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Jagd
Ich fliehe. Wie lange schon? Ich weiß es nicht. Bäume, Büsche scheinen an mir vorbei zu fliegen. Ein Ast peitscht mir ins Gesicht. Ich spüre es nicht. Ich höre den hechelnden Atem der Hunde hinter mir. Ihr japsendes Knurren, Bellen. Gnadenlos hetzen sie mich durch den Wald. Eine Lichtung. Ich verlasse den Wald und renne über eine Wiese. Ich strauchle, kann mich fangen, laufe weiter. Die Menschen feuern ihre Hunde an, schießen mit ihren Waffen auf mich. Warum?? Ich habe ihnen nichts getan! Sie töteten meine Freunde, meine Familie. Alle blieben zurück. Nur noch ich bin übrig. Nichts ist mehr wichtig. Ich weiß: Lange halte ich diesen rasenden Lauf nicht mehr aus. Ich bin verletzt. Meine linker Vorderlauf schmerzt. Warmes Blut rinnt an meiner Pfote hinunter. Die Hunde holen auf. Mir wird klar, dass ich keine Chance habe. Und mir ist es egal. Ich wusste nicht, dass es so einfach ist zu sterben stelle ich verwundert fest. Die Angst gibt mir Kraft. Ich scheine mein Tempo noch einmal zu steigern. Die letzten Kraftreserven sind aufgebraucht. Ich springe über einen Baumstumpf. Seltsam – ich habe nie wahr genommen, wie er riecht. Mit unnatürlicher Klarheit sehe ich die Bäume, die mich umgeben, nehme den Geruch des Grases wahr, höre das Klopfen des Spechtes, sehe die angreifende Meute der Hunde. Aus rasendem Lauf bleibe ich stehen. Meine Pfoten krallen sich in den weichen Boden. Mit einem drohenden Knurren in der Kehle drehe ich mich um. Da kommen sie. Meine Flanken beben. Ich blecke meine Zähne. Langsam verteilen sie sich in einem Kreis um mich. Ja, sie haben Angst vor mir. Wie seid ihr doch verkommen. Dem Menschen habt ihr euch unterworfen. Doch ich bin frei. Und dafür werde ich sterben. Was ein geringer Preis für die Freiheit. Ich knurre sie an. Seht ihr? In mir ist Leben! Ihr werdet mich töten, ja. Doch ich werde mein Leben teuer verkaufen. Ich sterbe für meine Freiheit. Und ihr? Auch ihr werdet einst sterben, als alte, klapprige Gestelle, die ihr Gnadenbrot von einem Menschen empfangt. Oder aber sie werden euch töten, genau wie mich jetzt. Sie werden euch genauso abknallen mit ihren Gewehren. Ich werfe ihnen meinen Trotz ins Gesicht. Die Entschlossenheit in ihren Augen flackert. Noch ein letztes Mal erhebe ich meine Stimme. Ich springe vor und zerfetze dem ersten die Kehle. Blutend sinkt er zu Boden. Seinen Tod sah er nicht nahen. Ein zweiter humpelt jaulend davon. Jetzt sind sie über mir. Ein Schuß zerreißt die Luft. Mit brechenden Augen schaue ich sie an: Ich bin frei. Und was seid ihr, ihr Narren?