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Immer wenn er Mädchen sah

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20.06.2002
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Immer wenn er Mädchen sah

Katja Stein saß an ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Die Einrichtung sah aus, als würde sie nicht hierher gehören. Zwei kleine Fenster säumten die Außenwand, und an dieser Wand stand der schwere Schreibtisch. Ein Schrank, vollgestopft mit Akten, befand sich links der Tür. Nichts in diesen vier Wänden erinnerte daran, dass das alte Bauernhaus im 16. Jahrhundert erbaut wurde. In der Mitte des Raumes stand ein schmucker Tisch und dahinter ein teures Sofa, das Katja im vergangenen Jahr in Mailand erwarb. Eigentlich besorgte sie es für einen Kunden, es war auch schon ausgeliefert, aber dann stellte sich heraus, dass dieser nicht bezahlen konnte. Sie wartete ein halbes Jahr auf das ausständige Geld, doch als die Summe nach einer erneuten Mahnung wieder unbeglichen blieb, sah sie sich gezwungen, das Sofa zurückzufordern.
Sie war gerade mit der Arbeit am Computer beschäftigt. Erst gestern installierte sie ein neues Programm, die Arbeit sollte damit schneller von der Hand gehen, die zahlreichen Zeichnungen leichter zu verwalten sein. Das Programm zeigte sich vielversprechend, auch der Prozessor war guten Willens. Doch bei allem guten Willen war er überfordert und sie dachte zum wiederholten Male an diesem Vormittag daran, sich einen neuen Computer anzuschaffen.
Da schreckte sie hoch. Sie hielt inne. Deutlich hörte sie das Geräusch. Es kam aus dem Hühnerstall und es hörte sich an, als wäre ein Fuchs dort eingedrungen, um sich mit dem Mittagessen zu versorgen.
"Na warte", sagte sie entschlossen, während sie ihre Gestalt aus dem Sessel schraubte. Sie musste ihren Körper verbiegen, als sie durch die Tür stürmte. Dann scharf nach links und auf den Hof hinaus. Auf halbem Weg sah sie einen Holzprügel auf dem staubigen Boden liegen und nahm ihn an sich.
Sie erreichte den Hühnerstall, riss die Tür auf und blieb überrascht stehen.
Katja Stein ließ den Knüppel los, stemmte die Hände in die Hüften. Die Hühner tobten aufgeregt und in Todesangst durch den Hühnerstall, einige fanden den Weg in die rettende Freiheit.
Aber es war nicht der Fuchs, der die Hühner in solche Angst versetzte. Fassungslos blickte sie auf die Gestalt, die inmitten des Hühnerstalls stand und sie anstarrte. Es war ihr Sohn Thomas. Er war vor zwei Monaten acht Jahre alt geworden. Sie hatte ja Verständnis für so manchen Streich. Doch was war ihrem Sohn da wieder eingefallen? Ein paar Freunde im gleichen Alter würden ihm gut tun. Doch die hatte er nicht. Er war ein Einzelgänger. Die Frau hatte oft darüber nachgedacht, warum das so war und sich schon hundertmal die Frage gestellt, was sie bei seiner Erziehung falsch gemacht hatte. Möglicherweise widmete sie ihrem Sohn zu wenig Zeit. Da war die Arbeit... Und ihm fehlte der Vater.
Katja senkte ihren Blick. Dort lag der kräftigste Hahn mit merkwürdig verdrehtem Kopf. Er war tot. Dann sah sie Thomas ins Gesicht. In seinem Gesicht zuckte es. Seine Finger strichen nervös über den schmalen Körper. Katja wurde wütend und fragte mit scharfer Stimme: "Wer war das? Wer hat den Hahn umgebracht?"
Thomas blickte sie an. "Ich habe es getan", sagte er und in seiner schrillen, beinahe hysterischen Stimme klang ein bisschen Stolz mit durch. "Ich habe ihn gepackt und seinen Kopf herumgedreht, bis er sich nicht mehr bewegt hat."

In den folgenden Jahren fanden viele Leute tote Hühner in ihren Ställen, und oft führte die Spur zu Thomas Stein. Der Junge fiel durch sein sonderbares Verhalten auf. Er wirkte auf eine seltsame Weise bedrohlich. Es war als gehe alles Böse von ihm aus. Offenbar war es dem blonden, hübschen Jungen bestimmt, ein Einzelgänger zu sein. Selbst in der Schule fand er nur Ablehnung. Überall wo er auftauchte, wurde er weggeschickt und man nannte ihn "Hühnerkiller". Er saß oft für mehrere Stunden bewegungslos und stierte in die Luft, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Dabei nahmen seine Augen einen traurigen Ausdruck an. Er spielte nicht wie andere Kinder, er zog sich lieber in die nahen Wälder zurück, um Tiere zu beobachten - und zu töten.
Als der Junge größer wurde und seine Altersgenossen sich für Mädchen zu interessieren begannen, sah man ihn häufig brütend und grübelnd auf Wiesen sitzen. Es schien als würde er warten... warten auf ein besonderes Ereignis.
Es gab genug Mädchen, die sich für den Jungen mit den traurigen Augen interessierten. Aber er wollte nichts von ihnen wissen - nicht von diesen Mädchen! Er war der festen Überzeugung, etwas besonderes zu sein. Er spürte deutlich, dass er anders war und er war entschlossen, seiner Berufung zu folgen.

10. Juli 2001
Im nahen Gasthaus, nur zwei Kilometer von Neuhofen entfernt, hatte sich Todd Stanton für einige Wochen niedergelassen, um einen ausgedehnten Landurlaub zu genießen. Todd Stanton war ein erfolgreicher Leichtathlet aus England und als Kindernarr bekannt. Er konnte Kindern ganz einfach nichts abschlagen. Auf der Insel hatte er den Spitznamen Sugar erhalten, weil er seine kindlichen Fans mit Süßigkeiten aller Art überhäufte.

