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Jagdfieber
Im tiefen, dunklen Wald. Zwei Augen, die mich beobachten. Stille. Schnee dämpft alle Geräusche, auch meine Schritte. Langsam bewege ich mich zwischen mächtigen Fichtenstämmen hindurch, die sich über mir in Düsternis verlieren. Die Augen folgen meinen Bewegungen. Als ich mit der Taschenlampe die Felsen beleuchte, die vor mir aufragen, glühen die Augen kurz auf. Dann sind sie weg. Der Wolf hat sich in die Schatten geduckt, um dem Lichtkegel zu entgehen, doch er ist immer noch da. Ich bin in sein Reich eingedrungen und obwohl ich kein Recht habe, hier zu sein, macht er keinen Versuch, mich zu vertreiben. Noch nicht. Er beobachtet mich in aller Ruhe. Wartet ab, um zu sehen, was ich will. Was ich vorhabe. Er kennt Zweibeiner. Sie riechen komisch, bewegen sich auf eine Weise, wie sonst kein anderes Tier. Ein wenig unbeholfen und plump, diese Zweibeiner. Und doch sind sie gefährliche Raubtiere. Er hat gesehen, wie sie seinesgleichen gejagt haben, in Rudeln, vor langer Zeit. Dieser da ist allein. Er könnte ihn vielleicht überwältigen. Der Zweibeiner ist stehengeblieben und sieht in seine Richtung, hebt witternd die Nase. Er bleibt regungslos im Schatten, geduckt, sprungbereit, abwartend.
Die Sekunden verstreichen. Keiner der beiden rührt sich. Schneeflocken fallen vom Himmel, erst vereinzelt, dann werden es immer mehr. Eine Schneeflocke landet auf den Wimpern meines rechten Auges. Ich blinzle und löse mich aus meiner Starre. Die Präsenz des Wolfs hat mich in Bann geschlagen. Sie war fast stofflich, eine mächtige Präsenz, die Raum verlangte und meinen Geist tastend erkundete. Dies ist sein Reich. Ich gehöre nicht hierher. Langsam drehe ich mich um und trete den Rückzug an. Er bleibt im Schatten, doch seine Augen verfolgen jede meiner Bewegungen. Auf dem Rückweg ist alles still, wie zuvor, doch aus dem Augenwinkel sehe ich hin und wieder einen Schatten durch die Bäume huschen. Er scheint mir zu folgen, lautlos und in sicherer Entfernung. Der Wald aus Fichten und einzelnen Tannen ist nun nicht mehr so dicht und durch die Lücken fällt fahles Licht auf die Fußstapfen, die ich auf dem Weg hinein hinterlassen habe. Ich passiere eine Felsformation und stelle nach etwa fünfzig Metern fest, dass der Schatten mir nicht mehr folgt. Ich bleibe stehen und blicke zurück. Und dort, auf einem der Felsen, steht er. Zum ersten Mal kann ich ihn deutlich sehen. Er ist groß und kräftig. Sein silbriges Fell ist vom Schnee bedeckt. Er sieht mich direkt an. Dann dreht er sich um und verschwindet im Wald jenseits der Felsen. Ich bleibe noch einen Moment stehen und horche, doch kein Laut durchdringt die Stille. Ich drehe mich nun ebenfalls um und setze meinen Rückweg fort. Der Schneefall hat aufgehört. Der Mond kommt hinter den Wolken hervor und beleuchtet das Lächeln auf meinem Gesicht.
Mein Rückweg zum Lager führt mich durch immer lichter werdenden Wald auf brachliegende Felder. Die Natur hat die vor langer Zeit aufgegebenen Ländereien längst zurückerobert. In Gedanken versunken bewege ich mich durch das Dickicht aus Birken, jungen Fichten und dornigen Sträuchern, als ich mit einem Fuß hängenbleibe und mit dem Gesicht voran im Schnee lande. Fluchend rapple ich mich auf und klopfe den Schnee von meiner Kleidung. Ich spüre, wie der Schnee in meinem Gesicht zu schmelzen beginnt, und das ist bei unter minus zehn Grad gar nicht gut. Hastig zerre ich das Ende meines Schals unter dem Anorak hervor und wische mein Gesicht trocken. Als ich mich schon wieder in Bewegung setzen will, lässt mich ein flüchtiger Blick zurück auf das, was mich zu Fall gebracht hat, innehalten. Ein bleicher Knochen ragt aus dem glitzernden Schnee, gut sichtbar, sofern man nicht blind vor sich hin träumend durch die Landschaft stolpert. Ich schaufle den Schnee mit den Händen um den aufragenden Knochen zur Seite und stoße schnell auf einen Schädel von beachtlicher Größe. Ich wurde von einer Kuh zu Fall gebracht, die vermutlich von ihren Besitzern zurückgelassen wurde, als sie ihren Hof aufgaben. Kleinere Herden verwilderter Hausrinder und ihrer Nachkommen sind hier nicht ungewöhnlich, doch dieses Exemplar scheint in Freiheit nicht lange überlebt zu haben, denn die Knochen sind stark verwittert. Ich schiebe den Schnee wieder zurück und bedecke damit die sterblichen Überreste einer verschwundenen Zivilisation.
