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Instinkt
Es hätte ein schöner, ruhiger Samstagnachmittag werden können. Vor dem Fenster tanzten die Schneeflocken und an den Bäumen wuchsen Eiszapfen, aber im Haus herrschte eine angenehme, schläfrigmachende Wärme, der voll aufgedrehten Heizung sei Dank. Als Melinda plötzlich angefangen hatte zu kreischen, wusste Owen, dass es mit dem geruhsamen Samstagnachmittag vorbei war. Er dachte zuerst, dass es endlich so weit sei, dass er jetzt gleich die gepackten Koffer aus dem Schlafzimmer holen und Melinda ins Krankenhaus fahren könnte, aber da hatte er sich wohl verfrüht Hoffnungen gemacht. Als er Sekunden später den Grund für Melindas Gekreische sah, wünschte er sich, sie hätte ihr Nachmittagsschläfchen gehalten und nicht gesehen welchen neuen Mitbewohner sie da hatten.
„Ich kann das nicht, verdammt noch mal, du meinst wohl mir ekelt es vor gar nichts, oder?“, empörte sich Owen und schaute seine Frau anklagend an.
Er fragte sich immer wieder, wie Melinda diese Tiere entdeckte. Sie schien manchmal in ihrer eigenen kleinen Welt zu leben, in der es nicht viel gab außer Modezeitschriften, den Fernseher und das Telefon. Wahrscheinlich würde sie es nicht mal bemerken, wenn vor ihrer Nase ein Ufo landen würde, aber wenn es um Kleinigkeiten ging wie eine Spinne oder einen Käfer, der sich in die Wohnung verirrt hatte....ja, DA hatte sie Augen wie ein Adler. Owen hatte nichts gegen Spinnen, okay, sie waren nicht gerade die Art von Tieren die er gerne anfassen würde, geschweige denn eine davon in seinen Schuhen oder in seiner Jacke vorfinden wollte, aber solange sie in sicherer Entfernung in einer Zimmerecke saßen interessierten sie ihn nicht. Nun gut, in diesem Fall war es natürlich schon ein wenig anders.
„Jetzt mach schon, bitte, schnell bevor sie hinter den Schrank krabbelt“, flüsterte Melinda, als hätte sie Angst die Spinne könnte sie hören und schnell das Weite suchen.
„Ja, ja, ist ja gut“, fasste sich Owen ein Herz. Was tut man nicht alles für seine Frau. Vor allem wenn sie hochschwanger war. Es war nicht gut wenn sie sich so aufregte. „Leg dich wieder hin, ich mach das schon, okay Schatz?“, sagte er einfühlsam und führte sie zurück zur Couch. Das Baby konnte jederzeit kommen, der Arzt meinte, dass es maximal noch sieben Tage dauern würde, es aber auch schon in 48 Stunden so weit sein könnte, je nachdem wie eilig es das Baby habe aus seiner Mutter herauszupurzeln. Ihr Bauch war so dick das es aussah als hätte sie einen Medizinball unter ihr Nachthemd gestopft und auch sonst gab es einige weniger schöne Dinge an einer schwangeren Frau, dennoch war Owen geduldig und tat sein Bestes um sie zu unterstützen und ihr Mut zuzusprechen. Es war ihrer beiden erstes Kind und Owen bereute seine Entscheidung Vater zu werden keine Sekunde lang. Im Gegenteil, er freute sich fast mehr als seine Frau auf das Kind, was wahrscheinlich auch daran lag, dass er mit der Entbindung wenig zu tun hatte und keine Wehen ertragen musste.
„Wir haben doch dieses Spray im Badezimmer, schau mal ob du es findest“, sagte Melinda.
„Du meinst diese chemische Keule? Nein, das wird hier drinnen auf keinen Fall benutzt, ich lass nicht irgendwelche Gifte an deinen Körper, klar?“, erwiderte Owen und ging zurück zu dem Blumenstock, aus dem die Spinne anscheinend gekrochen war.
„Woher ist dieser Stock hier, sagtest du?“ Es war ein ganz normaler Blumenstock, eine Art Palme. Bestimmt gab es einen Fachbegriff dafür, aber Owen interessierte sich nicht für so etwas.
