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Innere Sicherheit
Die ersten Sonnenstrahlen zwängten sich durch die Jalousie und zerschnitten das, was die Nacht von mir übrig gelassen hatte, in feine Streifen. Ich saß auf der Sofakante, den Kopf in die Hände gestützt, und versuchte, den Traum abzuschütteln, der mich regelmäßig in Endlosschleife heimsuchte: Die Uniform kratzt und ich greife in den Kragen, während ich wie gebannt auf den Monitor schaue. Claire meldet, Erik Hölzer habe nach einem Stein gegriffen. Meine Antwort ist ein einziger Schrei: Schieß endlich! Der Bildschirm färbt sich rot und ich schaue in die leeren Augen eines Mannes, den ich nicht kenne. Er spricht zu mir, doch ich verstehe die Worte nicht, weil das Brummen der Drohnen alles übertönt.
Ich wartete darauf, dass die Rebellion im Magen abebbte. Das Scheppern der Air Condition verstärkte das Pochen in meinen Schläfen. Es wurde Zeit, dass jemand von der Hausverwaltung vorbeischaute und die maroden Teile ersetzte, so wie sie mich ersetzt haben, die feinen Herren von der Crime Prevention. „Ich muss Sie vorerst dienstunfähig schreiben“, hatte der Psycho-Heini mit der John-Lennon-Brille auf der Stirn gesagt. Bullshit. Mit Schreiben hatte das nichts zu tun, was er dann tat. Eine einzige Fingerbewegung über den Screen und in Null Komma Nix waren alle über meinen neuen Status im Bilde: Insurance, Europaparlament, Verfassungsschutz. Und ich war kaltgestellt und ganz sicher nicht durch die klappernde Klimaanlage.
„Kati, weiß die Administration Bescheid, dass die Airco spinnt?“
„Guten Morgen, Mark. Wird sofort erledigt!“
„Bitte LED-Bildschirm aktivieren, Kati!“
„Welchen Sender?“
„Entscheide du!“
Das Gesicht von Cosima Lamar erschien. Cosima, pretty und clever. Sie hatte mich interviewt – vor ein paar Tagen. Gerade verlas sie die News von Eurosat five: „Wirbelsturm über dem Harz, die Schäden gehen in Milliardenhöhe. Berlin: Bundeskanzler Habeck bestätigt, subkutane Chips indiskutabel. Brüssel: Bombendrohung am Airport Charleroi, Attentäter gestellt."
Das Bild zitterte, der Schirm wurde dunkel. Dann ein grobkörniger Schwarzweißfilm. Baumkronen, ein schmaler Weg gesäumt von Büschen. Eine Luftaufnahme. Ein Mensch wird gejagt. Das Bild explodierte in tausend Pixel und ich sah das Konterfei der Moderatorin wieder.
„Kati! Gerät ausschalten!“
„Wie du möchtest, Mark!“
Unfähig, mich zu bewegen, starrte ich vor mich hin. Dann fixierte ich die Flasche Havana Club und das Glas, das mit Fingerabdrücken übersät war und feuchte Kringel auf der Tischplatte hinterlassen hatte. Olympische Ringe. Ich goss es randvoll und reckte es in die Höhe. „Cheers, alle miteinander! Ihr könnt mich mal!“ Dann kippte ich es in einem Zug runter. Das brannte wie die Hölle, aber es war ein gutes Brennen, dem ein Vergessen auf Zeit folgen würde.
Ich schlurfte zum Kühlschrank. Das gleiche Stillleben wie Gestern und Vorgestern: Ein schrumpeliger Apfel und eine Dose Lachs gähnten mir entgegen.
„Kati, bitte Kontakt mit Food-Service herstellen!“
„Pizza, Burger, Lasagne?“
„Rum!“
„Pizza, Burger. Geht klar, Mark!“
„Vergiss es! Ich geh selber.“
Später am Vormittag, als ich vom Einkaufen zurückkam und den Türcode eingab, löste sich eine Gestalt aus dem Hausschatten und kam direkt auf mich zu. Trotz der Kapuze, die sie über die roten Locken gezogen hatte, erkannte ich sie sofort. Cosima Lamar. Die Hitze schien ihr nichts anzuhaben. Sie wirkte frisch und ein Hauch Zitrone umgab sie, während mein Rucksack am Rücken festklebte und mir der Schweiß die Augäpfel verätzte.
Sie schaute sich nach allen Seiten um. „Ich muss Sie sprechen. In einer Stunde. Wasserwand! Westpark!“
Bei Westpark zuckte ich zusammen. Worte sind mächtig, sie können töten.
Eine flüchtige Berührung, dann ein Stoß an der Schulter.
„Können Sie nicht aufpassen, Mann!“, rief Cosima und joggte davon. Den Fetzen Papier, den sie mir zugesteckt hatte, hielt ich fest umklammert.
