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Im Schatten des Regenbogens
Auch ich war einmal Kind gewesen, sah die Welt mit Kinderaugen.
Die Sonne stieg zum Himmel wanderte am Tage, in heller Bläue und senkte sich am Abend, arg gerötet.
Ihre Bahn spiegelte sich im Regen als bunter Sonnenring.
Ich glaubte an die Weichheit der Wolken und bewunderte den Mond, der den Sternen am Abend ihr Licht gab.
Die Menschen wurden nur für mich geschaffen. Sie trockneten meine Tränen, im ersten Schmerz und pflegten die aufgeschlagenen Knie, nach rastlosem Spiel.
Ich bedankte mich mit meinem Lächeln und legte meine Hand in ihre.
Ich atmete das Leben in tiefen Zügen, in frühen Kindertagen.
Die Sonne zog ihre Bahnen.
Geist und Körper reiften.
Markus, kleiner Bruder und einziger Freund, lebte im Kummer. Er weinte oft.
Sein Körper war schwach, die Seele verletzlich.
Ein Alltag in Traurigkeit, warum bloß?
Die Ärzte forschten, ihre Ratlosigkeit blieb.
Kinder fanden seinen Reiz an ihm, kitzelten sein Gemüt.
Seelenfresser!
Gerne hätte ich einen unsichtbaren Mantel um ihn gelegt, der ihn schützte und Unverwundbarkeit verleiht.
Ich presste den Kleinen an meine Brust, ganz fest, wollte ihn ewig halten.
Licht wuchs in blauen Augen, seine Sommersprossen färbten sich.
Und dann, … dann nahm er seine Hand und legte sie in meine!
Ein Kind, frei von Schuld und ohne Neid.
Kein böses Wort zu denen, deren Häme er ertrug.
Er spürte weder Groll noch Hass. Geschah ihm Unrecht, verzieh er.
Er lebte in Dankbarkeit. Dankbar dafür, dass diese Welt ihn annahm.
Der Herbstwind blies, wir rochen das Apfelsüß.
Zweige trennten sich vom Blattstiel und Goldgelb fiel zu Boden.
Wir hoben die Igel von den Straßen und verscheuchten die Krähen, damit sie die Jungtiere nicht raubten. Wir bekletterten Kastanienbäume, versteckten uns in ihren Laubdächern und ich erzählte Markus die Geschichte vom Geheimnis des Regenbogens. Die Engel rutschen auf ihm hinab. An dem Platz, an dem sie die Erde berührten, warf der Bogen einen Schatten.
Dort ließen die Engel goldene Schüsselchen fallen, wer aus ihnen trinkt, dürfe Jahrhunderte leben, ohne Schmerz und Sorgen.
Auf den Marschwiesen stiegen Herbstdrachen und tanzten mit den Rabenkrähen im milden Strahl der Sonne.
Wir bauten ein Kreuz aus Weideruten, bespannten es mit einem Tuch, verzierten seinen Schwanz mit Stanniol und schickten ihn zum Tanz.
Markus gab Schnur, wenn eine Böe unseren Drachen in die Höhe hob und rannte, als er zu trudeln begann.
Er verschnaufte nur kurz.
Rauer Schrei und hastiger Flügelschlag kündigten weiteres Unheil an.
Die Krähen glaubten an ein Beutetier.
Markus kämpfte im Schatten der Drachen und Krähen, die über die Wiesen huschten.
Erst zur Abenddämmerung siegte er gegen Wind und schwarzes Federvieh.
Schließlich warf er sich in meine Arme, erschöpft, vom Schweiß durchtränkt. In seinem Gesicht ein Lächeln, das Stolz verriet. Ich fühlte Glück, als das Herz meines Bruders schlug.
Die Orgel spielte Moll.
Seine Hände wurden gefaltet, der Mund geschlossen. Die Sommersprossen blieben blass.
Er trug einen blauen Anzug, zum ersten Male in seinem Leben!
