- Beitritt
- 02.01.2002
- Beiträge
- 2.436
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
In Memoriam - Neue Version
Für viele Menschen ist ein Friedhof ein unheimlicher Ort. Nicht für mich. Ich gehe gern dorthin. Vor allem in den kälteren Jahreszeiten kümmere ich mich regelmäßig um das Grab meiner Großmutter. Ich lockere die Erde auf, zupfe Blätter aus den Blumen, säubere den Stein. Als Großmutter starb, war ich ein Kind, ich besitze nicht viele Erinnerungen an sie. Wenn ich ihr Grab pflege, habe ich das Gefühl, etwas für sie tun zu können, auch nach ihrem Tod mit ihr verbunden zu sein. Es ist ein gutes Gefühl. Ich stehe oft vor ihrem Grab, die Hände in den Taschen vergraben, und hoffe, dass sie weiß, dass ich sie nicht vergessen habe. Niemand sollte vergessen werden.
An einem Nachmittag war ich früher fertig als gedacht. Ich schlenderte über die Wege, blieb hin und wieder vor einem besonders kunstvoll angefertigten Stein stehen und suchte nach bekannten Namen. Mein Herz wurde schwer, als ich die Kindergräber erreichte. Kleine, weiße Grabsteine und Engelstatuen reihten sich aneinander, geschmückt mit Spielzeug, das keine Kinderhand mehr berühren würde. Ich las einige der Inschriften, in denen verzweifelte Eltern eine letzte Botschaft an ihr verlorenes Kind richteten und fragte mich, wo die Gerechtigkeit geblieben war.
Ich hatte mich bereits zum Gehen gewandt, als ich etwas Helles hinter einem Busch hervorschimmern sah. Ich strich die Blätter beiseite und entdeckte ein Kreuz. Dunkles Moos hatte sich in das einst weißgestrichene Holz gegraben. An manchen Stellen blätterte die Farbe ab. Der Name war nicht mehr zu erkennen. Kein Spielzeug. Keine Inschrift. Ein, zwei Minuten lang stand ich da und betrachtete das kümmerliche Grab. Der Wind raschelte in den Zweigen. In der Nacht würde es gefrieren. Wer immer dieses Kind gewesen war, es verdiente ein wärmendes Licht.
Ich holte die erst zur Hälfte abgebrannte Kerze vom Grab meiner Großmutter aus der Tasche hervor und zündetete sie an. Ihre winzige Flamme rührte mich. Wie lange mochte es her sein, dass hier ein Licht geflackert hatte? - Ich konnte das Grab nicht so zurücklassen. Ohne weiter zu überlegen, kniete ich nieder und kramte Schaufel, Lappen und einen kleinen Rechen aus der Tasche. Die harte Erde wurde umgegraben, das Holzkreuz vom ärgsten Schmutz befreit, die vermoderten Blättert entfernt, der Busch zur Seite gedrängt. In einem Abfalleimer fand ich einen Blumenstrauß, beim Brunnen eine Plastikvase und stellte beides dazu.
Nach etwa einer halben Stunde besah ich mein Werk. Viel hatte ich in der kurzen Zeit nicht leisten können. Das einstige Weiß des Holzes war verloren, die Blumen ließen bereits die Köpfe hängen, die Vase hatte einen Sprung. Und doch: Wo auch immer die Eltern dieses kleinen Engels waren, warum auch immer sie sich nicht mehr kümmern konnten oder wollten - wer an diesem Grab vorüberging, würde denken, dass es zumindest einen Menschen gab, der dieses Kind nicht vergessen hatte.
Als ich zurücktrat, stieß ich gegen einen Mann. Seine Kleidung wies ihn als Friedhofswärter aus. Sein Blick ruhte auf dem bescheiden hergerichteten Grab.
»Ich bin keine Verwandte«, hörte ich mich sagen, »aber mir hat das Kind so Leid getan und da habe ich mich ein wenig darum gekümmert. Es scheint keine Angehörigen mehr zu haben.«
Der Mann lächelte - ein trauriges Lächeln, das ich nie vergessen werde.
»Nein«, entgegnete er. »Die kleine Lisa hat niemanden mehr.«
Er drehte sich zur Seite und wies auf die gegenüberliegende Gräberreihe.
»Das letzte Grab rechts«, sagte er leise. »Wenigstens liegt ihre Mutter nicht so weit weg.«