Plötzlich habe ich es sehr eilig, ins Camp zurückzukommen. Ich fühle mich verlassen und klein auf diesem ehemaligen Feld, weit weg von jeder menschlichen Behausung, und die tote Kuh, die ihren Besitzern nicht wichtig genug war, um sie mitzunehmen, tanzt einen knochenbleichen Stepptanz in meinem Kopf, genau hinter meinem rechten Ohr, wo ich jetzt einen pochenden Schmerz verspüre. Ich presse zwei Finger auf die Stelle und der Schmerz lässt etwas nach. Langsam bewege ich mich, setze behutsam einen Fuß vor den anderen. Ich atme ein paar Mal tief durch, dann ist der Schmerz fast verschwunden und ich komme zügiger voran.
Mein nächtlicher Ausflug hat schon viel zu lange gedauert. Der Streit mit meinem Vorgesetzten, der mich überhaupt erst dazu getrieben hat, diesen kleinen „Abkühlungsspaziergang“ zu unternehmen, war im Grunde harmlos. Doch meine Begegnung im Wald macht die Sache unerwartet kompliziert und das ist allein meine Schuld. Kurt wollte die Gebiete südlich des Lagers zuerst untersuchen, da sie mit Hochwald bestockt und durch den spärlichen Unterwuchs besser zu begehen sind. Ich dagegen wollte im Norden beginnen, dem Waldgebiet, aus dem ich gerade komme. In alten Landkarten und Berichten hatte ich Hinweise auf bergbauliche Aktivitäten entdeckt, Stollen und Abraumhalden, die vor etwa zweihundert Jahren aufgegeben wurden. Damals baute man dort ab, was wir nun suchen: Erze, die mit den heutigen technischen Möglichkeiten schneller und vor allem kostengünstiger abgebaut werden können als damals. Doch Kurt hatte keine Lust, sich durch die zugewucherten Brachflächen zwischen dem Waldgebiet und unserem Lager zu schlagen und das machte mich fuchsteufelswild. Jetzt möchte ich mich beim Gedanken an diesen Streit am liebsten ohrfeigen. Hätte ich nicht damit angefangen, gäbe Kurt morgen planmäßig Anweisung, die südlichen Wälder zu untersuchen und bei Vorliegen von Messungen, die Erzvorkommen anzeigten, würde er die Untersuchung beenden, mit der Begründung, dass die aufgegeben Stollen nördlich des Camps dafür sprachen, dass die Erzvorkommen dort bereits erschöpft seien. Die Bergbaugesellschaft würde uns abziehen und die schweren Geräte zur Ausbeutung der Erzvorkommen in den südlichen Wald schicken. Der nördliche Wald, den ich im Stillen und reichlich kindisch schon „Wolfswald“ getauft habe, bliebe verschont. Doch wie ich Kurt kenne, wird er um des lieben Friedens willen morgen mit dem gesamten Team zu Untersuchungen in den Wolfswald ausrücken. Bei dem Gedanken, dass zehn Mann in diesem Wald jeden Quadratzentimeter mit Schallwellen für die seismischen Messungen traktieren werden, wird mir schlecht. Nicht auszudenken, was diese Schallwellen dem empfindlichen Gehör „meines“ Wolfs antun können, vor allem wenn er zu diesem Zeitpunkt in seiner Höhle ist. Davon abgesehen wird ein positives Ergebnis der Messungen das Ende bedeuten. Für den Wolf, sein Reich ... und im Grunde auch für meine Tätigkeit in dieser Branche, das wird mir gerade klar. Denn die totale Vernichtung dieses Lebens wird einzig und allein auf mein Konto gehen. Wäre ich nicht gewesen, hätte sich niemand für dieses Waldgebiet interessiert.