Der Lift brachte mich in die vierte Etage.
Die raue Stimme von Kati tat mir gut: „Willkommen zuhause! Was hast du mir mitgebracht, Mark?“
Hastig schob ich die Flasche, Pizza und Veggie-Burger in das Eisfach, entfaltete im Kühlschrank das Briefchen, um die Nachricht zu lesen. Das Papier war durchfeuchtet und fiel beinahe auseinander, die Tinte war verwischt. Einzelne Buchstaben und Zahlen konnte ich erkennen, aber sie ergaben keinen Sinn. Enttäuscht knallte ich die Tür zu. Dann sprang ich unter die Dusche. Wenn ich nicht zu spät kommen wollte, musste ich einen Zahn zulegen. Trotzdem gönnte ich mir ein paar unkeusche Gedanken an Cosima und der Schaum auf meiner Haut begann nach Zitrone zu duften.
„Noch dreißig Sekunden, Mark. Das Wasserreservoir ist aufgebraucht.“
„Kati, willst du nicht kurz zu mir reinkommen?“
„Das fragst du mich jedes Mal, Mark.“ Sie lachte. „Ich denke über das Angebot nach.“
Der Westsee glich einer Kloake, die zum Himmel stank. Algen färbten das Wasser dunkel und der Uferstreifen war stellenweise mit Schilf bewachsen. Cosima konnte ich nirgendwo entdecken, nur ein graues Bündel im verdorrten Gras. Ein Obdachloser, der trotz der Wärme in seinem Schlafsack eingerollt schlief.
Irgendwann, während ich am Ufer auf- und ablief, erwachte er und scheuchte die Tauben weg, die ihn aufgeregt umkreisten.
Das Schilf wiegte sich im Wind, flüsterte eine Geschichte von Trennung, von Flucht und Tod. Ich wollte sie nicht hören. Doch es gab kein Erbarmen. Ein Mann läuft und läuft. Wird gehetzt wie Wild. Stolpert, stürzt. Ein Stein. Eine Drohne. Mein Befehl. Sein Blut.
Es war ein Fehler hierherzukommen, das sah ich nun ein. Sicherlich hatte ich Cosima falsch verstanden und der entscheidende Hinweis auf dem Zettel war mir entgangen. Ich musste nach Hause, noch einmal versuchen, die Botschaft zu entziffern. Auf schnellstem Wege.
Als ich an dem Penner vorbeikam, schaute er mich aus rotgeränderten Augen an und brabbelte: „Sie sind überall!“
Schweißüberströmt lief ich weiter, auch wenn ich kaum Luft bekam. Über mir hörte ich ein Summen, doch als ich den Himmel absuchte, war da außer ein paar Schleierwolken nur endloses Blau. Das Rauschen blieb.
Mit einem Mal stand ich auf der Garmischer Straße und konnte mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen war. Shuttle-Busse und Autos rasten vorbei, blinkten, hupten, zogen mich an, saugten mich ein in den Strudel aus Fahrtwind, Geschwindigkeit und Lärm. Eine Hand packte mich an der Schulter, eine andere am Oberarm und riss mich zurück.
„Immer schön Obacht geben, Junge!“, sagte jemand neben mir.
Der Kerl mit dem Schlafsack war mir gefolgt.
Ich schlug nach ihm. „Fass mich nicht an, Alter!“
„Willkommen zuhause, Mark!", flötete Kati.
Ich öffnete den Kühlschrank, eisige Luft dampfte mir entgegen. Rum, Pizza und Burger lagen so da, wie ich sie hinterlassen hatte, doch das Briefchen sah ich im Eisfach nicht. Nur ein zerfledderter Kassenbon lag auf den Fliesen. Wusste ich es doch, der fremde Geruch nach Moder, die negative Energie, das alles hing im Raum, beinahe zum Greifen. Es war jemand in meiner Wohnung, als ich im Park wartete. Und dieser Jemand hatte die Nachricht gesucht und gefunden.
„Kati! Wer war in der Wohnung?“
„Niemand.“
„Sicher?“
„Hundertpro!“ Sie lachte wieder.
Doch mir war nicht nach Lachen zumute. Cosima. Ich musste sie warnen, sie war in Gefahr. Alle waren wir in Gefahr. Beim Klingeln des Handys zuckte ich zusammen. Ich folgte der Melodie von Imagine und fand das Gerät unter einem Berg getragener Klamotten in der Safetytasche meiner Jeans. Unbekannte Nummer, ich ließ es fallen, es dudelte weiter. „Mit mir nicht, ihr Schweine!“, schrie ich und stampfte mit dem Fuß auf das Gehäuse, ignorierte den Schmerz, der durchs Bein schoss, trat wieder und wieder zu, bis nur ein Häufchen Schrott übrig blieb.