„Was weiß ich, Afrika oder so, keine Ahnung, ist mir auch scheißegal, ich will nur das dieses Vieh endlich weg ist, okay?“. Ihr schönes aber normalerweise sehr bleiches Gesicht war stark gerötet und sie schien jetzt ernsthaft sauer zu sein. Die Spinne saß noch immer dort wo Melinda sie entdeckt hatte, zusammengekauert in einer Ecke des Wohnzimmers, anscheinend wusste sie, dass sie in der Falle saß. Langsam und vorsichtig näherte sich Owen, ein gewisser Sicherheitsabstand konnte bestimmt nicht schaden. Außerdem brauchte er gar nicht allzu nahe hingehen, das Tier war auch aus zwei Metern Abstand noch sehr gut zu erkennen. Er hatte so was noch nie gesehen, das heißt mit Ausnahme vom Fernsehen, in irgendwelchen Reportagen und auch im Zoo. Nur waren sie dort hinter bruchsicherem Glas eingesperrt und hockten nicht direkt vor deinen Füßen, wo sie dir jederzeit das Hosenbein hinaufkrabbeln können.
Die Spinne war ungefähr so groß wie ein Handteller, so groß wie sein Handteller und Owen hatte sehr große Hände. Die Hände eines Basketballspielers wie Melinda immer sagte. Jedes der acht Beine war ungefähr so dick wie ein kleiner Finger und so behaart wie eine Katze. Fast hätte Owen geglaubt, dass dieses Tier, das unmöglich in seiner Wohnung sein konnte, schließlich leben solche Tiere im Urwald und nicht mitten in der Großstadt, nichtwahr, dass dieses Tier ein übler Streich Melindas sei, nur eine Gummispinne, ein Scherzartikel den man zu Halloween an die Decke hängt, als das Tier anfing sich zu bewegen, und es war schnell, oh ja, es war sogar SEHR schnell. „Shit“, schrie Owen erschrocken auf, als die Spinne einen Satz auf ihn zumachte, als wolle es ihn anfallen. Die Beine des Tiers verursachten sogar Geräusche auf dem Linoleumboden, ein leises Tapsen, wie von einer Maus. Die Strecke zwischen ihnen hatte sich von zwei Metern auf gerade mal dreißig Zentimeter verkleinert und jetzt saß sie einfach wieder nur da, saß da und schien auf eine Reaktion von Owen zu warten. Er sah, dass ihr fetter Körper pulsierte, sich hob und senkte wie ein schlagendes Herz. Und er konnte doch tatsächlich die Augen dieses Tieres sehen, jedes so groß wie ein Stecknadelkopf und so schwarz wie die Knopfaugen eines Teddybären. Er mochte es sich einbilden, aber er hatte das Gefühl das diese Augen ihn anblinzelten, als wollte die Spinne sagen „warum setzt ihr euch nicht wieder und vergeßt einfach, dass ich hier bin?“.
„Owen, verdammt noch mal, tritt drauf, oder schnapp dir eine Zeitung und erschlag sie, bevor sie noch näher an mich rankommt“. Melinda saß mit hochgezogen Beinen, so gut das mit ihrem Bauch ging, auf der Couch und war anscheinend knapp davor die Nerven zu verlieren.
Wie heißen dieses Tiere eigentlich, fragte sich Owen. Vogelspinne, Tarantel? Er kannte sich mit solchen Sachen zu wenig aus um die Spinne einordnen zu können, mit Sicherheit aber war sie gefährlich. Eine Spinne die so groß war musste einfach gefährlich sein. Giftig, ja, das war sie bestimmt, hochgiftig, wahrscheinlich würde ein Biss von ihr mich innerhalb von ein paar Stunden töten. Melinda sagte, das Ding sei aus dem Blumenstock gekrochen. Owen hatte den Stock vorige Woche auf dem Nachhauseweg gekauft um ihr eine Freude zu machen. Melinda liebte Blumen und Pflanzen, man konnte ihr nie genug davon schenken. Natürlich war es ihm aufgefallen, dass der Stock sich manchmal bewegt hatte, ein leichtes Schaukeln der Blätter, aber er hatte es immer für einen Luftzug gehalten und dem nicht weiter Beachtung geschenkt. Okay, genug jetzt, das war immer noch sein Samstagnachmittag, er konnte dieses Insekt jetzt schnell erledigen und sich dann wieder auf die Couch kuscheln und den Sportteil der Zeitung lesen.
Er sah sich nach irgendetwas Brauchbarem um, entweder etwas mit dem er das Tier erschlagen konnte, oder etwas mit dem er das Tier einfangen und DANN erschlagen konnte. Der Aschenbecher auf dem Wohnzimmertisch ist nah genug um ihn zu nehmen ohne mich bewegen zu müssen, dachte er erfreut, enttäuschte sich dann aber selbst, als ihm klar wurde, dass diese Spinne zu groß war um unter den Aschenbecher zu passen. Ihr Körper würde vielleicht darunter passen, aber nicht die haarigen Beine. Außerdem könnte sie mit ihren Beinen durch eine der Ausbuchtungen stochern und dich berühren, kreischte sein Verstand fast vor Ekel.