Am Nachmittag des 12. Juli 2001 machte sich die kleine Christine mit ihrer neuen Puppe im Arm auf den Weg zu Sugar. Dem Mädchen war nicht entgangen, dass er vor zwei Tagen ganz in der Nähe ihres Heimatortes abgestiegen war. Es nahm an, dass es alle Kinder wussten. Sugar Todd Stanton, der Liebling aller Kinder, war in Ried im Innkreis abgestiegen. Christine konnte es nicht fassen, und doch war es wirklich so. Sie wollte ihm ihre Puppe zeigen.
Es war gegen 13.30 Uhr, als sie ihr Elternhaus verließ. Das Thermometer zeigte 30 Grad und es würde noch heißer werden. Christine ging fröhlich vor sich hinsummend die Straße entlang. Sie war glücklich. Wolkenloser Himmel. Vogelgezwitscher. Die Bäume des nahen Waldes wiegten die Äste im Wind.
Warum konnten nicht alle Erwachsenen so sein wie Sugar? In etwa einer halben Stunde würde Christine am Ziel angekommen sein. Sie hoffte nur, dass sie ihn antraf. Er sollte doch ihre Puppe, auf die sie so stolz war, bewundern. Wenn sie einmal groß war, dann würde sie Sugar heiraten, das war längst beschlossene Sache.
Christine ließ sich von ihren Gedanken treiben. Mittlerweile hatte sie den Waldrand erreicht, wo das graue Band der Straße eine Biegung nach links vollzog. Sie mochte den Wald nicht. Da war es so dunkel zwischen den Bäumen - und unheimlich. Sie hatte schreckliche Geschichten über die Waldgeister gehört. Ihr Bruder wusste lebhaft darüber zu berichten. Und sie hatte Angst. Nie würde sie den Wald betreten - nicht einmal für Süßigkeiten!
Ein unangenehmes Gefühl beschlich das Mädchen. Plötzlich sah es auf der anderen Straßenseite, etwa zwanzig, vielleicht dreißig Schritte von der Straße entfernt einen Mann. Er saß auf dem Boden. Er war jung, blond. Er sah zu ihr herüber und winkte grüßend.
Christine blieb unwillkürlich stehen. Jetzt winkte der Mann wieder, diesmal mit den Fingern, auffordernd. Er wollte, dass sie näher kam. Das Mädchen glaubte, ein freundliches Lächeln auf dem fast jugendlichen Gesicht des Mannes zu erkennen. Vergessen war die Angst und vergessen war Sugar. Da war ein Fremder, der vielleicht mit ihr spielen wollte. Vergessen waren die Warnungen der Eltern, mit fremden Leuten zu sprechen.
Langsam, fast zögernd verließ sie die Straße und näherte sich dem Fremden. Ihre Beine trugen sie wie selbstständig zu dem Mann, der jetzt bewegungslos auf dem grasbewachsenen Boden saß. Als sie vor ihm stand, bemerkte sie das Lächeln der blauen, traurigen Augen. Doch da war noch etwas anderes, es lag tiefer und es war unergründlich.
Da fuhr die Hand des Mannes in seine Hosentasche und als sie wieder zum Vorschein kam, lagen drei Bonbons auf der Handfläche.
"Wollen wir zusammen spielen?" fragte der Fremde und lächelte weiter.
Das Mädchen antwortete nicht, starrte wie gebannt in seine Augen. Jetzt glaubte sie, darin etwas lauerndes zu erkennen. Wie hypnotisiert stand Christine da. Die Augen mit dem traurigen Ausdruck ließen sie nicht los.
Der Fremde schob sich ein Bonbon zwischen die Zähne. "Willst du?" fragte er mit ruhiger Stimme und streckte dem Mädchen die Hand entgegen.
Christines Blick haftete auf den Bonbons, die ihr angeboten wurden und sie spürte deutlich, wie in ihr das Verlangen danach wuchs.
Sie griff nach den Bonbons. Das Gesicht des Mannes hatte einen zufriedenen Ausdruck angenommen.
"Wollen wir zusammen spielen?" wiederholte er seine Frage von vorhin.
Das Mädchen nickte. Die Bonbons hatten die beabsichtigte Wirkung erzielt."Was wollen wir spielen?"
Der Mann dachte kurz nach und sagte dann: "Wie wär`s mit einem Versteckspiel?"
"Toll", antwortete Christine. Sie war begeistert, dass ein Erwachsener mit ihr spielen wollte.
"Gut. Gehen wir in den Wald. Dort gibt es viele gute Verstecke."
Christine war einverstanden. Die Waldgeister und die Geschichten ihres Bruders zählten nicht mehr. Ein Erwachsener wollte mit ihr in den Wald gehen, da war sie doch in Sicherheit. Niemand konnte ihr etwas antun, denn ihr neuer Spielkamerad würde sie schon beschützen.
Der Fremde stand auf und griff nach Christines Hand. Willig folgte sie ihm, bis die Schatten des Waldes sie verschlang.
Die Stimmen der Tiere klangen hier deutlicher. Der Boden war bedeckt mit braunen Nadeln und Tannenzapfen. Direkt vor Christine befand sich ein Baum, der sich einst stolz in den Himmel erhob und die anderen Bäume um einige Meter überragte, aber durch die Last der Jahre hatte er seinem Alter Tribut zollen müssen und war gebrochen. Jetzt lag er da wie ein stummer Zeitzeuge der Vergangenheit.
Der Mann drehte sich zu ihr um. Noch immer lächelte er. "Ich werde jetzt langsam bis zwanzig zählen, und dann suche ich dich. Ok?" Der klang der Stimme hatte sich nur unmerklich verändert.
Christine nickte nur und lief augenblicklich tiefer in den Wald. Es war als hätte sie nie Angst davor gehabt, sich hier zu bewegen. Schon bald fand sie ein dichtes Gebüsch.
Nach wenigen Sekunden saß sie bewegungslos hinter dem Gebüsch und versuchte, ruhiger zu atmen. Der Fremde mit den traurigen Augen könnte ihre verräterischen Atemzüge hören und sie würde das Spiel verlieren, befürchtete sie. Nur langsam gelang es ihr, sich zu beruhigen.
Sie hörte das Brechen von Zweigen und dachte schon, der Mann hätte sie entdeckt. Sie fuhr blitzartig herum. Aber es war nur ein Reh, das durchs Dickicht brach. Das Tier blieb kurz stehen, um dem zweibeinigen Eindringling zu begutachten und verschwand.
Christine war erleichtert. Das Spiel war also doch noch nicht verloren. Sie hatte ein gutes Versteck gefunden.
Aufgeregt beobachtete sie ihre nächste Umgebung. Ihr Blick versuchte das schützende Gebüsch zu durchdringen. Die Anspannung war groß. Das Spiel machte großen Spaß.
Da tauchte der Fremde auf. Er stand etwa fünfzehn Schritte von ihrem Versteck entfernt zwischen den Bäumen und suchte mit seinen Augen die Umgebung ab.
Das Mädchen lächelte vergnügt. Die Spannung stieg noch einmal. Ein Rascheln in seinem Rücken. Einen Augenblick wurde Christine abgelenkt. Diesmal war es ein Hase. Und als sie wieder zu der Stelle blickte, wo der Mann gestanden hatte, war er verschwunden.
Zum ersten Mal seit einer Weile beschlich sie Nervosität. Wieder ein Rascheln. Das Brechen von kleinen Zweigen. Ein Fasan flog wild kreischend auf. Christine bewegte sich nicht. Wo war der Fremde mit den traurigen Augen?
"Hab ich dich!" Die Stimme war nur ein Hauch.
Christine fuhr erschrocken herum. Der Mann stand vor ihr, und er lächelte. Aus seinen Augen war der traurige Ausdruck verschwunden und als er sich über sie beugte und seine feingliedrigen Hände um ihren Hals legte, verschwand auch das Lächeln aus seinem Gesicht.
In den Augen des Fremden lag nur noch brennende Mordlust. Seine Hände drückten zu. Das Mädchen begriff, dass das kein Spiel mehr war und öffnete den Mund zu einem Schrei. Doch es hatte keinen Atem mehr. Christines Luftröhre wurde zugedrückt. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, und sie schlug mit den Händen nach ihrem Peiniger. Doch sie hatte gegen die überlegene Kraft des Fremden keine Chance.
Erst als das Mädchen in seinen Händen erschlaffte, ließ er vom ihm ab. Sein Trieb war befriedigt - zumindest für den Augenblick. Er war des Satans Diener. Es war für ihn mehr als eine Pflicht, ihm zu dienen. Es war ein entsetzlicher Haß gegenüber Mädchen. Er musste diese Brut auslöschen, lange bevor in ihren Körpern neues Leben entstehen konnte.
Er richtete sich auf und verließ eilig den Wald. Das traurige Lächeln war wieder in sein Gesicht zurückgekehrt.

