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Im Tunnel
Schlimm, zum alten Eisen zu gehören. Ein alter Mann, dem beim Husten das Gebiss herausfällt, der beim Bücken nach Luft ringt, die Treppen rückwärts runtergeht, weil so die Knie weniger schmerzen. Und jetzt noch ein Hörgerät.
Ich habe die Schnauze voll.
Aber das Klassentreffen lasse ich mir nicht nehmen.
Die Familie zuckt zusammen. Fünf bieten sich spontan an, mich zu fahren. Würde ihnen gut passen, mal rauszukommen; ohnehin hätten sie in der Stadt etwas zu erledigen – bisschen shoppen vielleicht, Eis essen, Leute gucken, bis ich wieder nach Hause will, kann ruhig spät werden.
Aber danke, nein. Ich fahre selbst.
So lange liegt unsere Fahrt ins Périgord nicht zurück, dass ich den Umgang mit dem Navi schon vergessen hätte.
Auf der Teilnehmerliste habe ich gesehen, dass wir nicht mehr viele sind. Vor acht oder neun Jahren waren wir ein rundes Dutzend, jetzt nur noch ein halbes. Aber okay, ist wohl eh das letzte Mal. Hauptsache, Mia kommt.
Ich fahre von der Autobahn und ordne mich ein. Mit dem Navi geht das wie geschmiert. Jetzt rechts, Unterführung, Kreisverkehr, Altstadt. Na bitte.
Das Hörgerät lege ich ins Handschuhfach; High-Tech und beinahe unsichtbar – auch für Mia. Für sie werde ich es benutzen.
Jetzt noch ins Parkhaus. Bin ganz flattrig. Wenn sie diesmal wirklich kommt, will ich sie um Vergebung bitten, meine letzte Chance.
Unendlich lang liegt das zurück, aber ich krieg’s nicht aus dem Kopf.
Ich war total verliebt, dachte ständig nur an Mia. Immer spürte ich sie, nah bei mir - ganz gleich wo ich war, was ich tat – in meiner Mansarde, unterwegs, beim Sport.
Was musste das für ein toller Kerl sein, der bei ihr einen Fuß in die Tür bekommt? Musiker, Zauberer, Karate-Mann?
Trotzdem habe ich sie rumgekriegt, nach dem Gartenfest, nach der Bowle, in sie hineingerammelt, um ihr zu beweisen – ja was? Das hab ich später nie begriffen. Auch nicht meinen Abgang als feiger Hund.
Rotes Licht, Parkhaus besetzt. Weitersuchen. Noch ein rotes, das dritte steht auf Grün. Also rechte Spur, ich muss auf die rechte Spur. Ich blinke, aber sie lassen mich nicht rein. Vielleicht bin ich zu zögerlich. Hinter mir bildet sich eine Schlange, es wird gehupt. Ich wage nicht, die Spur zu wechseln. Ständig tauchen Fahrzeuge auf, nur darauf bedacht, mir keine Lücke zu lassen. Aggressiv fahren sie an mir vorbei wie ein Endlos-Zug.
Ich schaffe das nicht. Das Hupen hinter mir wird lauter, das kann sogar ich hören. Ich nehme den Blinker zurück und muss auf der falschen Spur weiterfahren. Drüben wäre die Einfahrt zum Parkhaus, aber ich fahre Gott weiß wohin.
‚Industriepark Süd’ – ach du große Scheiße! Dann lieber rechts in den Tunnel. Eine Scheißbeleuchtung. Es ist sowieso alles Scheiße. Schon kommt die nächste Abzweigung: ‚Anlieferung’ und ‚Recycling / Verwertung’. Ich liefere nichts, aber was soll ich bei ‚Recycling’! Was zum Teufel – die Laderampe eines Lkw schiebt sich in meine Spur, ich trete auf die Bremse, dass die Reifen schreien. Ich will rausspringen, nein, das hätte ich früher gemacht, ich hasse es, wenn sich ein Blödian durch seine Stärke Rechte verschafft, die ihm nicht zustehen.
Dieser Idiot setzt die Warnblinker, soll wohl ‚danke’ heißen? Danke für Stress! Ich mache eine böse Geste und umfahre sein verdammtes Hinterteil.
