In vier Wochen um halb fünf
„Ist bei Ihnen noch ein Platz frei?“
Helen war, als stünde David Beckham plötzlich vor ihrem Tisch und hätte gefragt, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Sie schaute den Mann mit dem Dreitagebart mit starren Augen an und war bemüht, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen.
„Natürlich“, sagte sie mit belegter Stimme und versuchte, möglichst charmant, aber völlig desinteressiert zu klingen. „Drei Stühle, Sie haben die Wahl.“
„Ich setze mich Ihnen gegenüber“, kam es prompt. „Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
Was sollte sie denn darauf antworten? Oh Gott, was brachte der Mann sie in Verlegenheit! Dabei war überhaupt nichts Besonderes an ihm: Jeans, ein kariertes Hemd, leichte Sommerschuhe ohne Strümpfe. Das Einzige, was nicht zu seinem stinknormalen Outfit passte, war die goldene Armbanduhr, die dezent unter dem Ärmel seines Hemdes hervorlugte. Aber sein Gesicht! Es brachte sie fast aus der Fassung. Sah so der echte Womanizer aus? Klar! Wie denn sonst?, entschied sie für sich.
Er setzte sich und sah sich um, hob für einen Atemzug seine Nase, sog genießerisch den schwachen Duft ein, der vom Bratwurstgrill am anderen Ende des Biergartens an seinem Tisch vorbeizog, und bevor er irgendetwas entdeckte, was an diesem idyllischen Platz unter der ausgewachsenen Kastanie seine weitere Aufmerksamkeit fand, hörte er die Bedienung leichtfüßig über den groben Kies auf ihn zu kommen. Das zwanzigjährige Mädchen blieb aufgeregt vor dem Tisch stehen.
„Was darf’s denn sein?“, fragte es, bemüht, ganz normal zu wirken.
„Ein Weizen, alkoholfrei, bitte.“
„Sehr gern.“ Das junge Ding notierte das Getränk, strahlte ihn dabei an – und blieb stehen.
Der Mann ließ drei, vier Sekunden verstreichen, in denen er dem Gezänk dreier Spatzen zusah, die sich um den Brocken einer Semmel balgten, dann hob er den Kopf und strahlte zurück.
„Eh, ja, ein alkoholfreies Weizen“, wiederholte sie leicht errötet die Bestellung und glitt sichtlich erregt davon.
„Es ist nicht fair, wie Sie dem armen Mädchen den Kopf verdrehen“, bemerkte Helen scherzhaft, aber durchaus ernst gemeint. „Als hätten Sie das nötig.“
„Ich habe das nicht bewusst getan. Es tut mir leid, wenn Sie mein Benehmen abstoßend finden.“ Er zuckte um Entschuldigung bittend mit den Schultern und legte gleichzeitig die Stirn in leichte Falten. „Dort, wo ich zu Hause bin, übersieht man mich eher.“
„Und wo ist dort, wo Sie zu Hause sind?“
„Ich wohne in der Nähe von Köln, bin aber alle vier Wochen hier in Nürnberg. Beruflich.“
„Ein Gelegenheitspendler sozusagen. Arbeiten Sie bei der Bundesanstalt? Oder, lassen Sie mich raten: bei einer Bank?“, fragte sie aus Jux.
Der Mann schaute sie an und lächelte. Es war offensichtlich, dass sie ihm gefiel. Nicht nur ihr bildhübsches Äußeres, sondern auch die charmante, gepflegte Art, mit der sie das Gespräch lenkte. Donnerwetter!, dachte er. Wie sie mich ausfragt, ohne direkt und aufdringlich zu sein.
Das Getränk kam, und der Mann zahlte.
„Nein, nicht bei der Bundesanstalt. Das wäre ein paar Schuhnummern zu groß für mich“, gab er sich bescheiden. Er verriet bewusst nicht mehr. „Und Sie?“
„Auch nichts Besonderes“, wiegelte sie ab.
„Was darf ich mir darunter denn vorstellen?“, witzelte er.
