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Im Wind
Im Wind
Der Schrank lässt sich nicht verschließen. Der Schlüssel dreht sich herum, zieht aber den Riegel nicht mit. Ärgerlich schlage ich gegen die Sperrholztür, die unverdrossen zurückschwingt. Durch das Fenster kann ich auf den Hafen sehen. Containerriesen, bepackt mit bunten Schachteln aus aller Welt, gleiten sanft über die Elbe, ihnen voran die kleinen Schlepper, emsig wie Bienen. Das Tuten der Nebelhörner schwappt mit dem Kreischen der Möwen und dem Geruch nach Pommesbude durch das Fenster zu mir herein.
Im unteren Stockwerk der kleinen Pension steht hinter dem Empfangstisch des Alten ein Automat mit Getränken. Ich zögere. Sicher sitzt er noch immer da, das faltige Gesicht mit den runden Brillengläsern erwartungsvoll auf die Treppe gerichtet. Aber der Abend ist noch lang und ich habe Durst.
Ich werfe der Schranktür einen letzten bösen Blick zu und verlasse das Zimmer. Nickend schlendere ich an dem Alten vorbei, ziehe ein Geldstück aus der Hosentasche, fingere es in den Automatenschlitz und drücke eine Nummer. Nichts. Ich klopfe vorsichtig gegen die Glasscheibe, aber der Automat bleibt regungslos. Gerade will ich unverrichteter Dinge wieder nach oben abziehen, als der Alte hinter mir auftaucht.
„Kein Strom!“ Er spricht das ST hanseatisch spitz. Bückt sich hinter den Metallkasten, wühlt einige Sekunden herum und richtet sich dann auf. „Lohnt sich nicht, ihn den ganzen Tag laufen zu lassen.“ Er drückt das Geldstück wieder heraus und reicht es mir. Mit einer Handbewegung fordert er mich auf, den Automaten erneut zu bedienen. Ich wiederhole die Prozedur. Dieses Mal poltert die gewünschte Blechdose heraus.
„Danke.“ Ich greife zu. „Schönen Abend noch.“
„Kaffee zum Frühstück?“
Klar, was denn sonst. „Gern.“
„Gehen Sie auf einen Condock?“
Seufzend bleibe ich stehen. „Auf die Parmida. Morgen Mittag bin ich an Bord.“
Er wackelt mit dem Kopf. „Das ist dann schon etwas Ordentliches. Ein gewaltiges Schiff.“
„War drei Jahre auf der Juliet. Aber die Reederei ist pleite gegangen.“, füge ich hinzu. „Ist nicht einfach heutzutage.“
„Einfach war es nie.“ Stöhnend reibt er seine knotigen Handgelenke.
Mein Blick fällt auf eine große Flasche, die sauber abgestaubt auf einem Regal hinter ihm aufglänzt.
„Wenigstens wird es gut bezahlt.“ Ich wollte längst oben in meinem Zimmer sein. „Man kommt herum in der Welt.“
„Das hält keine Ehe lange aus.“ Er grinst schmerzlich.
Ich deute mit dem Kopf auf die Flasche. „Sie sind zur See gefahren?“
„Mein Großvater.“
„Meiner auch.“
Mit steifen Bewegungen holt er die Flasche herunter und platziert sie behutsam auf dem Tisch. Ein Schiff ist in das Glas eingeschlossen. Fünf Masten. Sechs Segel an jedem Mast. Auf dem Sockel prangte ein Name in Kapitallettern auf einem winzigen goldenen Schild. ‚Viktoria‘.
„Das Schiff Ihres Großvaters?“
Er setzt sich. „Seine erste und letzte Fahrt.“
Ich öffne die Dose. „Was ist passiert?“
Mit einem Lächeln zeigt er auf einen Stuhl ihm gegenüber. Ich lasse mich darauf nieder.
„Ich habe die Geschichte von meinem Vater und der hat sie von seinem Vater gehört.“ Halb spöttisch sieht er mich an. „Wie das so ist mit dem Seemannsgarn. Großvater hieß Hans Martens, ebenso wie ich. 1910 heuerte er auf der ‚Viktoria‘ an.“
Umständlich fummelt er ein Päckchen aus der Tasche, klopft eine kurze, dickbauchige Pfeife auf dem Aschenbecher aus, stopft den Tabak mit den Fingern hinein und steckt sie dann in Brand. Genüsslich lässt er den Rauch aus seinen Nasenlöchern entweichen.