Der Sender lag im Süden von München. Das Überwachungsnetz der U-Bahn schien mir zu dicht geknüpft, also entschied ich mich für den Minibus. Nachdem ich mehrmals umgestiegen war, konnte ich davon ausgehen, dass mir niemand folgte.
Die Empfangsdame im Foyer, ein Hologramm der Claire-Klasse SC5, begrüßte mich charmant.
„Mark Seidel. Ich muss Cosima Lamar sprechen. Sie sehen übrigens blendend aus, Claire“, sagte ich, ohne Luft zu holen.
Sie kramte in ihrer Datenbank. „Mark Seidel, Bürgerkennnummer: 05.072000?“
„Genau!“
„Ich sehe, Sie haben keinen Termin“, sagte sie streng. „Aber ich melde Sie an. Die Sache duldet sicher keinen Aufschub.“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Danke, für das Kompliment, Mark!“
Als Cosima meinen Namen hörte, kam sie sofort nach unten.
„Schön, Sie zu sehen. Sie haben also ihre Sprache wiedergefunden.“ Ein Lächeln legte sich über ihr Gesicht.
Ich nickte, wischte meine klebrige Hand an den Shorts ab und streckte sie ihr entgegen. „Sie sind in Gefahr“, flüsterte ich.
„Wie meinen Sie das?“ Das Lächeln flog davon.
Ich verstand sofort. Cosima konnte nicht reden, wir mussten von hier verschwinden. Ich packte sie am Handgelenk und zog sie hinter mir her. Die Türen glitten auf, wir rannten gegen eine Mauer aus Hitze, prallten zurück.
„So geht das nicht, Mark! In einer Stunde bin ich auf Sendung. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und dann verschwinden Sie!“
„Sie werden bedroht, weil Sie Kontakt zu mir aufgenommen haben“, zischte ich.
„Ich?“
„Ja. Jetzt sind die auch hinter Ihnen her!“
„Wer?“
„Tun Sie doch nicht so, als wüssten Sie das nicht!“
Cosima legte die Stirn in Falten und um den Mund zuckte ein spöttisches Lächeln. „Warum glauben Sie das?“
„Liegt das nicht auf der Hand? Sie befürchten, dass ich alles ausplaudere, interne Informationen von CP weitergebe. An Sie.“ Speicheltröpfchen flogen durch die Luft.
„Insiderwissen, worüber?“
Ich hob die Schultern, stutzte, wartete. „Erik Hölzer.“
„Aber der Fall ist aufgeklärt.“
„Nicht restlos, meine Aussage fehlt noch. Solange ich nicht gesagt habe, was wirklich passiert ist, schwebe ich in Lebensgefahr. Und Sie auch.“ Meine Worte drängten gleichzeitig aus der Mundhöhle, schlugen Purzelbäume, verknoteten sich.
„Mark, beruhigen Sie sich doch! Niemand ist in Gefahr.“ Cosimas Pupillen weiteten sich, wurden zu Wurmlöchern, die mich in wenigen Augenblicken verschlingen würden. Ganz klar, sie hatte Angst bekommen, wollte es nur nicht eingestehen.
„Alle sind wir in Gefahr! CP ist überall, ich kann sie hören und riechen. Sie haben nur ein Ziel, nämlich Menschen zu jagen.“ Meine Augen füllten sich mit Tränen.
„Hören Sie Mark, Sie brauchen Ruhe, sie sind ja völlig dehydriert. Setzen Sie sich!“ Ihr Tonfall hatte eine Färbung angenommen, als spräche sie mit einem Schwachsinnigen.
„CP wurde vor zwei Jahren liquidiert. Erinnern Sie sich denn nicht an das Medienspektakel? Das System der Crime Prevention hat vollkommen versagt, Mark.“
Ich taumelte rückwärts.
„Nein!“, schrie ich. „Nein, das darf nicht sein. Das System war perfekt. Der Mensch, der Mensch ist der Schwachpunkt. Wir müssen uns ausliefern an die KI, restlos unterwerfen.“
Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Zwei Riesen in Rot-Kreuz-Uniform traten aus dem Lift und stürzten auf mich zu.
„Türen verriegeln, Claire!“, sagte Cosima.
„Claire!“, rief ich aus Leibeskräften, „hilf mir!“ Ich stolperte zum Ausgang.
Das Hologramm räusperte sich, knackte, wuchs und dehnte sich in Höhe und Breite aus, bis es den Raum in zwei Hälften geteilt hatte. Die transparente Wand materialisierte sich, wurde zu Panzerglas, an dem die beiden Sanitäter abprallten. Cosima legte die Handflächen gegen die Scheibe, bewegte ihre Lippen und schaute mir mit traurigen Augen nach, als ich durch die geöffneten Schiebetüren in die Hitze des Tages spazierte. Das Summen einer Drohne begleitete mich.