„Melinda? Würdest du mir bitte deinen Joghurtbecher geben?“, versuchte er in ruhigem Tonfall zu fragen. Es gelang ihm jedoch nicht ganz und er war selbst erschrocken wie ängstlich sich seine Stimme anhörte. Verdammt, das ist doch nur eine Spinne, schalt er sich selbst. Ja, aber keine gewöhnliche, warf ein anderer Teil seines Verstandes ein. Wortlos reichte Melinda ihm den Becher, oder eher gesagt den Eimer, denn der Joghurtbecher war so groß wie der Sandeimer eines Kindes. Familienpackung, stand darauf. Er nahm den Löffel aus dem leeren Becher und näherte sich der Spinne. Sie hatte sich seit ihrem kurzen Spaziergang nicht mehr bewegt, nur ihr Leib pulsierte und pumpte das Blut durch den Körper. Und das Gift, hörst du, ihr Körper ist voller Gift. Nicht auf seinen wimmernden Verstand achtend machte er noch einen kleinen Schritt auf sie zu. Er war jetzt nah genug um den Becher über die Spinne zu stülpen. Er bückte sich, hatte den Eimer bereits in Position über der Spinne, wenn sie jetzt springt, trifft sie dich genau im Gesicht!!! Aber sie sprang nicht, sie blieb einfach sitzen und glotzte Owen aus ihren schwarzen Augen an. Der Becher war über ihr, es war geschafft. „Geschafft!!“, jubelte Owen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Na endlich. Jetzt schaff dieses eklige Ding bitte hier raus, okay?“. Auch Melinda schien sehr erleichtert zu sein, obwohl sie diesen Horror eben gar nicht durchmachen mußte, ärgerte sich Owen. Die Spinne bewegte sich. Er konnte ihren Schatten durch den Becher hindurch sehen. Sie bewegte sich nicht nur, nein, sie schien zu toben und zu springen wie ein eingesperrter Schimpanse. Plötzlich schlitterte der Becher über den glatten Boden. Dieses Miststück schafft es tatsächlich samt diesem Becher zu laufen, wie eine Schildkröte in ihrem Panzer, dachte Owen erschrocken. Bevor sie den Teppich erreichen (und damit vielleicht den Becher umschmeißen und sein Hosenbein raufkrabbeln konnte) stellte er einen Fuß darauf.
„Schaffst du sie jetzt bitte raus?“ nörgelte Melinda gelangweilt. Für SIE war die Sache erledigt. Spinne gefangen, alles wieder gut. Sie hatte das Tier anscheinend nicht näher betrachtet und nicht bemerkt wie groß das Ding in Wirklichkeit war. Außerdem war es kein Weberknecht, sondern eine Tarantel. Ja, Tarantel oder Vogelspinne, irgend so was. „Meinst du ich will sie mir als Haustier halten?“ fuhr Owen sie an. Seine Nerven waren wirklich am Ende, er schwitzte, mußte dringend auf die Toilette und sein ganzer Körper juckte, so wie es einen nun mal juckt wenn man mit ekligen Insekten zu tun hatte. Er war keine 16 mehr, sein Job war es, den Leuten Lebensversicherungen zu verkaufen und seine Vorstellung von Nervenkitzel bestand darin, nicht zu wissen was es abends zum Essen gab und nicht sich als Großwildjäger zu betätigen.
„Meinst du wir sollten jemanden anrufen, die Leute vom Zoo vielleicht, damit sie das Ding abholen?“, fragte er Melinda, obwohl er die Antwort schon kannte.
„Bist du verrückt? Ich bekomme ein Baby, Owen. Und ich will das Haus nicht voll fremder Leute haben. Jetzt hol das Spray und Schluss damit.“
Vermutlich hatte sie Recht. Im Grunde war es doch nur eine Spinne, ein riesiges Prachtexemplar einer Spinne, das sich nur zufällig den Blumenstock als Nistplatz ausgesucht hat, den Owen gekauft hatte. Irgendwie hatte er sogar Mitleid mit dem Tier, das jetzt gefangen in einem Joghurtbecher saß, dort wo es eigentlich gar nicht hingehörte, anstatt irgendwo in Afrika in einer Bananenpalme zu hocken. Er hatte ein gewisses Interesse entwickelt, schließlich hatte man nicht jeden Tag so etwas in seinem Wohnzimmer, oder? Trotzdem hatte er diese stecknadelkopfgroßen Augen nicht vergessen, die ihn böse anzufunkeln schienen. Das Telefon klingelte. Vermutlich war es Melindas Mutter, die sich nach dem Zustand ihrer Tochter und ihres zukünftigen Enkels erkundigen wollte.