„Die ‚Viktoria‘ war kein gewöhnliches Schiff“, fährt er endlich fort. „Über 130 Meter lang und mehr als 16 Meter breit. Königin einer ganzen Flotte von Windjammern, die wie große Silbermöwen über die sieben Meere jagten. Gewann jeden Knoten allein aus der Kraft ihrer schneeweißen Rahsegel.
Der Herzschlag der Welt pulsierte damals schon immer schneller. Die Menschheit drängt eben auf den Fortschritt. Dampfschiffe wurden gebaut, die in immer größerer Zahl und immer kürzerer Zeit die Weltmeere durchpflügten.
Dürr wie ein Stecken, rothaarig und sommersprossig, fand mein Großvater mit seinen fünfzehn Jahren keine Arbeit in den Fabriken und Hafenanlagen. Zu viele junge Männer waren nach Hamburg gekommen, um hier nach Brot und Arbeit zu suchen. Der Magen schlackerte dem kleinen Hans vor Hunger an den Kniekehlen, als er endlich in der Reederei Leiß vorsprach. Doch auch hier erteilte man ihm eine Absage. Er wollte sich schon wieder davonmachen, als er auf der Treppe einem Mann begegnete.
In der Kapitänsuniform wirkte die hochgewachsene, muskulöse Gestalt mit den hellen Haaren und dunkel gebrannten Gesichtszügen besonders imposant. Die klaren, graublauen Augen schauten jedoch freundlich über die lange, kühn gebogene Nase hinweg, und so fasste sich Hans ein Herz und sprach den Mann an.
Es stellte sich heraus, dass Kapitän Petersen gerade das Kommando über die „Viktoria“ bekommen hatte. Mit zwölf Jahren hatte Petersen den Fischkutter seines Vaters in Warnemünde befehligt, mit fünfzehn Jahren in Rostock auf einem großen Frachtsegler angeheuert. Klugheit und eine große mathematische Begabung schoben ihn weiter voran, bis Petersen schließlich, siebenundzwanzigjährig, als jüngster Kapitän auf großer Fahrt, einen der großen Segler der Reederei Leiß übernahm. Leiß hatte keinen einzigen Dampfer in seiner Flotte, doch die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit ihrer Linien war legendär.
Mein Großvater hatte Glück: Der junge Kapitän nahm ihn als Leichtmatrosen an Bord der 'Viktoria'. Von Hamburg aus ging es noch am gleichen Tag nach Amsterdam und weiter nach Calais, wo Zucker aufgenommen wurde, um ihn hoch in den Norden nach Oslo zu fahren.
Es war schon recht spät im Jahr und die See begann, kühl und launisch zu werden. Hans polierte gerade Metallstücke im Laderaum, als der Bootsmann zu ihm herunterkam. „Martens?“
Bootsmann Lang, ein mürrischer, unfreundlicher Mann mit einer schwammigen, blauroten Nase und einem Hang zu gewalttätigen Zornausbrüchen, war schon seit einigen Jahren auf der „Viktoria“. Für einen Moment war Hans versucht, hinter den Türmen aus aufgerollten Tauen abzutauchen. Lang hatte ihn jedoch bereits entdeckt. „Watt treibst du da, Martens?“
„Glanzteile putzen, Bootsmann.“
„Mann inne Tünn! Hebb‘ ich di nich seggt, du sollst die Fallen schmiern?“
Betreten sah Hans zu Boden. Lang hatte es ihm gesagt. Aber das Einfetten der Taue an den Segeln im nasskalten Novemberwind war keine Arbeit, an die er sich gern heranmachte.
„Ich wollt es sofort hiernach erledigen, Bootsmann.“
Lang betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. „De Ferkeltreiber will för’n Penn freten und för’n Daler schieten!“, knurrte er. „Marsch, ab inne Tampen, Bursche! Oder ich mach dir Beine!“
Eilig lief der Junge davon und kletterte kurze Zeit später mit Schmiermittel und Pinsel die knarrende Takelage hinauf. Es war früher Abend. Die letzten Sonnenstrahlen verloren sich im aufkommenden Nebel über dem glatten, grauen Meer. Er war froh, dass die plötzliche Windstille ihm zumindest eine ruhige Arbeit bescherte.
