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Italienischer Cappuchino
Leise säuselnde Musik durchglitt die warme Luft des kleinen Bistros und Victor blickte auf. Ein schepperndes Klirren hatte den alten Mann aus den brütenden Tiefen seines Geistes vertrieben und ließ ihn nun wieder die lauwarme Tasse zwischen seinen Handflächen spüren. Die zierlich gebaute Angestellte schüttelte sich verschämt die rotbraunen Locken aus dem Gesicht und blickte dem einzigen Gast ihres Etablissements flüchtig in sein zerknittertes Gesicht. Derweil breitete sich langsam eine dickflüssige Pfütze brauner Eisschokolade zu ihren Füßen aus und floss zielstrebig, aber ohne Hast, zwischen einigen blau emaillierten Porzellansplittern hindurch auf ein nahes Abflussgitter zu.
Victor beobachte für eine kurze Weile die Bemühungen der jungen Frau, wieder für Ordnung zu sorgen. Leicht amüsiert verfolgte er mit, wie sie mit spitzen, sauber manikürten Fingern die Scherben auf dem Boden einzusammeln begann. Ein Tropfen Kakaoflüssigkeit wagte es dann doch tatsächlich, sich dabei in ihren Hemdsärmel hinein zu saugen. Entnervtes Schnaufen kündete kurz darauf davon, dass das nun zweite Missgeschick auch ihrerseits bemerkt worden war. Einige Fältchen an Victors Augenwinkeln verrieten seine Gedanken während des folgenden Vorgangs, an dessen Ende sich schließlich der dunkle Invasor auf dem weißen Blouson seiner Trägerin durch eine Reihe energischer Reinigungsbemühungen in eine ausgedehnte ockerfarbene Fläche (von etwa doppelter Ursprungsgröße) verwandelt hatte.
Genüsslich leckte Victor sich die Sahne von der Oberlippe. Er stellte das Getränk wieder hin und ließ seinen verträumten, schwarzäugigen Blick über die Szenerie vor der großen Frontscheibe der Kaffeestube wandern. An einem Nachmittag im Spätsommer, wie jetzt, waren eine Menge Leute auf dem weitläufigen, runden Platz unterwegs, dessen Mitte ein aus weißem Stein gefertigter Brunnen zierte. Am Rande dieses gutbesuchten Ortes drückte sich ein kleines Cafe zwischen hohe Altbauten, in welchem ein betagter Beobachter in eben diesem Moment zwei auf dem gerade besagten Platz entlang flanierende Personen in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte.
Francoise hatte ihre schmale Hand fest mit der ihres Freundes verflochten. Ihren Augen war es einfach unmöglich geworden von seinem Profil loszukommen. Gerade eben, dort drüben am Brunnen, hatte er sie gefragt, worauf sie schon fast seit dem Moment ihres ersten Beisammenseins gehofft hatte. Deutlich spürte sie das noch kühle, silberne Metallband am Ringfinger ihrer freien Hand. Sie merkte, wie es sich langsam mit Wärme füllte, ganz so, wie ihr klopfendes Herz davon durchströmt worden war, als Antoine sich beim Geräusch plätschernden Wassers vor ihr hingebeugte und sie die Worte, welche dann wenige Momente später von seinen Lippen fließen sollten, schon in seinen Augen hatte lesen können.
Wie eine kristalline, klar herausgebildete Struktur lag die Zukunft nun vor ihr und durchpulste ihren Körper mit einer erregenden Gewissheit. ,Glück und Geborgenheit. An seiner Seite alt werden. Es war so schön. ’ Ein rosiges Lächeln teilte ihre Lippen.
Unsichtbar für die umhergehenden Spazierer beobachtete eine grau gekleidete Gestalt das Treiben auf dem Platz. Veränderung, die Vertraute und Weggefährtin des Schicksals, langweilte sich. Die Welt war nicht mehr wie zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit. Vergangene Epochen boten noch Überraschungen und Abwechslung. Grosse Umwälzungen in der Historie folgten den Handlungen einzelner, ihrer Meinung nach ansonsten unbedeutender, Personen.
Sie und ihre ewige Begleiterin hatten solche Wesen erst einen bedeutenden Teil in der Geschichte der Menschheit einnehmen lassen. Aber derart richtungsweisende Leute waren dieser Tage rar geworden. Politik und Gesellschaft waren in einer kulturellen, als auch geisteswissenschaftlichen Stagnation gefangen, die kaum Verwendung für außergewöhnliche Individuen besaß. Einfach nichts geschah, das dieser ideologischen Flaute einen kleinen, aber dennoch notwendigen Anstoß gab. Aufdiktierte Trivialitäten, wie die Planung des Todes dieser jungen Frau dort drüben, bildeten heute ihre täglichen Aufgaben. Schicksal, die nahebei stand, nickte ihr bestätigend (und in gewisser Weise aufmunternd) zu.
So nahm die Veränderung ihren unvermeidbaren Verlauf.
Sie litt keine Schmerzen. Die Umgebung wurde einfach schwarz und ihr Geist erlosch. Entsetzt nahm ihr Verlobter den zusammen gesunkenen Körper in die Arme. Seine Augen waren vor Unglauben und Entsetzen weit aufgerissen.
Victor studierte dies alles mit regungsloser Miene. Die Tasse vor ihm war leergetrunken und wartete darauf, neu gefüllt zu werden. Er nickte durch das Fensterglas flüchtig den beiden verschwommenen Frauen zu, die etwas außerhalb einer rasch gebildeten Menschentraube miteinander redeten. Sie erwiderten seinen stummen Gruß und verschwanden. Entspannt lehnte sich Victor auf seinem Stuhl zurück und winkte der (von dem Geschehen draußen teilweise abgelenkten) Kellnerin, um eine neue Bestellung aufzugeben.