Die Leiche der kleinen Christine wurde am späten Abend des selben Tages gefunden. Ein älterer Mann führte seinen Hund spazieren. Das Tier führte er wie üblich nicht an der Leine. Das war auch nicht nötig, denn es war bestens geschult. Als der Mann sich dem Wald näherte, bemerkte er, wie der Hund stehen blieb. Er stand bewegungslos, stierte auf den Wald und senkte dabei seinen Schwanz.
Für den Mann ein sicheres Zeichen, dass etwas nicht in Ordnung war. Als er den Hund erreichte, sagte er nur: "Was ist denn los, Ari? Witterst du etwas? Na komm, zeig es mir!"
Es war, als hätte der Hund nur auf die Aufforderung gewartet. Er führte sein Herrchen zu jenem Gebüsch, hinter dem die Leiche der kleinen Christine lag.

Während die Kriminalpolizei mit den Ermittlungen begann, die Spuren sicherte und den Mörder suchte, wurde im Wald unweit von Ried entfernt die sechsjährige Brenda Hauser gefunden - erwürgt. Eine zweite Ermittlungsgruppe wurde eingesetzt, um den Mord an Brenda aufzuklären. Aber es gab nur wenige Spuren. Man war sich nicht einmal sicher, ob Brenda am Fundort getötet worden war oder ob der Mörder sie dorthin geschafft hatte.
Die Bevölkerung war aufgebracht. Es war Hochsommer, die Kinder wollten draußen spielen, aber die Eltern hatten Angst, ihre Kinder unbeaufsichtigt zu lassen. Die Polizei stand unter großem Druck von innen und von außen.
Beweise, dass es sich um einen Täter handelte, gab es nicht, wenn auch die selbe Tötungsart für diese These sprach.
Die Befürchtungen der Polizei, dass es sich um einen Psychopathen handelte, einen Täter mit einem krankhaften Trieb, dem er nicht gewachsen war, bestätigten sich, als Brendas Pflegemutter einen Brief erhielt, den offenbar der Mörder abgeschickt hatte.
Der Brief war nur mit seinen Initialen T. S. unterzeichnet und in Wien abgestempelt. Der Briefschreiber teilte der Pflegemutter mit, dass er seine Tat bereue:
Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat. Aber jetzt ist es zu spät. Doch ich kann sagen, dass in den nächsten zwei Wochen eine weitere Leiche irgendwo gefunden werden wird.
Derselbe Brief - es war wieder jedes Wort aus Zeitungen feinsäuberlich ausgeschnitten - ging wenige Tage später in der Redaktion der auflagenstärksten Tageszeitung ein, Poststempel diesmal Lienz. Der Inhalt des Briefes wurde noch in der Abendausgabe auf der Titelseite abgedruckt.
Groß war die Empörung der Bevölkerung und noch größer die Angst. Trotz einer flächendeckenden Fahndung tappte die Polizei im Dunkeln, da es keine verwertbaren Spuren gab. Keine Zeugen und auch keinen Verdächtigen.

