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Itschie
„Psst!“, zischte Itschie dem Jungen zu, der vor dem Bücherregal mit den Tiergeschichten stand. Der Junge reagierte nicht, stattdessen zog er ein Buch heraus und setzte sich im Schneidersitz auf den Teppichboden, das Buch auf dem Schoß. Itschie las: „Der Igel im Park.“ Das Regenhimmelgrau seines Körpers wurde heller und türmte sich zu fröhlichen Schäfchenwolken auf.
„Hey! Psst!“, versuchte Itschie es noch einmal, aber der Junge sah nicht von seinem Buch auf, schaute nicht hoch ins Regal, wo Itschie neben einem Buch hervorlugte und mit seinem Rüssel winkte. Itschies Mutter hatte seiner Schwester Minzie und ihm immer gesagt: „Wenn die Bibliothek geöffnet ist, bleibt ihr in den Regalen, hinter den Büchern!“, aber der Titel des Buches sah so lecker, so verführerisch aus, dass Itschie die Ratschläge der Mutter vergaß und sich mit Händen und Schwanz von einem Regalbrett zum nächsten hangelte, um schließlich vom zweiten Regalbrett - drei, zwei, eins - abzuspringen und mitten auf dem Buch zu landen, das der Junge las. Doch bevor Itschie etwas sagen konnte, etwas wie: „Hey du!“ oder: „Na, wie gehts?“, fiel dem Jungen das Buch aus der Hand und landete zugeklappt auf dem Boden.
Itschie presste sich mühsam aus dem Buch heraus, sein Körper verdunkelte sich und sah nun wie eine Gewitterwolke aus. Vom Boden sah er zu dem Jungen hoch, der nichts sagte und ihn nur mit großen, blauen Augen anstarrte. Itschie fand, er hatte etwas Ähnlichkeit mit einer Kuh: Er sah ein bisschen süß aus und ein bisschen dumm zugleich. Mit dem Rüssel deutete Itschie auf ihn und sagte: „Du!“
„Ja?“, sagte der Junge.
Itschie legte den Kopf schief, sein Rüssel blieb weiter auf den Jungen gerichtet. „Du hast mich fallenlassen!“
„Entschuldige!“
Da lachte Itschie, klatschte in die Hände und fragte: „Wie heißt du?“
„Max.“
„Ich heiße Itschie.“
„Und was bist du?“, fragte Max.
„Ein Wortzapfler, was auch sonst? Siehst du doch an meinem Rüssel! Lernt ihr Kinder denn gar nichts mehr in der Schule heutzutage?“
„Doch! Rechnen und Schreiben und so was.“
„Nun, immerhin!“, sagte Itschie und kratzte sich am Hinterteil. „Hör mal, ich habe dich mit dem Buch gesehen und ganz ordentlich Appetit bekommen. Es gibt sicher jede Menge ‚Igel‘ da drin, ein paar von denen könnt ich ganz gut vertragen. Guck, ich bin schon ganz durchsichtig!“ Das stimmte aber nicht, denn sein Körper hatte wieder die Schäfchenwolkenfarben angenommen. „Das heißt, ich muss dringend was vor den Rüssel kriegen, sonst: schwupsikus verschwindibus. Also kann ich jetzt ein paar ‚Igel‘ verrüsseln?“
Max sah ihn wieder an.
„Na los!“, sagte Itschie und stampfte mit dem Fuß auf den Buchdeckel. „Schlag auf! Wir fangen mit der Titelseite an, denn Ordnung muss sein!“
Als Max das Buch vom Boden nahm, kletterte Itschie auf seine Hand. Max öffnete das Buch und blätterte zur Titelseite. Itschie sprang drauf und steckte seinen Rüssel in das ‚I‘ von Igel, sagte: „Lecker!“, während sein Rüssel zum ‚g‘ wanderte, dann zum ‚e‘, zum ‚l‘ und so den gesamten Titel entlang.
„Herzhaft und würzig, käsig und nussig und wirklich ganz vorzüglich“, sagte Itschie. „Blätter weiter!“ Und Max blätterte weiter, dorthin wo die Geschichte vom Igel im Park begann. Itschie suchte die ‚Igel‘ aus dem Text heraus und rüsselte sie genussvoll entlang.