„Hey“, sagte sie sanft, „das hast du gut gemacht“ und lächelte ihn mit ihren geröteten Wangen an, bevor sie nach dem Telefon tastete, das griffbereit auf dem Wohnzimmertisch neben der Couch lag. Immer noch nervös und sich selbst kratzend lächelte er matt zurück und starrte dann wieder auf den Schatten unter dem Joghurtbecher. „Ma? Du weißt gar nicht was hier gerade los war. Ich schaue gera...“.
Owen verfolgte nicht länger das Telefongespräch, sondern überlegte wie er die Spinne am Besten wegschaffen könnte. Das Spray kam nicht in Frage, es war eins von den billigen, nicht mal der Hersteller stand darauf, nur „Insektenspray, vernichtet jedes Insekt in Sekunden“ und Owen wollte lieber nicht wissen aus welchen Giftstoffen es bestand. „Und wenn du sie einfach mit deinem Fuß zermanscht? Einfach auf sie drauftrampelst und dir vorstellst es sei nur eine Zigarette die du da austrittst?“, versuchte der mutige Teil in ihm ihn zu überreden. Sie wäre zu schnell, würde mir das Bein hochklettern und mir ihre kleinen Beißerchen reinrammen noch bevor ich sie abschütteln könnte.
Als er so dastand und ratlos seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, fiel sein Blick auch aus dem Fenster und erleichtert lächelte er. Kein Spray, keine Schuhe an denen eine zermatschte Spinne klebte. Es ging viel einfacher. Es war Februar, es hatte den ganzen Tag über geschneit und auch wenn man nicht gleich Frostbeulen bekam, so hatte es doch mindestens fünf Grad Minus, genug um eine Spinne (die sicher das tropische Klima des Urwalds bevorzugte) in einen Eisklumpen zu verwandeln. Er würde sie einfach samt ihrem Joghurtbecher raus ins Freie verfrachten und morgen würde sie Spinne am Stiel sein. Fast so als hätte sie seine Gedanken lesen können, begann die Spinne wieder, unruhig wie ein Tiger im Käfig, in ihrem Gefängnis herumzukrabbeln. Immer noch mit einem Fuß auf dem Becher beugte sich Owen mit dem Oberkörper ein bisschen zur Seite, und ja, tatsächlich, er erreichte mit einer Hand den Kalender der an der Wand hing. Es war ein Kalender mit Hundemotiven und im Februar lächelte ihm ein Bernhardinerwelpe entgegen. Er riß den Pappdeckel der Rückseite herunter, so hatte er etwas, das er unter den Becher schieben und ihn dann gefahrlos (samt Boris the Spider) auf die Terrasse verfrachten konnte. Nervös leckte er sich über die Lippe und ging dann in die Hocke um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Den Fuß hatte er vom Becher genommen und preßte nun seine Hand dagegen. Du mußt den Joghurtbecher nur ein ganz klein wenig hochheben, den Pappdeckel darunter schieben und schon hast du das Biest, dachte er. Bevor der feige Teil seiner Persönlichkeit (derselbe Teil der ihn dazu brachte rückwärts aus dem Keller zu gehen, aus Angst jemand könnte dort im Dunkeln hinter der Tür lauern und ihn zurück in den düsteren Kellerraum ziehen) wieder die Oberhand ergreifen konnte, nahm er seinen Mut zusammen, überwand seinen Ekel so gut es ging und hob den Plastikbecher ein klein wenig an, gerade soweit das man ein Blatt Papier (oder ein Stück Pappe) darunterschieben konnte. Doch die Spinne bewegte sich keinen Millimeter. Bevor sie auch nur versuchen konnte durch den kleinen Spalt zu schlüpfen, hatte Owen schon den Pappdeckel daruntergeschoben, und wieder seine Hand auf den Becher gepresst. Verdammt, er hatte richtige Schweißperlen auf der Stirn und seine Knie fühlten sich an als wären sie aus Wackelpudding, aber er war ein Held. Wer konnte schon von sich behaupten eine ausgewachsene Vogelspinne (Tarantel?) gefangen zu haben? Als er sich zuletzt so mutig, so frei und so.....lebendig gefühlt hatte, war während ihrer Flitterwochen als Melinda ihn zu einem Bungie-Jump überredet hatte. Allerdings lag das auch schon knappe elf Jahre zurück.