Es war der 3. August, gegen 13.30, als Hans Müller seinen Traktor startete. Er zündete sich noch eine Zigarette an, dann fuhr er los. Nach etwa einer Minute erreichte er die Hauptstrasse. Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, ehe er die Straße wieder verließ. Der schwere Traktor holperte über einen Feldweg. Er reduzierte die Geschwindigkeit, um einem tiefen Schlagloch auszuweichen. Bald würde er den Wald erreicht haben und die Arbeit konnte beginnen. Er liebte die Arbeit in den Wäldern. Als naturverbundener Mensch fühlte er sich hier am wohlsten.
Zu beiden Seiten des Wegs tauchten dichte Büsche auf. Stellenweise war der Weg so schmal, das das Geäst am Fahrzeug entlang streifte. Jetzt fuhr er nur noch Schritttempo.
Plötzlich trat der Mann ruckartig auf die Bremse. Seine hohe Stirn legte sich in Falten. Er glaubte, im Gebüsch vorhin ein helles Schimmern gesehen zu haben -wie menschliche Haut. Eine Sinnestäuschung?
Hans stellte mit nervösen Fingern den Traktor ab und kletterte auf die Erde. Er musste sich Gewissheit verschaffen. Als er auf die fragliche Stelle zuging, stand Schweiß auf seiner Stirn. Er war noch drei Schritte vom Gebüsch entfernt, als er deutlich eine Hand sah. Es war die Hand eines Kindes. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er trat näher, tauchte tiefer in das Gebüsch hinein und im nächsten Moment war Entsetzen in sein Gesicht geschrieben.
Da lag die kleine Bettina Krüger, bewegungslos, tot. Er kannte die Eltern des Mädchens gut, sie waren nur einen Steinwurf von seinem Hof entfernt zu Hause. Bettina hatte jeden Tag die Milch für das Frühstück geholt. Oft war sie mit ihm auf dem Traktor mitgefahren. Das Mädchen war acht Jahre alt. Sie würde nie wieder auf seinem Traktor sitzen und nie wieder lachen. Wer konnte so etwas Schreckliches tun?
Jetzt erinnerte sich der Mann an die beiden Kindermorde der vergangenen Wochen. Das war ganz in der Nähe gewesen. Die Kriminalpolizei hatte eine Armee von Leuten hergeschickt. Aber sie konnten den Würger nicht fassen.
Hans wandte sich um, rannte zum Traktor zurück und verständigte via Handy die Polizei. Es gelang ihm nur mühsam, seine genaue Position anzugeben, da der Schock erst jetzt wirkte. Es wurde ihm gesagt, dass er an Ort und Stelle bleiben und unter keinen Umständen etwas berühren sollte.
Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, bis die Polizei eintraf. Kommissar Weigl, ein riesenhafter Kerl, 1,90 m groß, mit breiten Schultern, hatte sich höchstpersönlich an den Tatort bemüht. Einige Männer von der Spurensicherung waren auch dabei, und selbstverständlich ein Fotograf.
Während Hans Müller dem Kommissar seine Personalien gab, beobachtete er mit tränenden Augen, wie der leblose Körper der kleinen Bettina geborgen und abtransportiert wurde.
Nachdem Weigl die üblichen Fragen gestellt hatte, gab er Hans seine Karte und sagte: "Falls Ihnen irgendetwas einfällt, was mit diesem Fall zu tun haben könnte, und sei es auch noch so weit dahergeholt, so rufen Sie mich an."

Der Kommissar kaute missmutig an seiner Oberlippe und starrte wortlos grübelnd aus dem Fenster. Innerhalb von wenigen Tagen drei tote Kinder, alle drei erwürgt und etwa im selben Alter. Und Mädchen! Es gab bisher nicht den kleinsten Hinweis und der Druck der Öffentlichkeit wuchs.
"Wir müssen den Mörder finden", sagte Inspektor Fleischer, der an der Wand lehnte, "denn wenn es sich um ein und denselben Täter handelt, wird er mit jedem Mord sicherer."
"Das weiß ich selbst", erwiderte Weigl gereizt. "Einen Hinweis! Ich brauche einen Hinweis und ich hole mir den Würger. Ich kann die Leute da draußen gut verstehen. Wir werden schließlich von ihren Steuergeldern bezahlt. Und was haben wir bis jetzt. Nichts!" Er schlug mit der geballten Faust auf den Tisch.
Der Inspektor war eine solch deftige Reaktion von seinem Vorgesetzten nicht gewohnt. "Wir haben alle infrage kommenden Personen befragt", sagte er mit einer Stimme, der man anhörte, dass er einen weiteren Gefühlsausbruch des Kommissars befürchtete. "Niemand weiß etwas. Allerdings..." Er brach unvermittelt ab.
Weigl hob die Augenbrauen. "Allerdings was?"
"Der Mann, der das letzte Opfer gefunden hat... nun ja, wie soll ich sagen. Es ist nur so ein Gefühl, aber er schien mir doch etwas mehr zu wissen, als er zu sagen bereit war."
Da wurde die Tür aufgestoßen und ein mickriges Männchen trat ein, das man nie und nimmer der Polizei zugeordnet hätte. "Wir haben Hautfetzen unter den Fingernägeln des Opfers gefunden!"
Weigl richtete sich zu seiner vollen Größe auf. "Na also, der Mörder muss verletzt sein! Aber wer ist er? Und vor allem, wo hält er sich versteckt?"
Das Telefon läutete. Der Kommissar hob ab. "Ja?" Weiter sagte er nichts mehr. Er lauschte angespannt und schien seine Kollegen im Raum nicht mehr zu bemerken. Dann endlich knallte er den Hörer auf die Gabel, umrundete den Schreibtisch und eilte zur Tür hinaus. "Kommen Sie mit, Fleischer!"
Fleischer rannte dem Kommissar hinterher. Als er das Gebäude verließ, saß dieser schon im Dienstwagen und bedeutete ihm, sich zu beeilen.
Der Inspektor war an die fünfundzwanzig Kilo leichter als Weigl, und dennoch schaffte er es nie, sich so leichtfüßig zu bewegen wie dieser.
Nachdem er sich auf den Beifahrersitz geschwungen hatte, erkundigte er sich: "Was haben Sie erfahren?"
Der Kommissar fuhr mit quietschenden Reifen los. Es ging Richtung Neuhofen. "Sie hatten recht mit Ihrem Gefühl."
"Müller war also am Telefon", sagte Fleischer. Während der Wagen aus der Stadt rollte, erschien ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht.
"Was hat er gesagt?" ergriff der Inspektor nach kurzem Schweigen das Wort.
"Er sagte, ihm sei da etwas eingefallen. Er könne aber nicht am Telefon darüber sprechen."
Fleischers Triumph verstärkte sich. Also hatten sie endlich eine heiße Spur!
Nach wenigen Minuten rollte der Wagen mit den beiden Polizisten den schmalen Weg entlang zu Müllers Hof. Als sie ausstiegen, empfing sie der typische Landgeruch. Fleischer verzog angewidert das Gesicht und sah den Kommissar an. Diesem schien der Gestank nach Schweine- und Kuhscheiße nichts auszumachen.
Hans Müller führte die beiden Polizisten ins Haus. "Setzen Sie sich doch!"
Fleischer nahm auf dem Sofa Platz. Weigl zog es hingegen vor, stehen zu bleiben. Knisternde Spannung lag in der Luft. Der Kommissar musterte Hans Müller und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen.
"Warum haben Sie uns herkommen lassen?" erkundigte sich Weigl.
Hans Müller begann, seine Finger zu kneten. Offensichtlich war er nervös. "Die Sache ist einfach schrecklich. Ich kannte Bettina gut, sie war mir so richtig ans Herz gewachsen. Die andern beiden Mädchen. Ich habe nachgedacht, und da ist mir etwas eingefallen. Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, und es ist auch schon eine Weile her. Das war damals schon eine merkwürdige Geschichte. Jedenfalls war da ein Junge, der in seiner Jugend Hühnern den Hals herumdrehte und auch noch stolz darauf war. Und sonderbar ist er ja auch heute noch..."
Die beiden Polizisten warfen sich einen Blick zu.
"Können Sie sich an seinen Namen noch erinnern?" fragte Weigl.
"Er heißt Thomas Stein, wohnt nicht weit von hier auf einem alten Bauernhof, der seiner Mutter gehört. Im 16. Jahrhundert erbaut." Müller fügte noch eine Wegbeschreibung an. "Sie können den Weg gar nicht verfehlen. Damit Sie sich nicht irreführen lassen, sollten Sie wissen, dass der Hof seit vielen Jahren nicht mehr in Betrieb ist. Katja Stein arbeitet dort als Innenarchitektin."
"Wie war das mit den Hühnern?" forschte Weigl.
"Nun ja, wie ich schon sagte, es ist schon einige Jahre her. Aber ich erinnere mich da an einen Tag, an dem ich im Hühnerstall ein totes Huhn fand. Das wäre ja nicht ungewöhnlich, aber man sah sofort, dass das Genick gebrochen war. Ich wusste sofort, wer dafür verantwortlich war. Natürlich war ich wütend, und deshalb fuhr ich zum Hof seiner Mutter, um ihn zur Rede zu stellen. Katja Stein bezahlte mir den entstandenen Schaden. Als sie mir das Geld gab, stand der Junge hinter ihr und ich habe seine Augen gesehen, es waren irre Augen. Ich werde diesen Blick nie vergessen. Dieser Mann ist gefährlich, glauben Sie mir. Und wenn Sie mich fragen, dann ist er der Mörder."
"Wir werden das überprüfen", entgegnete Weigl, während er sich erhob. "Danke für den Hinweis."
Wenige Minuten später verließen die beiden Polizisten den Hof. Als der Kommissar auf die Hauptstrasse einbog, ergriff Fleischer das Wort: "Sie nehmen die Geschichte doch nicht ernst?"
"Warum nicht? Wir suchen einen Psychopaten. Oder sind Sie anderer Meinung?" Weigl gab seinem Kollegen keine Gelegenheit, zu antworten. Er fuhr unvermittelt fort: "Nehmen wir an, die Geschichte stimmt, dann haben wir einen Verdächtigen."
"Ich darf doch wohl davon ausgehen, dass wir zu diesem Stein fahren?"
"Ja", bestätigte Weigl.

