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Innenverkehr. Grünphase.
Trixi glaubte spüren zu können, wie der Körper auf Fettverbrennung umschaltete und ihre mageren Energiereserven zu verzehren begann. Mit dem Hunger ging die Wut aufs schwache Fleisch, das seinen banalen Forderungen so wirksam Nachdruck verliehen hat. Irgendwas musste an die Stelle des Verschwundenen getreten sein. Sie hat noch keinen Namen dafür gefunden. Noch keine Benennung gesucht. Sie war eh nur halb da, wo immer sie war. Was sind schon Orte? Worte, denen ein Buchstabe fehlt.
Ihr Blick erforschte eine der Skulpturen: Ein Clown im Anzug, der brennende Dollarzeichen jonglierte. Beim Formen hatte sie gedacht, er würde vor Schmerz schreien; jetzt überlegte sie, ob es nicht wahnsinnige Begeisterung war. Verrücktsein, diese dauerhafte Standpunktveränderung. Vierter Tag der gedrosselten Nahrungsaufnahme. Der Grad von Losgelöstheit ist die Größe von Freiheit ist das Maß von Haltlosigkeit. Nichtessen, das war mal ein interessanter Ort.
Sie hatte dem Clown die Züge ihres Vaters gegeben und dem Vater das Objekt gezeigt. Der hatte es eine Weile angeschaut, einen fachmännischen Ausdruck aufgesetzt und verschiedenes gelobt. Das war Musik in ihren Ohren - irgendwas zuckersüß Dissonantes. Die Skulptur hatte sie Business-Kasper genannt.
Bob Marley wehte durch das halb offene Panoramafenster. Trixi schnipste mit den Fingern, riss sich aus dem Geträume und tippelte zu ihrem Kühlsystem von amerikanischen Ausmaßen. Retro. Das hatte sie aus Stylegründen angeschafft. Wegen der Ausmaße. Oder sie kommentierte damit ihre Essgewohnheiten. Das hatte sie mal überlegt, aber eigentlich spielte der Grund keine Rolle.
Drin lagen Salat in einer Plastikbox und eine Büchse türkischen Biers. Essen? Nein. Nur ein leerer Reflex. Mal kucken, was im Kühlschrank ist. Sie lächelte matt und legte sich zurück in die Hängematte, betrachtete die begonnenen Installationen, Bilder und Skulpturen. Bis auf den Business-Kasper war nichts fertig. Alles in unterschiedlichen Stadien stehengeblieben.
Sie driftete weg und hörte nach den Geräuschen von draußen. Bob Marley verschwand und tauchte wieder auf. Trixi stellte sich einen Straßenkreuzer vor, mit einer Rückbank aus Boxen, dessen Besitzer durch die sommerlichen Straßen cruiste. Innenverkehr. Grünphase. Sie ließ los und sank noch ein Stück tiefer. Zwanzig Minuten später war sie mit einem Mal voll da, Zoom auf ihr Gesicht: feuchte Strähnen, elektrisiertes Leuchten in den Augen, kein Lidschlag. Trixi wusste jetzt, was mit dem Unfertigen geschehen sollte. Sie besorgte die stärkste Säure, die sie kriegen konnte. Kippte die zersetzende Flüssigkeit und ihren Kunstkrempel in die Badewanne. Stellte eine Videokamera auf und filmte die Auflösung. In den nächsten Tagen schöpfte sie ab und an Rückstände vom Wannenboden in einen Stahleimer und legte Kunst nach. Die unauflöslichen Bestandteile stellte sie auf die Dachterrasse und legte ein Laken darüber, das sie mit kleinen Steinen beschwerte.
Danach, kurz
Eine Hand umfasste die Brüstung, mit festem Griff um den Backstein; eine zweite, die suchend gegen die metallene Aufhängung des Blumenkastens stieß und solange tastete, bis ein freier Platz gefunden war. Kurz darauf ein Ruck und das Gesicht zu den Händen, vor Schweiß glänzende Schultern, die den restlichen Körper in einer Anspannung von Strängen und Sehnen in Sicht brachten. Der Besucher sprang auf die Terasse und sah sich um.
Ob der echt ist. In welchem Stock war sie gleich? Sechster oder siebter, ein altes Backsteinhaus, das früher Lagerhaus für ein Kontor gewesen war und abgerissen werden sollte, wenn die Eigentumsverhältnisse geklärt waren. Daddy hatte ihr die oberste Etage besorgt, der baute große Häuser und hatte Beziehungen und war froh, seiner normalerweise bedürfnislosen Tochter einen Wunsch aus den Rippen geleiert zu haben. "Ich brauche Platz, Daddy! Viel Platz. Um mich verwirklichen und endlich mein wahres Selbst finden zu können!" Trixis Imitation des Prinzessinnen-Klischees. Die hatte sie als Antwort probiert auf Daddys Trieb, für die Tochter Lebensglück kaufen zu wollen. Daddy war voll drauf eingestiegen und hatte ihr ein paar Tage später dieses Objekt gezeigt. Sie hatte Lachen müssen und beschlossen, dass es cool wäre, hier eine Weile zu wohnen. Im herbeigeredeten Klischee. Loft und so. Künstlerin und so.