Ich hasse Tunnel. Jetzt ist die zweite Spur verschwunden, ich fahre weiter, habe keine Wahl. Schilder warnen mich, aber wo soll ich hin? Drehen kann ich hier nicht. Prompt kommt mir ein schneeweißer Truck entgegen. Hat Sirenen wie ein Ozeanriese, blendet auf wie ein ganzes Sonnensystem, fletscht die Zähne. Ich verreiße das Steuer und lande in einem noch engeren Tunnel mit Notbeleuchtung, rot und grün. Müllcontainer, Folien, Kartons. Dunkle Leute arbeiten da, verschieben etwas, versperren mir den Weg.
Stopp. Ich kann sie nicht überfahren. Ein mulmiges Gefühl überkommt mich. Sieht aus wie eine Falle. Bevor ich die Zentralverriegelung bedienen kann, öffnet einer die Tür.
Pfefferspray, Pistole, Schlagring – irgendwas sollte ich haben! Er sagt etwas, aber was? Ich wage nicht, ins Handschuhfach zu greifen. Egal, scheiß drauf, es geht nur um das bisschen Leben – paar Monate, paar Jahre – und um die Silberlinge. Was? Kommt jetzt die Bibel ins Spiel, bei mir?
Er redet immer weiter, wirbelt mit den Händen, zeigt nach vorne und zurück. Ich habe keine Chance.
Wahrscheinlich will er, dass ich aussteige. Also tue ich das, drehe meinen Finger um das goldene Kettchen von Doro so lange, bis es reißt. Das soll er nicht haben! Mit dem Fuß schiebe ich es in die Gullyritzen. Dabei erhebe ich die Hände ein bisschen, aber nicht über den Kopf wie im Film. Er sagt etwas, ich verstehe nichts. Er setzt sich auf meinem Platz und startet den Motor. Das habe ich kommen sehen. Die nehmen alles, was sie kriegen können. Doch wozu er mit mir so viele Umstände macht, ist mir unverständlich. Er dreht die Scheibe runter, redet auf mich ein und rudert mit den Armen.
Ich habe mich in mein Schicksal ergeben. Ein anderer kommt näher, wirkt mit dem schwarzen Vollbart noch dunkler. Jetzt kommt das Messer. Achtundsiebzig bin ich geworden. Die Mia muss ich im Himmel treffen. Er drängt mich auf die andere Seite, öffnet die Tür und bugsiert mich in mein eigenes Auto.
Der Mann am Steuer muss nicht wie ich den Kopf nach hinten drehen, schaut nur in die Rückspiegel und fährt forsch hinaus aus der Unterwelt. Er macht einen eleganten Schlenker und die Karre steht in der richtigen Fahrtrichtung. Dann steigt er aus, verbeugt sich schelmisch und lacht dabei.
Was für eine Blamage. Jedenfalls klemme ich mein Hörgerät hinters Ohr und da bleibt es bis zum Ende meiner Tage!
Seit der Périgord-Reise muss ich immer an die Eichenalleen denken, still und würdevoll. Ich möchte lieber dort sein.
Hier hat der Verkehr enorm zugenommen, der Ratten-Test auf der Straße - rücksichtslos und aggressiv. Es wird gedrängelt, dass einem Angst und Bange wird. Nur ungern fädle ich mich wieder ein, vielleicht etwas beherzter als bei der Parkplatzsuche, doch nicht wie in jungen Jahren.
Da taucht die Stadt wieder auf, ich habe noch Zeit zu tanken und für einen Espresso.
Mein Handy lärmt, ‚Summer in the City’. Doro sagt: „Ich bin’s. Du, Artur, hör mal: Da ist ein Brief an dich mit schwarzem Rand. Soll ich den aufmachen oder lieber nicht?“
„Ja“, sage ich, „mach ihn nur auf. Wer ist es denn, ich meine ... doch nicht der ...?“
„Nein, eine ‚sie’! Mia Roeloffs – kennst du die? Absender ist ihre Schwester.“
„Ja, die kenn’ ich. Kannte ich. Eine aus meiner Klasse.“ Mit zuckenden Mundwinkeln zu sprechen ist schwierig. Ich frage noch: „Steht irgendwas dabei – ich meine, vielleicht ... ?“
„Ja, hier:“, unterbricht sie mich, “Beerdigung am – aber das ist ja heute! Heute Nachmittag 16:00 Uhr. Würdest du denn, wenn das Klassentreffen nicht wäre, eventuell dahin ...“
„Ja", sage ich, "das ist mir wichtiger. Ich lass' das Treffen sausen.“
Meine Augäpfel stehen unter Wasser: „Nur eben Tschüss sagen, nur eben so.“