Der Bauernhof der Katja Stein war leicht zu finden. Ein großes Namensschild wies darauf hin, dass sie auf dem richtigen Weg waren.
Innenarchitektur KATJA STEIN.
Als die beiden Männer aus dem Wagen kletterten, wurde die Haustür aufgestoßen und eine Frau erschien im Türrahmen. Die Polizisten kamen näher und zückten ihre Erkennungsmarken.
Sie warf nur einen kurzen Blick darauf. "Was kann ich für Sie tun?"
"Katja Stein?" fragte Weigl.
"Ja."
"Können wir mit Ihrem Sohn sprechen?"
"Worum handelt es sich?"
"Es geht um die Kindermorde der vergangenen Wochen", erklärte Weigl. "Wir wollen Ihrem Sohn nur ein paar Routinefragen stellen."
Sie nickte und gab die Tür frei. "Bitte kommen Sie herein."
Die Polizisten wurden ins Arbeitszimmer geführt. Sie zeigten sich beeindruckt, da sie hier einen solchen Raum nicht vermutet hätten. Weigl hatte mit seiner Körpergröße ein Problem. Er musste den Kopf einziehen, um nicht gegen die Balken der niedrigen Decke zu stoßen.
"Machen Sie es sich bequem", sagte die Frau. "Ich werde meinen Sohn rufen. Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick."
Katja Stein verschwand aus dem Raum und stieg die Treppe hoch.
Weigl setzte sich und hob seinen Kopf wieder in die Höhe.
"Glauben Sie, dass wir auf der falschen Fährte sind?" fragte Fleischer, der aus dem Gesichtsausdruck seines Vorgesetzten nicht schlau wurde.
"Ich weiß es nicht."
Dann erschien ein junger Mann auf der Bildfläche. Er betrat den Raum, als sei alles in bester Ordnung. Die beiden Polizisten waren überrascht. Er hatte ein paar Striemen im Gesicht und Kratzer an den Armen.
"Thomas Stein, nehme ich an", sagte Weigl an den jungen Mann gewandt. "Ihre Mutter wird Ihnen bereits gesagt haben, dass wir ein paar Fragen haben. Wir untersuchen den Mord an Bettina Krüger. Kennen Sie das Mädchen?"
"Ja."
"Haben Sie mit ihr gesprochen?" fragte Weigl weiter.
"Ja."
"Woher stammen die Kratzer im Gesicht und an den Armen?" forschte Fleischer.
Thomas schwieg und blickte dem Fragensteller eiskalt an. Fleischer zuckte innerlich zusammen.
"Der Mörder der kleinen Bettina muss solche Verletzungen haben. Beantworten Sie die Frage. Wenn Sie sich weigern, so kennen wir Mittel und Wege, es auch ohne Ihre Hilfe festzustellen."
Thomas ließ sich nicht einschüchtern. Keine Regung im Gesicht.
Fleischer fragte ohne Umschweife: "Haben Sie das Mädchen getötet?"
Die Augen des jungen Mannes glänzten, seine Wangen glühten rot, als er mit kräftiger Stimme sagte: "Ja, ich habe sie getötet. Ich habe die Hände um ihren Hals gelegt, bis das Leben aus ihr entwich. Es war genauso wie bei den anderen kleinen Mädchen."
Thomas leugnete nichts. Er beschrieb, wie er Bettina am Stadtrand gesehen und sie dann in den Wald gelockt hatte. "Und immer wenn ich kleine Mädchen sehe, überkommt es mich. Ich wollte aber nur mit ihr spielen..."
Thomas Stein und das kleine Mädchen hatten auch eine Stunde unschuldig miteinander gespielt, aber dann, plötzlich, ohne Grund, legte er seine Hände um den Hals des Mädchens. Als sie zudrückten, schrie Bettina, sie kratzte ihn und schlug mit Händen und Füßen.
Thomas Stein wurde nach dem umfassenden Geständnis verhaftet. Das Gericht legte fest, dass er unzurechnungsfähig war, nachdem mehrere Psychiater zu diesem Ergebnis gekommen waren. Er wurde in eine Anstalt eingewiesen.
Ein halbes Jahr lang war er ein Musterpatient. Schon bald genoss er gewisse Vergünstigungen - so durfte er bei einigen Gelegenheiten auch Zivilkleidung tragen.
In dieser Zivilkleidung gelang ihm am 30. April 2001 die Flucht aus der Anstalt. Mit einem aus Bettüchern gedrehtem Strick ließ er sich aus dem Krankentrakt zehn Meter in die Tiefe.
So spazierte er dann durch den kleinen Ort, der in der Nähe der Anstalt lag. Es war dunkel. Die Nacht war sternenklar und er hatte Heimweh.
Die Straßen des Ortes waren menschenleer, obwohl Mitternacht noch zwei Stunden auf sich warten ließ. Er sah vor sich die Leuchtreklame eines Wirtshauses und als er sich langsam näherte, erkannte er, dass nur wenige Autos davor standen.
Die Scheinwerfer eines Wagens tauchten auf. Thomas musste sich verstecken. Sicher suchte man bereits nach ihm. Er schmiegte sich an die Seite eines Kastenwagens und wartete gespannt. Das Motorengeräusch wurde lauter. Sekunden später sah er die Rücklichter des Polizeiwagens, der in langsamer Fahrt vorbeirollte.
Hatten ihn die Polizisten entdeckt? Wenn ja, dann würden sie sicher zurückkommen. Sie suchten nach einem geisteskranken Killer, der einsam durch die Gegend irrte. Und das war seine Chance. Wenn er eine Begleitung fand, dann ... Ruckartig setzte er sich in Bewegung und betrat das Gasthaus. Stimmengewirr schlug ihm entgegen. An der Bar entdeckte er eine gutaussehende Frau mit schulterlangem, blondem Haar.
"Ist es erlaubt, dass ich mich zu Ihnen geselle?" fragte er.
"Ich habe nichts gegen etwas Gesellschaft", entgegnete die Frau.
Der Wirt nahm die Bestellung auf. Thomas beobachtete ihn unauffällig beim Vorbereiten des Getränkes und er war sicher, dass er nicht erkannt worden war.
"Ist wohl nicht sehr viel los hier in diesem Ort?" fragte er an die Frau gewandt.
"Da haben Sie recht. Die einzige Attraktion, die wir hier haben, ist die Irrenanstalt etwa zwei Kilometer von hier."
"Ich habe davon gehört."
"Sie sind fremd hier. Ich kenne hier im Ort jedes Gesicht, nun ja, als Friseurin schneide ich beinahe allen die Haare. Ich habe Sie noch nie gesehen. Woher kommen Sie?"
Thomas zauberte ein charmantes Lächeln auf sein Gesicht. "Aus Neuhofen", antwortete er. "Sie werden es nicht kennen, das ist dort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen."
Die Frau lächelte wissend. "Sie irren sich. Da meine Schwester ganz in der Nähe wohnt, ist mir der Ort durchaus bekannt."
Sie nippte an ihrem Wein. "Übrigens, mein Name ist Ingrid Bauer. Und wie heißen Sie?"
Es vergingen einige Sekunden, ehe er sich zu einer Antwort entschloss. "Thomas", sagte er. Er hielt es für besser, seinen vollen Namen zu verschweigen. Schließlich hatten sämtliche Zeitungen über die Mädchenmorde berichtet.
"Ist das Ihr Vor- oder Nachname?"
"Meine Freunde nennen mich Thomas", entgegnete er.
"Einen Nachnamen haben Sie nicht?"
"Den verrate ich Ihnen später."