Kapitän Petersen stand auf dem Mitteldeck, das Gesicht im Wind, während sein Blick über die See schweifte. Hans beobachtete, wie sich der Nebel in feinen Tröpfchen auf der Kapitänsmütze ablegte. Der Bootsmann erschien. Hastig beugte sich der Junge über seine Arbeit.
„Kapitän?“
„Lampen entzünden, Bootsmann. Der Erste Offizier soll Vorsegel einholen lassen und langsame Fahrt machen. Und Martens geht an die Nebelglocke.“
„Jawoll, Herr Kapitän.“ Lang zögerte. „Wenn wi nu zu doll trödeln, wern wi ne Menge Zeit verlieren.“
Petersen betrachtete seinen Bootsmann. „Wer ist auf dem Ausguck?“
„Nur Paulmann, Herr Kapitän.“
„Schicken Sie Kaminski mit hinauf.“
„Jawohl, Herr Kapitän.“
Der Bootsmann winkte Hans, herunterzukommen. Eine halbe Stunde später stand der Junge, sein Glück kaum fassend, in dicken Handschuhen vor der riesigen Messingglocke und schlug in regelmäßigen Abständen dagegen. An der zunehmenden Kälte spürte er selbst im dichten Nebel, dass die Sonne inzwischen untergegangen war. Fröstelnd verkroch er sich in seine Jacke, als ein Ruf vom Ausguck die trübe Stille durchdrang.
„Lichter voraus!“
Schritte dröhnten über das Deck, doch die Stimme des Kapitäns war deutlich zu hören. „Lampen auf!“
„Schiff voraus, Herr Kapitän!“
„Wir bleiben auf Kurs!“
„Jawohl, Herr Kapitän!“
Hans schlug jetzt in kürzeren Abständen. Der metallene Glockenton hallte dumpf hinaus auf das Meer und verschwand in den Nebeln.
„Es ist ein Brite, Herr Kapitän! Ein englisches Dampfschiff!“ Der Erste Offizier war an Deck gekommen.
Auch Bootsmann Lang blinzelte stirnrunzelnd durch die Nebelschwaden. „Der verdüllte Engländer prescht quer über unsern Kurs!“
Der Erste Offizier, ein ruhiger junger Mensch mit wässrigen, hellblauen Augen, wandte sich an Kapitän Petersen. „Sollen wir ein Ausweichmanöver einleiten, Herr Kapitän?“
„Ausweichmanöver?“ Lang schnaubte verächtlich. „Wi sünd auf Kurs! De Engelschmann schall man Platz machen!“
Petersen hob das Fernglas an die Augen, ließ es aber sofort wieder sinken. „Kein Ausweichmanöver! Wir haben zu wenig Fahrt.“ Er drehte sich zu Hans um. „Martens, fünf Kurzschläge!“
Mit aller Kraft schlug der Junge auf die Glocke ein. Ein grünes Licht schwamm durch den Nebel zu ihnen herüber, verschwand, flackerte wieder auf. Hans schluckte. Dicht. Zu dicht.
„Sind die denn blind und taub?“ Der erste Offizier hob die Arme. „He! Ho!“ Seine Rufe gingen in dem gleichmäßigen Wummern des näherkommenden Dampfschiffes unter. Ein dunkler Schatten durchbrach die Nebelwand wie ein riesiges, bedrohliches Tier.
„He weicht nich aus! He woll uns rammen!“
Der Schrei des Bootsmannes wurde von der Stimme des Kapitäns übertönt. „Hart Steuerbord!“
„Sie reagiert nicht! Wir sind zu langsam!“
Es krachte. Ein heftiger Schlag schleuderte Hans zu Boden. Verwirrt richtete er sich auf.
„Wir sind kollidiert!“ Rufe wurden laut. „Leckage Hintern! Wir machen Wasser!“
Wieder knirschte es laut. „Obacht! Der Klüverbaum kommt runter!“
Mit wehenden Segeln rauschte der Mast auf das Deck. Das Schreien der Männer vermischte sich mit dem Geräusch von splitterndem Holz.