Ihr Besuch sah sich auf der Terrasse um. Ein Blick in die Runde, über Blumen und das weiße Laken. Auf der angelehnten Tür blieb er hängen. Sie glaubte ihn denken hören zu können, spürte seine Neugier. Trixi wollte nicht, dass er verschwände, ohne dass sie ein Wort mit ihm gesprochen hätte. Ob er jetzt eine Vorstellung war oder von festerer Konsistenz.
Mit federnden Schritten war sie beim Ausgang zu der Terrasse, die Hand am Rahmen, sah sie ihn an. "Hi."
Sam lächelte. "Du?"
"Denke schon", sagte sie. "Kennen wir uns?"
"Wir sind ab und zu Banknachbarn." Sie musterte ihn. Turnschuhe, graue Sporthose, Unterhemd mit Schweißfleck und roten Flecken vom Backstein. Das Gesicht.
"Oh", sagte sie. "Du ... bist der Anzugmensch. Ist der in der Reinigung?"
"Freizeitlook", sagte er. Sie wusste nichts mehr zu sagen.
"Möchtest du etwas trinken?", fragte sie. "Ich habe nur Efes Pilsener."
Sam zuckte die Achseln. "Danke", sagte er. "Ich will weiter."
Sie ging ins Innere des Lofts und winkte ihm, ihr zu folgen. Trixi zeigte auf die Tür am anderen Ende des Raumes. "Zurück kannst du den legalen Weg nehmen. Kennste einen mehr." Sam sagte bis bald oder machs gut.
Über dem Ausgang hingen zwei Röhrenbildschirme. Nebeneinander flackerten Bilder von Menschenmassen zwischen Begeisterung und Hysterie. Flaggen wurden hochgehalten, Strohpuppen mit den Gesichtern von Diktatoren oder Präsidenten verbrannt. Leute schossen mit einem Gesichtsausdruck in die Luft, als würden sie ein Brot schmieren, und riefen die bevorzugte Gottheit an. Jeder Fernseher zeigte eine andere Welt. Zustand von Straßen und Häusern, die Verschiedenheiten von parkenden Wagen und den Klamotten der Interviewten. Die Gesichter der Demonstranten ähnelten sich in ihrem Ausdruck von Überzeugtheit oder Fanatismus. Die Gemeinsamkeiten, der dünne Anstrich. Nach zwei Minuten wechselten die Weltausschnitte. Der Orient wanderte auf den linken Flimmerkasten und Amerika nahm seine Stelle auf dem anderen ein. "Könntest du dazu was sagen?", fragte er. "Wahrscheinlich, was", sagte Trixi.
Er hob den Arm in einer Abschiedsgeste und trabte die Stufen hinunter.
Ohneort
"Hiroshimastille? Das Schweigen ringsum, den ganzen Tag hörte ich noch kein Mensch oder Tier. Und dieses Unlicht, als wären alle Farbspektren herausgefiltert. Wie das Restphosphorizieren vor kurzem verendeter Tiefseetiere. Man weiß nicht mal mehr, wo man sich gerade befindet. Wer redet - du mit mir, ich mit dir. Was ich sage, könntest ebenso gut du sagen. Diese Austauschbarkeit. Man sitzt irgendwo und redet über irgendetwas. Du willst ausruhen, auf einer vertrauten Fassade vielleicht oder in einer alten Eichenkrone. Doch überall gleitet der Blick ab, von immergleichen Filialen, von gestutzten Zöglingen der Baumschulen; selbst die Asozialen sehen sich immer ähnlicher, als würden sogar Penner und Punks von einer geheimnisvollen Macht entindividualisiert. Es ist schon fast unnötig, einen Ort anzugeben; man geht in eine American-Coffee-Filiale und sieht sich auf dem davorliegenden Platz um; und nichts bietet dem Blick einen Halt, all die überbekannten Bilder werden gescannt und rauschen im gleichen Moment durch. Du setzt dich und fällst durch den Stuhl."
"Würde ich nicht sagen", sagte er. "Komm, lächel mal." Sam tat als fotografiere er sie.
"Nicht, nein. Keine Fotos." Sie hielt die Hand zwischen imaginäre Linse und ihr Gesicht. "Die Indianer hatten Recht mit dem Seelenraub."
"Die konnten das Feuerwasser nicht ab. Das ist ihnen zu Kopf gestiegen. Die haben fantasiert. Oder werden fantasiert. Der unverdorbene Naturgeist als Geigerzähler für das Seelenraubpotential unserer Errungenschaften. Was so kitschig ist, kann nicht echt sein."
"Was redest du. Diese Imitation von Argumentation. Als wolltest du beweisen dass. Als könnte man beweisen dass. Ich weiß nicht, was willst du beweisen. Dagegen reden ist genauso sinnvoll wie dafür, warum also."
"Knips!" Sam tat als drücke er den Auslöser seiner imaginären Kamera. "Hab dich. Deine Seele auf Bitmap. Siehst gar nicht verdoppelt aus, nur wie ein Bild, fast real. Tatsächlich", sagte er und kuckte auf den vorgestellten Bildschirm."Etwas müde ..."