"Weshalb sind Sie sicher, dass es ein später geben wird?"
"Weil ich weiß, dass Sie mit mir tanzen gehen", sagte der Mann voller Überzeugung.
Ingrid war überrascht von der Selbstsicherheit, die der Fremde an den Tag legte. "Da wissen Sie mehr als ich", antwortete sie als sie die erste Überraschung überwunden hatte.
"Ich weiß, dass Sie es tun werden." In den Augen des Mannes lag ein geheimnisvoller Glanz.
"Sie halten sich für unwiderstehlich", stellte Ingrid fest, während sie erneut nach dem Weinglas griff und als sie es absetzte fügte sie noch hinzu: "Vielleicht tue ich es tatsächlich. Der Fairness halber will ich Ihnen sagen, ich gehöre nicht zu jenen Frauen, die man nach einem Gläschen abschleppen kann. Aber wer weiß ..."
Für Thomas Stein bahnte sich ein Spiel an, das er unbedingt gewinnen musste. Er dachte wieder an den Polizeiwagen und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Beamten hier auftauchten. Er bemerkte, dass ihn die Frau ansah - sie beobachtete ihn. Und er konnte den Blick nicht deuten, das machte ihn nervös. Er durfte nicht unsicher werden, so würde er das Spiel verlieren.
"Woran denken Sie jetzt?" fragte die Frau. "Das Spiel hat doch gerade erst begonnen. Sie haben noch nicht verloren!"
"Oh, entschuldigen Sie", sagte er fast verlegen. "Ich war eben in Gedanken."
"Sie waren mir wohl eben untreu und dachten an Ihre Freundin", meinte Ingrid.
"Oh nein, ich habe keine Freundin." Er suchte ihre Augen und flüsterte, um vom Thema abzulenken. "Sie haben wunderschöne Augen."
"Ich habe ja nicht nein gesagt."
Das Gespräch dauerte noch eine Weile, so kam es, dass sie schließlich doch noch Tanzen gingen. Die Zeit verging wie im Flug. Die Frau war vom langen Tanzen müde geworden.
"Ich fahre wohl besser nach Hause", sagte sie. "Es ist schon spät."
Thomas nickte nur.
"Wo werden Sie schlafen? Hier im Ort?"
"Nein." Er zögerte einen Moment. "Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, wo ich schlafen soll. Ich bin heute erst hier angekommen. Ich wollte mir noch ein Zimmer besorgen, aber dann traf ich Sie, und jetzt ist es wohl zu spät."
"Sie sind wohl auf Dienstreise?"
"Sie haben es erraten. Ich bin Vertreter und verkaufe Staubsauger."
"Und Ihr Wagen steht in der Werkstatt, Sie sagten es schon. Jetzt sind Sie hier festgenagelt." Ingrid überlegte einen Augenblick. "Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie können bei mir auf der Couch schlafen, aber versprechen Sie mir, dass Sie mir keinen Staubsauger verkaufen." Sie lachte und der Mann fiel in ihr Lachen ein.
"Das ist sehr freundlich von Ihnen", bedankte sich Thomas. "Aber ich möchte lieber nicht." Er wusste nicht, warum er das sagte. In Ingrids Haus wäre er sicher gewesen, doch da war etwas in ihm, dass ihn dazu drängte, abzulehnen.
"Wie Sie wollen. Aber Sie können morgen früh zum Frühstück kommen, bevor Sie Ihren Wagen abholen."
"Dieses Angebot nehme ich dankend an."
"Sie können das Haus nicht verfehlen, es liegt am Ende der Straße. Wenn Sie dass Lokal verlassen, wenden Sie sich einfach nach links. Also dann, bis morgen früh um acht Uhr."
Ingrid Bauer griff nach ihrer Handtasche und ließ ihn allein zurück.
Thomas verließ wenige Minuten später das Lokal. Er stand noch eine geraume Weile wie verloren am Straßenrand, die Hände in den Hosentaschen und dachte an die vergangenen Jahre seiner Jugend. Er wusste nicht, wo er die Nacht verbringen sollte, und so kam es, dass er bis zum Morgengrauen durch die schlafende Ortschaft schlenderte. Nur wenigen Bewohnern fiel der seltsame junge Mann auf, wie er einsam durch die Straßen ging.
Die morgendliche Frische vertrieb die Müdigkeit aus seinen Knochen und er war froh, als sich endlich der Horizont blutrot färbte und wenig später die Sonne aufging.
Es wurde schnell wärmer, während der gesamte Ort aus dem Schlaf erwachte und die Menschen zur Arbeit fuhren. Thomas stand am östlichen Rand der Ortschaft und beobachtete ein kleines Mädchen, das hinter einem kleinen Häuschen auf der angrenzenden Wiese mit ihrem Ball spielte und offensichtlich viel Spaß dabei hatte.
Plötzlich setzte er sich in Bewegung. Er ließ die Straße hinter sich. Er hatte nur noch Augen für das Mädchen. In ihm kehrte die alte Lust zurück. Er wollte mit dem Mädchen spielen.
Das Mädchen warf den Ball, so hoch es konnte, in die Luft und schlug mit dem Fuß danach. Der Ball beschrieb daraufhin einen Bogen und rollte in Thomas' Richtung.
Das Mädchen blieb stehen. Es hatte den Mann entdeckt. Thomas trat nicht zu heftig nach dem Ball. Der Ball rollte einen Meter an dem Mädchen vorbei.
"Wie heißt du denn?" fragte Thomas.
"Linda."
"Willst du Schokolade?" Er zog dabei eine Tafel Schokolade aus seiner Tasche, von der etwa die Hälfte fehlte.
Lindas Augen glänzten, als sie das lila Papier sah, das die Köstlichkeit enthielt. "Mami sagt, ich darf von Fremden keine Geschenke annehmen."
"Du hast eine kluge Mami. Mein Name ist Thomas Stein. Bin ich jetzt noch ein Fremder?"
"Nein", sagte das Mädchen zögernd.
Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf das Gesicht des jungen Mannes. In der Anstalt hatten sich in den letzten Wochen die Tage gehäuft, in denen ihn neben dem Heimweh, auch ein klaustrophobisches Gefühl ergriffen hatte. Er wollte nicht mehr eingesperrt sein. Er sehnte sich nach Freiheit. Er wollte wieder spielen, genauso wie in seiner Vergangenheit. Und in diesem Augenblick sah er sich nahe seinem Ziel.
"Wollen wir zusammen spielen?" fragte Thomas fast schüchtern.
Linda nickte und griff nach der Schokolade.
"Na los, Linda, hol den Ball und schlag ihn zu mir!" rief er.
Das Mädchen brach ein Stück Schokolade ab und schob es sich in den Mund. Sie rannte zum Ball, um ihn in Richtung ihres Spielkameraden zu treten. Natürlich reichte seine Kraft nicht aus. So musste Thomas ein paar Schritte aufrücken. Wieder trat er den Ball ein paar Meter hinter das Mädchen. Wie nach einem teuflischen Plan. Wieder rannte Linda nach hinten und versuchte, den Ball so weit wie möglich zurückzutreten. Aber bei aller Anstrengung schaffte sie es nicht.
So näherten sich die beiden unaufhaltsam dem Gebüsch, das Thomas als Ziel auserkoren hatte. Der Junge mit den traurigen Augen, der er einmal war, konnte dem krankhaften Trieb nichts entgegensetzen.