Als ich die Lichter des Lagers durch die Bäume schimmern sehe, bleibe ich zögernd stehen. Ich muss Kurt irgendwie davon überzeugen, dass der Wolfswald eine Erkundung nicht lohnt. Wenn ich ihm einfach sage, dass er Recht hatte, verliert er vielleicht das Interesse an diesem Waldgebiet und sonnt sich stattdessen in seinem Sieg. Wie ich es auch drehe und wende, mir will einfach nichts Besseres einfallen. Entschlossen stapfe ich los und gehe direkt auf sein Zelt zu. Noch bevor ich ganz da bin, wird die Plane am Eingang zurückgeschlagen und Kurt kommt mit schnellen Schritten auf mich zu. Er muss mich kommen gehört haben.
„Um Himmels willen, Anja, wo bist du gewesen?!“
Man kann ihm ansehen, dass er sich tatsächlich Sorgen gemacht hat, doch die steile Falte über der Nasenwurzel und die gerunzelte Stirn bedeuten Zorn, der sich gerade anschickt, die Oberhand über die Sorge zu gewinnen.
„Wir haben das ganze verfluchte Lager und die Umgebung nach dir abgesucht!“
„Ich war im Waldgebiet im Norden, um ein paar Probemessungen durchzuführen.“
Ich versuche, möglichst viel Trotz in meine Stimme zu legen, denn was jetzt kommt, muss überzeugend wirken.
„Ich habe keine nennenswerten Erzvorkommen feststellen können. Du hattest Recht. Die Lagerstätten sind wohl bereits ausgebeutet worden.“
Kurt sieht mich zunächst verdutzt, dann prüfend an. Ich starre zurück. Die Sekunden ziehen sich in die Länge. Ich spüre, wie mir der kalte Schweiß ausbricht, wie immer, wenn ich versuche zu lügen. Mein Körper wehrt sich gegen jede Form von Unehrlichkeit. Kurt muss den feuchten, glänzenden Film auf meiner Stirn bemerkt haben, denn er wird plötzlich misstrauisch. Er tritt einen Schritt zurück und verschränkt die Arme.
„Nein“, sagt er gedehnt. „Das war viel zu einfach. Du würdest mir nie nach ein paar Probemessungen so ohne Weiteres Recht geben. Außerdem warst du zwar gute vier Stunden weg, aber das reicht bei Weitem nicht, um genügend Messwerte zu bekommen, wenn man allein arbeitet. Nein, da ist noch etwas anderes.“
Verdammt. Ich presse die Lippen zusammen. Meine Gedanken rasen und suchen hektisch nach einer plausiblen Erklärung. Kurt sieht mich durchdringend an. Er wartet geduldig. Er weiß, dass ich gelogen habe. Allein schon diese Tatsache hat ausgereicht, um seine Neugier zu wecken. Schnell gehe ich die Optionen durch und komme zu dem Schluss, dass ich bereits schachmatt gesetzt bin. Egal was ich ihm auftische, er wird mir nicht mehr glauben, sondern in jedem Fall losziehen, um herauszufinden, was dort Außergewöhnliches in diesem Wald ist, dass ich bereit bin, dafür zu lügen. Ich sehe nur noch eine einzige Chance: Ich muss ihn auf meine Seite ziehen. Um Verständnis bitten. Um Rücksichtnahme betteln. Und hoffen, dass er versteht. Ich muss ihm die Wahrheit sagen. Mein Magen krampft sich zusammen. Die Stille dröhnt in meinen Ohren. Es ist, als hätte sich der Kosmos zusammengezogen, verengt auf die knapp zwei Quadratmeter, auf denen Kurt und ich stehen. Alles um uns herum nehme ich nur noch verschwommen am Rande meines Gesichtsfeldes wahr. Ich schließe die Augen und unterdrücke den Impuls, die Hände auf meine Ohren zu pressen. Kurt seufzt und zieht dann eine kleine Schachtel mit Tabletten aus einer seiner unzähligen Westentaschen. Wortlos hält er mir zwei Aspirin hin. Ich würge sie trocken hinunter, atme einmal tief durch. Besser. Ich spiele auf Zeit, doch es hat keinen Sinn, es länger hinauszuzögern. Kurt fixiert mich immer noch, sein Blick hat jetzt etwas Lauerndes. Fast wie eine böse Vorahnung leuchtet etwas im Strudel meiner Gedanken kurz auf: Das hier wird nicht gut ausgehen. Ich atme nochmal tief durch. Tu es einfach.