Seine Frau telefonierte immer noch und hatte von seinem kleinen Nervenkitzel, den er sich gerade selbst versetzt hatte, nichts mitbekommen. Sachte hob er den Becher samt seinem schaurigen Inhalt hoch und öffnete die Terrassentür. Sofort wehte ihm der kalte Februarwind entgegen und verschaffte seiner schwitzenden Stirn eine wohltuende Abkühlung. Die Schneeflocken tanzten noch immer ihren Walzer und einige verirrten sich auch in das Wohnzimmer, deshalb machte er nur einen schnellen Schritt raus auf die Terrasse (die leer war, denn die Gartenmöbel würden dort erst wohl wieder in drei Monaten stehen) und stellte den Becher auf dem von Eis überzogenen Boden ab. Die Spinne hatte ihren kleinen Standortwechsel anscheinend nicht bemerkt, denn sie hatte sich weder bewegt, noch hatte sie wieder angefangen wie ein Gummiball in ihrem Behälter auf und ab zu springen. Vielleicht ist sie in einer Art Starre, der Schock vielleicht. Er würde einfach morgen noch mal nachsehen und ihren erfrorenen Körper in der Biotonne entsorgen. Das war wohl das Beste.
„Owen?“. Melinda hatte aufgehört zu telefonieren. „Komme schon“. Er ging wieder zurück in das einladend warme Wohnzimmer und schloss dann die Terrassentür hinter sich. Er warf noch einen letzten Blick auf den Joghurtbecher, der jetzt ein Spinnenterrarium war und einen Augenblick, ja nur einen kleinen Augenblick dachte er die schwarzen, stecknadelkopfgroßen Augen der Spinne unter dem Becher hervorlugen zu sehen. Er blinzelte kurz, doch der Becher stand ganz genauso wie er ihn abgestellt hatte.
„Ist sie tot?“, fragte Melinda gutgelaunt. Die schwarzen, böse funkelnden Augen, die kurz hervorzublinzeln schienen, als wollte sie schauen ob die Luft rein ist. „Ja, das ist sie. Kann keiner Fliege mehr was zu Leide tun“, sagte er und grinste über seinen eigenen kleinen Scherz.
Schon lange bevor Owen wieder mit seiner Samstagszeitung auf der Couch, neben seiner schwangeren Frau, lag und den Sportteil studierte, hatte sich die Spinne aus ihrem Gefängnis befreit. Es war ihr leicht gefallen mit einem ihrer Beine unter den Becherrand zu stochern und sich herauszuwinden. Die Terrasse war leer und bot keine guten Schlupfwinkel, abgesehen von einer alten Plastikplane die Owen normalerweise benutzte, um im Sommer den Grill abzudecken. Er hatte sich schon lange vorgenommen die angetrockneten Vogelhaufen mit dem Gartenschlauch abzuspritzen, hatte es jedoch ein ums andere Mal vergessen.
Diese Nacht schlief Owen sehr unruhig, er wälzte sich von einer Seite auf die andere und hätte er sich selbst im Schlaf beobachten können, hätte er gehört wie er leise „Bananenpalmen, sie leben in Bananenpalmen“ vor sich hin murmelte. Und während er im Traum vor einem riesigen Schatten flüchtete und im Dunkel seines Traumes nur rot glühende Augen vor sich sah, hatte die Spinne einen neuen Nistplatz gefunden. Das Fenster in ihrem Schlafzimmer war immer gekippt. Egal wie kalt es draußen war. Owen wusste nicht, ob Melinda sich dies einbildete oder es der Wahrheit entsprach, aber sie sagte immer, sie bekäme keine Luft, wenn das Fenster geschlossen war. Er hatte seinen Alptraum überstanden und drehte sich noch mal leise schnarchend auf die andere Seite, dennoch bemerkte er die Spinne nicht, die durch das Fenster und mittlerweile auf ihr Bett (das direkt unter dem Fenster stand) gekrabbelt war. Owen hatte nur teilweise Recht gehabt. Sie war tatsächlich eine Tarantel, jedoch lebte sie nicht in einer Bananenpalme, sondern liebte es, sich in kleinen Löchern im Boden zu verbuddeln, wo sie die Wärme des Erdbodens spüren konnte. Hier in diesem ziemlich kalten Schlafzimmer fehlte ihr jedoch ein Platz zum eingraben und so folgte sie dem Instinkt eines Tieres und suchte sich das, was einem warmen Loch im Boden am nahesten kam.