Kurze Zeit später stand Thomas Stein vor dem Haus Ingrid Bauers. Hübsche Blumen im Vorgarten. In der Einfahrt parkte ein VW Golf. Er klingelte an der Haustür.
"Es freut mich, das Sie meine Einladung angenommen haben", begrüßte ihn die Frau mit einem freundlichen Lächeln.
"Die Freude ist ganz meinerseits", sagte er.
"Bitte kommen Sie herein. Der Kaffee ist schon fertig und wartet auf Sie." Die Frau gab die Tür frei und vollführte eine einladende Handbewegung.
Ingrid führte ihren Gast ins Wohnzimmer. Der Tisch war bereits gedeckt. Die Einrichtung war nicht nobel, aber sehr behaglich. Hier konnte man sich so richtig wohlfühlen.
"Nehmen Sie schon mal Platz", sagte die Frau. "Ich hole den Kaffee. Fühlen Sie sich wie zu Hause."
Der Mann ging langsam auf die Couch zu und setzte sich. Er lehnte sich gemütlich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Die Ruhephase tat seinem übermüdeten Körper gut. Dann blickte er auf den Bücherschrank, der die ganze Wand zu seiner rechten einnahm. Er hatte für Bücher nie etwas übrig gehabt. Das waren für ihn nur belanglose Worte auf bedrucktem Papier.
Ein riesiger Gummibaum, der neben dem Fernsehgerät stand, erfüllte diesen Raum mit ungeahntem Leben. Er starrte den Gummibaum an und da sah er sich wieder mit dem kleinen Mädchen hinter dem Gebüsch verschwinden.
Auf dem Frühstückstisch stand ein Körbchen mit frischem Gebäck. Butter, Marmelade und Honig. Der Anblick weckte seinen Appetit.
Da hörte er leise Schritte. Ingrid Bauer war mit dem Kaffee zurückgekehrt. Nachdem sie das dampfende Getränk eingeschenkt hatte, setzte sie sich.
"Nehmen Sie Zucker oder Süßstoff?" erkundigte sich die Frau.
"Weder noch", antwortete Thomas. "Ich finde, Zucker nimmt dem Kaffee das Aroma."
Ingrid lächelte. "Greifen Sie zu. Haben Sie keine Hemmungen."
Thomas griff nach einem Brötchen. Nachdem er es mit Butter und etwas Marmelade beschmierte, drängte es ihn in seinem Heißhunger, es geradezu zu verschlingen. Doch hatte er von seiner Muter gelernt, dass sich ein solches Benehmen nicht schickte.
Erst als er das zweite Brötchen aß, fiel ihm auf, wie attraktiv seine Gastgeberin war. Das war ihm gestern Abend gar nicht aufgefallen. Er schätzte ihr Alter auf etwa dreißig Jahre. Sie war schlank und gut gebaut.
Der Kaffee war stark und belebte die Lebensgeister des Mannes. Während er das heiße Getränk genoss, beobachtete er die Frau. Er sagte nichts. Ingrid begann nervös mit den Fingern zu spielen. Offenbar behagte ihr die lastende Stille nicht.
"Seit mich mein Mann vor zwei Jahren verlassen hat", begann sie, "wirkt das Haus so leer und manchmal fühle ich mich einsam."
"Haben Sie denn keinen Freund?" fragte Thomas. "Die Männer hier scheinen blind zu sein."
"Oh danke." Sie errötete leicht. "Aber so einfach ist es nicht. Ich möchte schließlich wissen, ob er es ehrlich meint. Es gab da mal einen Mann... Aber als meine Mutter einen Nervenzusammenbruch erlitt und seither in einer Anstalt lebt, fehlt mir ganz einfach die Freude, abends auszugehen. Wenn ich sie besuche, liegt sie nur in ihrem Bett und starrt die Decke an. Ich glaube, sie erkennt mich gar nicht." Als sie nach der Tasse griff, zitterten die Hände und der Kaffee schwappte über.
Im nächsten Augenblick fiel der Frau auf, wie blass der Mann war. Er saß bewegungslos da und starrte vor sich hin. Er wirkte wie abwesend. Sie begann, sich zu wünschen, sie wäre diesem Mann niemals begegnet. Ein Unbehagen kroch wie eine Bedrohung in ihr hoch.
"Ist etwas nicht in Ordnung?" wollte sie wissen. Sie gab sich Mühe, ihrer Stimme einen sicheren Klang zu geben.
Thomas sagte nichts. Wieder diese erdrückende Stille. Die Wände schienen näher zu rücken. Eine eigenartige Furcht griff mit klauenbesetzten Pranken nach ihr. Diese unerklärliche Angst. Woher kam sie?
"Das Mädchen...", sagte Thomas mit monotoner Stimme. "Das Mädchen... es liegt im Gebüsch bei den Glockenblumen und ist tot. Ja, es ist tot..."
Es folgte nur Schweigen. Ingrid Bauer glaubte, in einem Alptraum gelandet zu sein. Sie bekam kein Wort heraus. Ihre Kinnlade klappte nach unten und sie starrte den Mann mit weit aufgerissenen Augen an.
"Ich habe es getötet. Das kleine Mädchen. Mit meinen Händen. Früher habe ich so auch die Hühner getötet. Zuerst war ich ja nervös, aber jetzt geht es mir besser."
Der Mann mit den traurigen Augen saß da, als wäre er in einer Traumwelt versunken, die irgendwo jenseits aller bekannten Galaxien existiert.
Ingrid überlegte fieberhaft. Wovon hatte dieser Mann gesprochen? Sie konnte es nicht glauben. In ihr steigerte sich mit jeder Sekunde die Angst. Und die Stimme in ihrer Gedankenfabrik wiederholte langsam die Worte: "Das Mädchen... es liegt im Gebüsch bei den Glockenblumen und ist tot."
"Entschuldigen Sie mich einen Augenblick", sagte die Frau und bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten. "Ich muss mal auf die Toilette."
Thomas reagierte nicht. Er starrte wieder ins Nichts.
Ingrid Bauer erhob sich und verließ nicht zu eilig den Raum, jedoch suchte sie nicht die Toilette auf. Sekundenlange Stille und dann das kaum zu vernehmende Geräusch, als sich eine Tür schloss.