„Kurt, ich ... ich war wirklich dort, um Probemessungen zu machen und um mich ein wenig umzusehen. Ich dachte, vielleicht finde ich einen Eingang zu den alten Stollen. Aber so weit bin ich gar nicht gekommen. Ich habe einen Wolf gesehen. Das war ... beeindruckend. Und ich hielt es für besser, wieder zu verschwinden.“
Als ich den Wolf erwähne, weiten sich Kurts Augen überrascht. Nun kräuselt ein leichtes Lächeln seine Lippen. Seine Augen beginnen zu leuchten. Ich weiß, was das ist. Jagdfieber.
„Kurt, er gehört zu diesem Wald, wie die Bäume und die Felsen. Ich bitte dich, lass uns das einfach vergessen und unsere Arbeit auf den südlichen Flächen erledigen, wie du es wolltest. Dann verschwinden wir von hier und niemand wird diesen Wald je wieder betreten.“
Ich habe längst verloren. Ich kann es in seinem Gesicht sehen, in den Augen, die jetzt regelrecht glühen, den vor Vorfreude gebleckten Zähnen, und an seiner Körperspannung, die sich stetig erhöht. „Ich fürchte, das geht nicht, Anja“, sagt er leise. „Wölfe sind Raubtiere und ich kann nicht riskieren, dass einer möglicherweise meine Leute anfällt.“
„Der Wolf steht in Deutschland immer noch unter Schutz!“
Sein raubtierhaftes Grinsen verzieht sich höhnisch.
„Dann zeig mir mal die Regierung, die das durchsetzen will! Deutschland ist seit zwanzig Jahren eine menschenleere Eiswüste und die haben das sinkende Schiff als Erste verlassen! Wahrscheinlich gibt´s hier mittlerweile mehr Wölfe als Menschen!“
„Kurt, das kannst du nicht tun!“
Kurt nimmt gar nicht mehr wahr, dass ich mit ihm rede. Er hat sich abgewandt und brüllt: „Leute, schnappt euch eure Gewehre! Wir gehen auf Wolfsjagd!“
Von begeistertem Stimmengewirr begleitet, sind plötzlich alle in Bewegung. Hilflos sehe ich zu, wie einer nach dem anderen mit einem Gewehr aus seinem Zelt kommt. Einige schnallen sich auch noch ein Messer an den Gürtel. Dann ziehen sie los, eine Horde von zehn Mann, bewaffnet bis an die Zähne. Dabei machen sie Lärm für fünfzig, und ich gestatte mir die Hoffnung, dass der Wolf schon weit weg sein wird, wenn meine mordlustigen Kollegen den ersten Fuß in den Wolfswald setzen.
Die folgenden Stunden kommen mir wie eine Ewigkeit vor. Ich tigere zwischen den Zelten auf und ab, bis mir die Füße wehtun. Also gehe ich in mein Zelt und strecke mich auf dem primitiven Feldbett aus. Ich versuche zu schlafen, aber meine Sinne sind bis zum Anschlag auf Empfang, registrieren jedes Geräusch, jede noch so unscheinbare Bewegung jenseits der Zeltplanen, jeden Lufthauch. Mein Gehirn scannt jedes Rascheln der Blätter auf Anomalien, auf Bestandteile des Geräusch-Spektrums, die nicht natürlichen Ursprungs sind. Minute um Minute verrinnt, Stunde um Stunde. Die Enge des Zeltes wird unerträglich, sie drückt von allen Seiten gegen meinen Schädel, raus, ich muss raus an die frische Luft.
Am Rande des Lagers liegt ein Felsbrocken, der bequem aussieht. Den Kopf auf die Knie gestützt, die Arme um die Beine geschlungen, sitze ich mit weit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit und warte. Es ist kalt. Ich weiß, dass es kalt ist, doch ich fühle nichts. Ich horche in die Nacht, warte. Und dann, fast ist es eine Erlösung, fällt ein Schuss. Dann ein zweiter. Ich schließe die Augen. Mir ist, als hätte mir jemand ins Gesicht geschlagen. Ich bleibe noch ein paar Minuten auf meinem Stein sitzen. Vor meinem geistigen Auge kann ich sehen, was sich im Wolfswald abspielt. Zehn Mann stehen um einen Kadaver herum, lachen, scherzen, ein Flachmann mit einem hochprozentigen Klaren macht die Runde. Sie sind in Hochstimmung. Ein grotesker Anblick.