Melinda schlief schon immer mit halbgeöffnetem Mund. Owen hatte (wenn er noch ein Buch las und sie schon schlief) schon oft darüber lächeln müssen. Und vielleicht stimmte es ja sogar, dass sie durch die Nase schlecht atmen konnte. Die Spinne war schnell und stoppte nur einmal kurz, als Melinda mit dem Mundwinkel zuckte, weil eines der Beine ihre Nase kitzelte.
Es war 6.32 Uhr als Owen geweckt wurde. Melinda klopfte ihm energisch auf die Schulter und schien starke Schmerzen zu haben, ihrem verzerrtem Gesicht nach zu urteilen.
„Ich glaube es ist soweit“, presste sie durch die zusammengebissenen Zähne.
„Das Baby?“, fragte er noch schlaftrunken. Sie nickte nur stumm und schon war Owen hellwach. Sie waren diese Situation in der Theorie schon tausendmal durchgegangen und er hatte vor, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Die Alpträume der vergangenen Nacht waren längst vergessen und zehn Minuten später saß er am Steuer seines Wagens, Melinda auf der Rückbank. „Beeil dich bitte, ich glaube es kommt jede Minute“, keuchte sie. „Ruhig ein- und ausatmen, wir schaffen das schon“, sagte er ernst, konnte es innerlich aber kaum erwarten. Mein Sohn, ich werde heute noch meinen Sohn in den Armen halten, jubellierte er innerlich.
Nur eine Stunde später war der große Augenblick gekommen, auf den sie beide so lange warten mussten. Er hatte kurz überlegt, ob er noch mal nach Hause fahren und seine Videokamera holen sollte, sich es dann aber anders überlegt, als die Wehen im Abstand von fünf Minuten kamen. Der Arzt war bereits bei ihr und befahl ihr ruhig zu atmen und zu pressen. Ruhig atmen UND pressen? Owen konnte sich beim Besten Willen nicht vorstellen wie das funktionieren sollte. Melindas Gesicht hatte mittlerweile die dunkelrote Farbe eines Dachziegels angenommen und wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte er gesagt sie sähe aus wie jemand der da ein ganz großes Geschäft verrichtete. „Pressen, pressen, immer weiter pressen. Gleich haben wir es geschafft.“ Der Arzt war zwischen Melindas Schenkeln gebückt und sah aus wie eine Katze die vor einem Mauseloch lauerte. „Sie sind sehr tapfer, Melinda und wissen sie was.....da kommt er auch schon. Ich kann den Kopf bereits sehen. Jetzt ganz fest pressen, nehmen sie ihre ganze Kraft zusammen.“
Und tatsächlich, der Kopf war schon halb heraußen. Aber Moment, irgendwas sah falsch daran aus, soviel Blut und soviel.....Haare? Konnten das Haare sein?
Melinda schrie ein letztes Mal laut auf und Owen wusste nicht, ob er es sich einbildete oder ob er wirklich ein Plopp hörte, wie ein Korken der aus einer Flasche geschütteltem Champagner schoss. Das Baby, sein Baby, flutschte heraus und direkt in die Arme des Arztes, die Nabelschnur hing wie ein Stück lang gezogener Kaugummi zwischen Melinda und dem Kind. Haare, das konnten doch noch keine Haare sein, dachte Owen verwirrt. Und noch bevor jemand anderes es sah, wusste Owen um was es sich handelte. Er trat ein Stück näher heran, merkte nicht das der Arzt mit einem lauten, entsetzen Aufschrei seinen toten Sohn fallen ließ. Er merkte auch nicht, dass die assistierende Schwester sich kreischend die Hand vor den Mund hielt und Melinda immer wieder „was ist los, was ist mit meinem Baby“, stammelte. Das einzige das er noch sah, bevor er sich über seinen weißen Kittel erbrach und ihm schwarz vor Augen wurde, war die Spinne, die sich an dem Gesicht seines Sohnes festgesaugt, festgebissen hatte. Wie eines dieser Aliens aus dem Film, dachte er fassungslos. Ihr Körper pulsierte noch immer und schwarze, stecknadelkopfgroße Augen funkelten ihm von dort entgegen wo das Gesicht seines Babys hätte sein sollen.