Sie schauten sich in die Augen, lächelten sich an und wussten, dass sie sich einem Flirt ganz ungewöhnlicher Art hingaben. Es war eine Art Versteckspiel, ein taktisches Manöver, das darin bestand, dass jeder vom anderen mehr wissen wollte, als er preiszugeben selbst bereit war. Ihre Antworten schienen wohlüberlegt, ja, besonders abgewogen, damit das Gegenüber ja nicht zu viel erfuhr.
„Ich heiße übrigens Marc.“
„Helen.“
„Okay, Helen, lassen Sie mich raten. Sie machen etwas Kreatives, stimmt’s?“
Helen zögerte wieder einen Moment. Eine Strähne ihres langen brünetten Haares fiel ihr ins Gesicht. Sie schob die untere ihrer dezent geschminkten Lippen nach vorn und pustete sie weg. „Die Richtung stimmt. Aber was tun Sie? Und weswegen fahren Sie regelmäßig nach Nürnberg?“
„Es hat schon ein bisschen mit Geld zu tun, da haben Sie vorhin ganz richtig gelegen. Meine Firma sorgt dafür, dass am Schluss die Finanzen stimmen. Hm, eigentlich kann ich gar nicht richtig mitreden. Ich habe nämlich erst vor kurzem umgeschult und bin praktisch noch in der Lernphase. Aber nochmal zu Ihnen: Sind Sie Künstlerin? Kunstdesign, Schriftstellerei? Verraten Sie’s mir einfach.“
„Das hätten Sie jetzt gern!“ Sie zögerte, fuhr aber fort: „Na gut, ich verrate es Ihnen. Danach …“
„Klar! Ich habe keinen Grund, etwas zu verheimlichen“, schnitt er ihr das Wort ab. „Also, raus mit der Sprache.“
„Ich schreibe. Reicht Ihnen das?“
„Vorerst. Ich berate. Was und worüber schreiben Sie?“
„Kinderbücher. Und hin und wieder ein Jugendbuch.“
„Unternehmen, die unsere Hilfe brauchen. Im Augenblick bin ich aber noch Assistent. Mir fehlen die Routine und die Erfahrung, um Kunden eigenständig zu betreuen.“ Er schaute ihr in die Augen und schüttelte vor Bewunderung ganz unscheinbar den Kopf. „Eine Kinderbuchautorin, wow! Ich finde, das ist eine tolle Lebensaufgabe. Chapeau!“ Er nickte überzogen anerkennend.
Und sie lächelte zurück in dem Stolz, eine besonders gute Figur abgegeben zu haben.
„Und wem helfen Sie, ich meine, welchen Unternehmen?“
„Es sind die, die wirtschaftlich in eine Schieflage geraten sind oder zu geraten drohen.“
„Aha!“, stieß sie aus. „Aber sind Sie nicht ein bisschen jung für so einen Job. Das machen doch nur erfahrene Leute ab fünfzig, oder?“
„Die Älteren brauchen auch Junge, weil die Jungen manchmal die besseren Strategien draufhaben und sich in manchen Märkten besser auskennen. Aber wie gesagt, ich bin noch nicht soweit.“ Marc erschrak über sich selbst. Was erzählte er denn jetzt für einen Unsinn? Er überlegte kurz, dann versuchte er, die Dinge wieder geradezurichten: „Ich werde ja nur auf einem Gebiet beratend tätig sein. Ich bin ein Zahlenmensch. Ich hab’s mit Statistiken und Kontrollvorgängen.“
„Ich kann mir vorstellen, dass so eine Tätigkeit sehr gut bezahlt wird.“ Höflicher konnte man nicht nach dem Verdienst fragen.
„Ach, Helen“, versuchte Marc besonders tief zu stapeln. „Welche Arbeit wird schon richtig bezahlt? Als Single hat man sein Auskommen, aber eine Familie könnte ich davon nicht ernähren.“
Helen schluckte trocken. Er war Single!, folgerte sie. Dieser Hammertyp war allein auf dieser Welt, ohne feste Bindung und vielleicht sogar noch zu haben. Sie entschloss sich, sich noch mehr ins Zeug zu legen.