„Alle Mann hoch! Lasst die Rettungsboote zu Wasser!“
„Nein! Dazu bleibt keine Zeit!“ Das war Petersen. Breitbeinig stand der Kapitän auf dem Deck. „Wir laufen das Ufer an!“
„Wi wern anne Felsen zerschellen!“ Langs Stimme hatte eine kreischende Höhe angenommen. „Wi wern allns afsuppen!“
„Zwei Strich Steuerbord!“
„Scher di zum Deubel, Petersen!“
Der Kapitän beachtete den Bootsmann nicht. „Setzt Notsignale! Rettungswesten anziehen!“
Zitternd schlüpfte Hans in eine der Westen, die ihm von einem der Matrosen hingehalten wurde.
„Martens! An die Glocke!“ Petersens helles Haar fiel ihm in die Stirn, während er bleich und ruhig seine Kommandos gab. „Langsam! Wahrschau Großbaum!“
Knarrend schlugen die verbliebenen Segel um. Hans biss sich die Lippen blutig, während er schlug. Lang, kurz, kurz.
„Sechs Faden!“
„Recht so! Kurs halten!“
Lang, kurz, kurz.
„Drei Faden!“
Lang, kurz, kurz. Mit einem Ächzen legte sich das Schiff zur Seite.
„Werft Steuerbordanker!“
Der plötzliche Ruck schien den Segler auseinander zu reißen. Gurgelnd und zischend lief Meerwasser über das Deck.
„Verlasst das Schiff!“
Hans wurde als einer der ersten in die eiskalten Fluten gestoßen. Keuchend klammerte er sich an die Reling des Hochdecks, das nun fast vollständig im Wasser lag. Dicht bei ihm strampelte Bootsmann Lang mit schreckensverzerrtem Gesicht. Um sich herum hörten sie die Männer in der Dunkelheit schreien. Hans sah hoch. Ein Licht flammte vor ihnen auf und beleuchtete die hohe Gestalt des Kapitäns, der sich an den Kreuzmast klammerte und ihnen mit dem Arm die Richtung wies. Mit den Füßen stieß sich Hans kräftig ab und paddelte los. Die Kälte durchdrang seinen ganzen Körper wie mit eisigen Nadeln, doch er arbeitete entschlossen dagegen an. Nach einer Ewigkeit spürte er endlich festen Untergrund. Aufatmend zog er sich auf einen Felsen und sah sich um. Auch Lang und der Erste Offizier hatten es geschafft.
Hans schaute zurück. Das Schiff lag gar nicht so weit entfernt. Selbst in der Dunkelheit und dem sich auflösenden Nebel konnte er sehen, wie sich die „Viktoria“ immer tiefer zur See hin neigte. Ihre Masten zersplitterten, einer nach dem anderen, und die einst so stolzen, weißen Segel flatterten wie graue Gespenster in den letzten Nebelschwaden, bis das Schiff schließlich auseinanderbrach und versank.“
„Hat man alle retten können?“
„Der englische Dampfer hat die gesamte Mannschaft von den Felsen gepflückt. Mein Großvater ist danach jedoch nie mehr zur See gefahren.“ Der alte Mann zwinkert mir zu. „Oh, er hätte wohl gewollt, hat aber keine Anstellung auf einem Schiff gefunden. Bis zum Ausbruch des Krieges arbeitete er in den Docks.“ Er klopft die kalte Asche aus dem Pfeifenkopf. „Im zweiten Weltkrieg ist er dann gefallen. Infanterie, nicht Marine.“
„Und Kapitän Petersen?“
„Soweit ich weiß, ist Petersen später mit einem anderen Segler untergegangen.“ Im Zimmer ist es inzwischen recht dunkel geworden. Er steht auf, um das Licht anzuschalten. Nachdenklich drehe ich die leere Dose im Schein der Lampe. Dann stelle ich sie ab und wünsche dem Alten eine gute Nacht. Auf dem Weg zu meinem Zimmer geht mir ein albernes Lied durch den Kopf: Ein Seemann wird immer wieder von Wind und Wellen auf das Meer hinausgerufen. Ich grinse in mich hinein. Vermutlich ist die ‚Parmida‘ inzwischen eingelaufen. Ich werde noch einige Stunden schlafen, bevor ich an Bord gehe.