Der Mann wartete. Aber als die Frau nicht zurückkam, verließ er das Haus. Er stand inmitten der Blumen und entdeckte hinter dem benachbarten Haus zwei spielende Kinder. Er näherte sich ihnen langsam. Es waren zwei Mädchen. Da war wieder dieser Trieb in ihm. Es war wie ein Fluch und er konnte nichts dagegen tun.
"Wollen wir zusammen spielen?" fragte er.
Die beiden Mädchen fanden es lustig, dass ein Erwachsener mit ihnen spielen wollte und waren begeistert.
"Was wollen wir spielen?" fragte eines der Mädchen.
"Gehen wir in den Wald", antwortete der Mann. "Dort gibt es tolle Verstecke."
Thomas nahm die Kinder an der Hand und ging mit ihnen vom Haus weg auf den nahen Wald zu. Mordlust flackerte in seinen Augen. Er war ein Gefangener seines kranken Gehirns.

Die beiden alarmierten Polizisten sahen den Mann mit den Kindern im Wald verschwinden und rannten ihm hinterher. Er bemerkte die Verfolger, ließ die Kinder los und hetzte tiefer in den Wald hinein. Doch dieses Mal verweigerte ihm der Wald seinen Schutz und er gab schon nach wenigen Minuten auf. Die Polizisten fanden ihn, mit dem Rücken an einem Baumstamm lehnend. Er ließ sich widerstandslos festnehmen.

 

Mach dir nix draus, geht mir bei meinen Geschichten genauso!

Auf der anderen Seite finde ich es gar nicht schlecht, wenn man auf Fehlerchen aufmerksam gemacht wird. Ich hab' meine eigenen Geschichten alle auf dem Rechner und möchte sie möglichst fehlerfrei bekommen. Bin also selbst für jeden Hinweis dankbar, der mich diesem Ziel näherbringt!

Gruß

Christian

 

Irgendwie beruhigt mich die Tatsache, daß es nicht nur mir so geht!

Gruß
Rudi

 

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