„Etwas herb und ein bisschen zäh. Aber gut, aber gut!“, sagte er über den ‚Park‘, dem er ebenfalls hin und wieder seinen Rüssel zuwandte. Immer wieder sagte er: „Weiterblättern!“, und Max, der immer noch im Schneidersitz auf dem Boden saß, blätterte weiter. Nach einigen Seiten setzte Itschie sich. Sein Körper hatte ein sehr dunkles Grau angenommen.
„Das war gut! Aber ich könnte noch einen Nachtisch vertragen“, sagte Itschie. „Weißt du, was ich schon lange nicht mehr hatte? Eine leckere, fluffige, noch warme ‚Liebe‘, hach, mit einem Hauch Zimt. Oh ja, oh bitte, kannst du mir eine besorgen? Kannst du?“
Max sagte: „Ähm …“
„Sich mit dir zu unterhalten, ist wie …“ Itschie kratzte sich mit seinem Rüssel am Kopf, aber ihm fiel kein passendes Wort ein und so sagte er: „Na ja, jedenfalls macht es so keinen Spaß und das ist ja nun mal das Wichtigste, nicht wahr? Dass es Spaß macht!“
„Ich bin nur so überrascht“, sagte Max. „Ich habe noch nie von Wortzapfen gehört.“
„Zapfler“, sagte Itschie und wiederholte: „Wort-Zapf-Ler! Unterschlage nicht das ‚L‘, das schmackhafte. Keiner mag das ‚N‘. Na ja, doch, eigentlich mögen alle das ‚N‘, nur ich nicht. Ich habe eine ganz schreckliche ‚N‘-Allergie und gegen das ‚U‘ bin ich noch viel furchtbar allergischer. Du willst nicht in meiner Nähe sein, wenn ich mal aus Versehen ein ‚und‘ verrüsselt habe. Trompeten und Posaunen!“ Itschie hob die Hände an den Rüssel, als wäre er eine Trompete. „Und der Geruch.“ Itschie wedelte mit seiner Hand vor dem Rüssel. „Puh!“
„Du hast eine Buchstabenallergie?“, fragte Max.
„Nur gegen ‚U‘ und ‚N‘! Meinst du, du findest hier irgendwo eine ‚Liebe‘ für mich oder auch zwei?“
„Keine Ahnung“, sagte Max. „Wo könnte ich denn eine ‚Liebe‘ für dich finden?“
„In der Romantikabteilung wimmelts nur so von denen. Lass uns dorthin gehen!“
Max wusste nicht, wo die Romantikabteilung war, aber mit Itschies Hilfe gelangte er schließlich zu einem Regal mit Liebesgeschichten und las einige Titel vor. „Die Liebe und ihre Eigenarten“, las Max gerade, als Itschie sagte: „Au ja, so viele Leckereien schon im Titel, das will ich probieren!“ Und Max nahm das Buch aus dem Regal, setzte sich wieder auf den Boden, das Buch in seinem Schoß, und blätterte zur Titelseite.
Der Titel war in schön geschwungenen Buchstaben geschrieben. Itschie klatschte in die Hände, als er es sah, steckte seinen Rüssel in das ‚D‘ und hatte auch schon den gesamten Titel verrüsselt. ‚Die Liebe‘ - weich und fluffig, süß und zimtig, in geschwungenen Buchstaben - war für ein Naschzapferl wie Itschie ein richtiger Leckerbissen. Die vielen ‚I‘s und ‚E‘s im Titel, die so köstlich miteinander verschmolzen, machten nicht nur satt, sondern auch glücklich. Das dunkle Grau seines Körpers war in ein sattes und seidig schimmerndes Nachthimmelschwarz übergegangen, doch dann zogen nebelgraue Schlieren auf und bildeten einen Wirbel, der sich drehte und drehte, sodass einem beim Zusehen ganz schwindelig wurde.
„Oh nein!“, sagte Itschie und krümmte sich vor Schmerzen. “Ich habe das ‚und‘ verrüsselt.“ Der Wirbel drehte sich immer schneller, bis er Itschies Körper in einem gewaltigen Furz verließ. Itschie entspannte sich und nahm wieder das Nachtschwarz an, hatte den seidigen Schimmer jedoch verloren.
„Tut mir leid“, sagte Itschie, „ich weiß, es stinkt ganz fürchterlich!“
„Ach was“, sagte Max und wedelte mit der Hand den Rauch beiseite. „Ist gar nicht schlimm.“ Aber Itschie merkte, dass Max nur freundlich war, und schämte sich.