„Sie sagten, Ihr Job führt Sie regelmäßig nach Nürnberg. Alle vier Wochen, das sagten Sie doch?“
„Ja, ja.“ Er nickte zustimmend. „Da werden alle Umschüler zu Seminaren geladen. Ich bin übrigens mit fünfunddreißig der älteste. Unsere Firma ist in ganz Deutschland vertreten. An welchem Buch arbeiten Sie denn gerade?“
„Ach, es geht um … um … die Bedeutung von Freundschaften. Darum, dass sich auch Kinder auf ihre Freunde müssen verlassen können. Ich habe eine Probe an drei Verlage geschickt, und stellen Sie sich vor: Alle drei sind sehr interessiert. Ich glaube, ich stehe kurz vor dem Durchbruch.“
„Oh, Gratulation! Wie viele Bücher haben Sie denn schon geschrieben?“
Helen schaute ihn grinsend an. Ihre Lippen öffneten sich ein wenig, dass zwei schneeweiße Zahnreihen zum Vorschein kamen. Ihre mittleren Schneidzähne stießen nicht aneinander, sondern waren durch einen feinen Spalt getrennt. Der winzige Makel fiel Marc sofort auf. Aber statt an ihrem hübschen Gesicht Abstriche zu machen, fand er, dass er es noch interessanter machte. Dann schaute sie, Bescheidenheit vortäuschend, nach unten.
„Sieben, es sind inzwischen sieben. Aber die habe ich alle als angestellte Autorin eines Verlages geschrieben. Sie sind nur unter dem Verlagsnamen erschienen. Schade drum. Jetzt bin ich selbstständig, und das, woran ich im Augenblick arbeite, schreibe ich unter meinem eigenen Namen.“
Sie kramte plötzlich nervös in ihrer Tasche, klappte ihr Handy auf, um nach der Uhrzeit zu sehen, und erschrak. „Oh Gott, ich hätte längst an … ich habe einen Termin … es ist schon viel zu spät. Ich muss sofort los, tut mir leid.“
„Schade, Helen, die Unterhaltung mit Ihnen hat mir sehr viel Spaß gemacht. Verraten Sie mir, auf welchen Autorennamen ich bei den Kinderbüchern achten muss?“
Sie war aufgestanden und fast schon im Weggehen begriffen. „Das sage ich Ihnen in vier Wochen.“
„Okay, Helen, heute in vier Wochen um halb fünf. Hier im Biergarten.“
*
Marc trank in Ruhe sein Bier aus. Eine Kastanie samt Schale fiel, viel zu früh für die Jahreszeit, krachend auf den Tisch und riss ihn aus seinen Gedanken. Was für ein hübsches kleines Ding, murmelte er vor sich hin, und irgendwie hat sie etwas, was man mögen muss. Hm, tolles Mädchen. Wie alt wird sie wohl sein? Achtundzwanzig, dreißig, vielleicht so alt wie ich? Er grinste vor sich hin, wie man das häufig bei einem Selbstgespräch tut. Dann stand er auf und verließ die Gartenwirtschaft. Das Mädchen, das ihn bedient hatte, sah ihm nach.
Er betrat einen Parkplatz, öffnete die hintere Tür einer Großlimousine und stieg ein.
„Leo, fahren Sie mich ins Hotel zurück“, sagte er zu seinem Chauffeur. „Ich muss mich noch rasieren und umziehen.“
„Gern, Herr Siebeck, hoffentlich kommen wir nachher gut durch den Verkehr. Die Aufsichtsratssitzung beginnt in nicht einmal einer Stunde.“
„Ich weiß, Leo“, sagte er gelassen. „Aber es gibt keinen Grund zur Hetze. Ohne mich können die nicht anfangen.“
„Ja, da haben Sie auch wieder recht.“
Als Marc Siebeck das Firmengebäude ganz in der Nähe des Biergartens betrat, musste er auf dem Weg zum Fahrstuhl einen Durchgang passieren, von dem aus man in ein Speiselokal sehen konnte. Zwischen den Tischen war eine Bedienung im weißen Schürzchen dabei, Essen aufzutragen. Sie hatte lange brünette Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Und sie hatte ein bildschönes Gesicht.
Marc war zu sehr in Eile, um sie wiederzuerkennen.