimmt fünf Jahre nicht mehr gekämmt! Wenigstens hat er nicht gestunken!"
"Ach Peter, natürlich waschen sie sich. Sie leben nur so natürlich wie möglich und friedlich miteinander."
"Hör endlich auf, die Eingeborenen derart in den Himmel zu loben!", rief Peter und riss sich von ihr los.
"Ist ja schon gut! Schau mal, hier können wir endlich wieder zum Strand!", lenkte Judith ein.
'Warum kann er sich nicht auch ein bisschen für das Land und diese wunderbaren Menschen interessieren?', fragte Judith sich.
Der Strand war grauer und gröber als in der Hotelanlage, dafür schien er endlos zu sein. Die Fenster und Türen der meisten Strohhütten hingen schief oder fehlten ganz. Davor lagen weiße Jugendliche in zerrissenen Jeans und ausgebleichten T-Shirts, einige Mädchen oben ohne, einige Männer mit blonden Dreadlocks. Der Geruch von Marihuana mischte sich mit dem von Grillfleisch und exotischen Gewürzen. Überall lag Müll herum. Aus einem Ghettoblaster tönte Bob Marleys Stimme: "Get up, stand up, stand up for your rights".
"Die sollten erst mal aufstehen, um ihren Müll weg zu räumen!", sagte Peter. "In solchen Hütten hat deine Freundin Lydia gehaust?"
"Ehrlich gesagt kann ich mir das auch nicht vorstellen", erwiderte Judith und schüttelte den Kopf. "Sie hat es so romantisch geschildert. Ich bin froh, dass wir uns so ein Luxushotel leisten können." Sie drängte sich dicht an Peter.
"Tja, hat wohl doch Vorteile, dass ich so viel arbeite!", strahlte er.
Im Schatten der Palmen drängten sich Verkaufsstände für Schmuck, T-Shirts, Wasserpfeifen und jegliches Zubehör. Einheimische und weiße Verkäufer liefen mit ihrem Bauchladen hinter Judith und Peter her und priesen ihre Waren an. Immer wieder mussten die beiden sie mit einem entschiedenen "No, thank you!" abwehren. Als sie durch den feuchten Sand direkt an der Wasserkante entlang spazierten, wurde es ruhiger.
Doch bald gesellte sich ein junger Jamaikaner mit kurzen Haaren, einer grauen Stoffhose und gelbem T-Shirt zu ihnen.
"Hello, welcome in Jamaica, most beautiful land!", er lächelte Judith an. Judith lächelte zurück und erwiderte:
"Hello!"
"Woher weiß er, dass wir gerade angekommen sind?", fragte sie Peter.
"Wahrscheinlich streunt er jeden Tag hier rum, um Touristen abzuzocken."
"Where do you come from?"
"Germany!", antwortete Judith.
"Der hier scheint uns doch nichts verkaufen zu wollen!", sagte sie zu Peter. "Sein Blick wirkte so offen und unschuldig wie der eines Kindes."
"Ich möchte aber mit dir alleine spazieren gehen", erwiderte Peter. "Das waren mir mehr als genug Einheimische für heute."
"Na gut", sagte Judith. Sie wollte den ersten Abend auch in Ruhe mit ihm verbringen. "Wir gehen schnell weiter und ignorieren ihn. Dann werden wir ihn schon los."
Aber der Jamaikaner lief neben ihnen her und plapperte weiter.
"What's your name? My name is Joseph!"
"Schau nur, die Sonne steht schon sehr tief, bald können wir unseren ersten Sonnenuntergang in der Karibik bewundern!", Judith deutete auf den großen Ball, der sich langsam orange färbte und immer größer zu werden schien, je tiefer er sank.
"Yes, sunset in Jamaika is very beautiful!"
"Mein Gott, versteht der Kerl etwa Deutsch?", fragte Peter.
"Vielleicht hat er ein paar Brocken bei Touristen aufgeschnappt oder er hat einfach gesehen, wohin ich deute", antwortete Judith.
"Jamaika people very nice, friend to everybody. I am your friend."
"Jetzt behauptet er auch noch, dass er unser Freund ist! Was will der denn überhaupt von uns?"
"Ach, die Leute hier sind wie Kinder, fröhlich und naiv." Judith fragte sich wieder, warum Peter so gereizt reagierte.
"Ja und oft nervend!"
"Musst du denn immer alles mies machen?" Judith und biss sich gleich darauf auf die Lippen. Sie wollte ihn doch nicht noch mehr reizen! Aber was hatte er nur? Er war doch sonst nicht so.
"I like your trousers", wandte der junge Mann sich an Peter. Der schaute auf seine Hose.
"Das sind doch nur ganz einfache Jeans, noch nicht einmal eine besondere Marke", sagte er.
"Yes, very nice jeans! Give me your jeans! I like jeans."
Peter machte große Augen.
"Ich soll dir meine Jeans geben? Soll ich etwa in Unterhosen weiterlaufen? Freundchen, langsam wirst du unverschämt!"
"Peter, reg dich ab, er hat es doch nicht so gemeint!"
"Jetzt reicht es mir aber!", rief Peter. "Ich will hier in Ruhe spazieren gehen! Verschwinde!"
Der Jamaikaner blieb stehen und lächelte Peter immer noch an.
"Verdammt, wie heißt das auf Englisch? Go away! Fuck off!"
Plötzlich verschwand das Lächeln aus dem Gesicht des Jamaikaners, er stemmte seine Fäuste in die Seite, streckte sich und rief: "I can be everywhere! That's my country!"
Peter blieb der Mund einen Moment offen stehen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt, packte Judiths Hand und rannte zurück. Sie war genauso sprachlos wie er. Nach ein paar Minuten wurden sie langsamer.
"Endlich sind wir ihn los! Der klebte ja wie eine Klette an uns!", sagte Peter.
"Irgendwie kann ich ihn ja verstehen", erwiderte Judith. "Schließlich dringen wir in ein sehr armes Land ein und schmeißen nur so mit dem Geld herum."
"Ja, aber wage mal in Deutschland zu sagen: 'Das ist mein Land!'", erwiderte Peter.
Jetzt konnte Judith sich auch nicht mehr zurückhalten und rief:
"Willst du etwa Einwanderer, die aus wirtschaftlicher Not oder politischer Verfolgung heraus..."
Peter sah sie verwirrt an. "Wie kommst du denn jetzt darauf? Es geht mir nur darum, dass du es hier so toll findest, wenn die Menschen auf ihr Land stolz sind. Wenn ich gerne zur Nordsee fahre, bin ich ein Spießer. Die Flagge vor der Pizzeria nimmst du gar nicht mehr wahr, aber wenn ich bei der Europameisterschaft nur die schwarz-rot-goldene angucke, bin ich gleich rechtsradikal!", er seufzt. "Irgendwie beneide ich die Jamaikaner!"