„Meine Schwester Minzie …“, sagte Itschie und setzte sich im Schneidersitz auf das Buch, „hat keine doofe Allergie. Kein einziger Wortzapfler hat eine blöde Allergie. Oder kennst du einen?“ Aber Max kannte keinen Wortzapfler und auch sonst niemanden, der allergisch auf ‚U‘ und ‚N‘ reagierte und der von ‚und‘s Magenkrämpfe und Darmwinde bekam.
„Minzie kann sich durch alle Bücher rüsseln, wie sie will, von vorne bis hinten, eine ganze Geschichte lang. Aber es gibt kein anständiges Buch ohne ‚und‘. Ich würde auch mal gerne eine ganze Geschichte verrüsseln, richtig eintauchen, nicht immer aufpassen müssen.“ Eine dunkle Träne lief ihm über das Gesicht, die er mit seinem Rüssel wegwischte.
„Komm, ich blättere um!“, sagte Max, aber Itschie war traurig. Und Wortzapfler, die traurig sind, haben keinen Hunger.
„Meine Mama liest gerne Gedichte“, sagte Max. „Da gibt es manchmal welche ohne ‚und‘.“
Itschie sah ihn an. „Wirklich? Ein ganzes Gedicht ohne ein einziges ‚und‘?“
„Ja“, sagte Max und nickte, „von vorne bis hinten kein einziges ‚und‘!“
Itschie stand auf und deutete mit seinem Rüssel auf Max. „Gibts auch welche ohne ‚U‘ und ohne ‚N‘?“
„Ich weiß nicht“, sagte Max. „Gibt es hier eine Abteilung für Gedichte? Wir könnten nachsehen.“
Itschie leitete Max zu den Gedichten, doch sie fanden keines, das für Itschie ganz und gar bekömmlich gewesen wäre. Es gibt viele Worte mit ‚U‘ und noch viel mehr Worte mit ‚N‘: ein, den, denn, wann ...
„Ich glaube nicht, dass wir ein Gedicht ohne ‚U‘ und ohne ‚N‘ finden“, sagte Max darum.
Itschie ließ die Schultern hängen. Er war noch immer schwarz und noch immer matt und glanzlos. „Bring mich zurück zu den Kinderbüchern, dort bin ich am liebsten!“, sagte er und Max brachte ihn zurück, setzte ihn im Regal des Igels im Park wieder ab, wo Itschie sich hinter den Büchern verkroch, so wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte.
„Warte hier!“, sagte Max und Itschie wartete, was sollte er auch sonst tun? Er war traurig.
Nach einer Weile kam Max mit einem Zettel in der Hand zurück. „Der ist für dich!“, sagte er und legte ihn zu Itschie hinter das Igel-Buch. „Nächste Woche komme ich wieder und bringe dir noch mehr.“
Auf dem Zettel stand in Max' allerschönster Schönschrift geschrieben:
Dort am Himmel lacht das Licht
Hier zwitschert leise 1 Vogel im Geäst
Ich schreibe dir 1 Gedicht
So wird für dich jetzt jeder Tag 1 Fest
Eine Woche später hatte Max drei Gedichte für Itschie geschrieben, allesamt ohne ‚U‘ und ohne ‚N‘, die er hinter den Büchern in den Regalen der Bibliothek auslegte. Jedes Mal, wenn Max nun in die Bibliothek ging, um die alten Bücher abzugeben und sich neue auszuleihen, legte er Zettel in die Regale, auf die er Gedichte für Itschie geschrieben hatte. Er benutzte so oft es ging Itschies Lieblingsworte, allen voran: ‚Liebe‘, die so schön fluffig und zimtig-süß schmeckte, aber auch ‚Zwielicht‘, von dem Itschie meinte, dass es ganz wunderbar prickelte.
Wenn du also jemals in den Regalen einer Bibliothek einen Zettel findest, dann sieh genau hin. Falls ein Gedicht auf dem Zettel steht, in dem kein einziges ‚U‘ und kein einziges ‚N‘ vorkommt, dann ist es ganz sicher ein Gedicht für Itschie und du weißt dann: Hier wohnt Itschie, hier in der Bibliothek hinter den Büchern.