Ich verstand es nicht.
Der Sarg, aus Eiche und rot gebeizt. Trockenblumen, zu einem Kranz gebunden, zierten ihn. Ich berührte seine Hände, sie waren kalt. Er hielt ein weißes Taschentuch, wozu? Ich trocknete doch seine Tränen!
Vor ein paar Tagen spielten wir auf den Wiesen, ließen einen Drachen steigen, er flog so schön!
Wir gingen nachhause, schliefen bald.
Am nächsten Morgen schrie die Mutter.
Die Sonne schien, im sanften Regen.
Der Himmel glitzerte bunt.
Ein paar Wölkchen standen in halber Höhe, noch leicht gefüllt. Ich stand am Grab, beobachtete den Regenbogen und fragte mich, wo er wohl seinen Schatten warf?
Der Pastor sprach, die Menschen weinten.
„Manchmal gehen die Besten zuerst.“
Eine Frau, die ich nicht kannte, hielt ihren Jungen in den Armen. Sie streichelte seine Wangen und verwischte ihre Tränen.
Männer ließen den Kindersarg an Seilen in die Grube gleiten.
Meine Mutter warf Erde, bedeckte Markus und legte meine Hand in ihre.
Der Herbst kippte.
Flach stand die Sonne am Horizont und warf ein mattes Licht.
Dahlien und Chrysanthemen starben, Reif bedeckte die Wälder.
Der erste Frost brach die Halme der Wiesen und löschte den letzten Hauch von Leben auf den Feldern.
Herbstdrachen flogen nicht. Krähennester zwischen welkem Birkenweiß blieben stumm.
Meine Mutter trug schwer an ihrer Trauer.
Sie lächelte, wenn sie mich in ihrer Nähe wusste, weinte aber im Herzen weiter.
Ich schleppte Kummer.
Am Tage prügelten mich Erinnerungen, in der Nacht färbten sich die Sommersprossen.
Eines Abends wich die Illusion der Wahrheit. Ein Bild brannte sich in mein Gedächtnis, ich behielt es.
Dumpfer Klang von Kirchenglocken.
Stille und Dunkelheit umzingelt von Wänden mit kalten, glatten Flächen, gehalten in Erde und braunem Schlamm.
Der Körper im eisigen Inneren, er liegt auf rotem Samt und weißem Seidekissen, blass und starr.
Eine Zukunft gibt es nicht.
Jahre verstrichen.
Der Regenbogen blieb. Unerreichbar fern und doch so nah.
Meine Gedanken schwiegen nicht.
Warum lacht der Mensch in seinem Leben, wenn er weiß, dass er noch sterben muss?
Der Lehrer: „Sterben müssen wir doch alle, die einen heute, die anderen morgen!“
Die Schüler lachten. Ihre Verdrängung begann schon längst.
Die Großmutter: „Der Tod gehört zum Leben, Junge!“
Wahrheiten, die mir die Angst nicht nahmen.
Meine Mutter blieb mir eine Antwort schuldig. Ihre Tränen flossen, das verstand ich.
Ein Leben in Zufriedenheit trägt im Tod doch keine Früchte?
Der Therapeut: „Es scheint nur schlimm, wir fühlen es doch nicht.“
Nichts mehr fühlen! Das Wissen darum, die Schlimmste aller Qualen!
Trotz allem! Verstand und Seele halten sich die Waage.
Ich lebe im Heute.
Gehöre zu denen, die oft die Hände anderer halten.
Manchmal, wenn Sonnenstrahlen eine Wand aus Regen treffen, ihr Licht dicke Tropfen bricht, Rot-Orange bis Violett am Himmel eine Brücke ziehen, dann sehe ich die Welt mit Kinderaugen. Ich warte auf die Engel und wünsche mir ihre Schüsselchen, die sie im Schatten fallen ließen.
Ob wohl irgendwan einmal jemand meine Hand in seine legt?