Ich habe genug gesehen. Ohne Eile packe ich die wenigen persönlichen Dinge zusammen, die ich auf diese Reise ohne Rückkehr mitgenommen habe. Dazu Proviant für drei Tage. Nun habe ich nur noch eine Sache zu erledigen. Das Zelt mit der technischen Ausrüstung beherbergt auch die Wasservorräte in einem isolierten Tank. Wie überaus praktisch. Ich fülle ein Glas mit Wasser und lasse dann ein dünnes Rinnsal über die Messgeräte auf dem Tisch laufen. Keine weiteren Untersuchungen für dich, Kurt. Das Glas lasse ich neben den Geräten stehen. Ich schultere meinen Rucksack und werfe einen letzten Blick auf das Lager. Ruhig und friedlich liegt es da. Dann wende ich mich ab und mache mich auf den Weg. Ich verlasse das Lager in östlicher Richtung. Der tiefe, dunkle Wald schließt sich hinter mir, verschluckt mich und endlich spüre ich Frieden.
Epilog
Kurt nahm noch einen großen Schluck von Michaels Birnenschnaps. Er genoss das Brennen, als der Schnaps seine Kehle hinunter rann. Ihm war angenehm warm. Das Hochgefühl der Jagd und der Blutrausch beim Abschuss waren einer wohligen Zufriedenheit gewichen, die sich wie ein warmer Nebel in seinem Kopf breit machte. Die Bestie lag ihnen zu Füßen. Mittlerweile müsste das Vieh sicher ausgeblutet sein. Das Fell würde einen stattlichen Mantel abgeben. Und den Kopf könnte er sich ausstopfen lassen. Kurt lächelte in sich hinein. Zeit, ins Lager zurückzukehren. „Auf geht´s, Leute, hängt das Vieh zum Tragen an einem Ast auf und dann machen wir uns auf den Rückweg!“ Gehorsam setzten sie sich in Bewegung, mancher ein wenig schwankend. Oder war er es, der schwankte? Sicherheitshalber lehnte er sich an eine der dicken Fichten, bis seine Leute abmarschbereit waren. Dann zogen sie im Gänsemarsch los, gut gelaunt durcheinander schnatternd, und so fiel es niemandem auf, als Michael etwas zurückfiel. Er kramte in seinen Taschen, auf der Suche nach dem Flachmann mit dem kostbaren Birnenschnaps, und blieb schließlich stehen. Der Flachmann musste ihm kurz nach dem Abmarsch aus der Tasche gefallen sein. Unschlüssig blickte Michael seinen Kollegen hinterher. Dann wandte er sich um und lief zurück in die Finsternis. Er bemerkte den Schatten nicht, der ihm folgte, und auch den zweiten und dritten nicht, die sich dem ersten hinzu gesellten. Bald waren es fünf dunkle Verfolger, die ihm auf den Fersen waren. Sie holten schnell auf und brachten ihn dann nahezu lautlos zur Strecke. Sein alkohol-benebeltes Gehirn nahm noch wahr, dass ihm etwas gegen den Rücken prallte und ihn zu Fall brachte, dann waren finstere Schatten über ihm. Er wollte schreien, doch ein plötzlicher Schmerz in seiner Kehle war das Letzte, was er bewusst wahrnahm. Seine Augen starrten blind gen Himmel, während sich die grauen Jäger um ihre Beute balgten.
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In Gedanken versunken bewegt sie sich zügig durch den Wald. Sie bemerkt den Schatten nicht, der ihr in einiger Entfernung folgt. Er ist kleiner als der erste, doch nicht weniger wölfisch. Der ganze Wald riecht nach Blut und nach Menschen, deren Ausdünstungen sich schwer über den metallischen Blutgeruch legen. Der Alte ist tot. Nun werden sich die Jüngeren um seine Nachfolge streiten. An einem Felsvorsprung bleibt der kleine Schatten zurück. Hier endet das Reich des Alten. Der Mond versinkt hinter fernen Bergspitzen und schützende Dunkelheit senkt sich über die Fliehende. Der Schnee dämpft alle Geräusche. Stille im tiefen, dunklen Wald.