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Im Löwenschädel
Im Löwenschädel
Eingefroren, jetzt wieder aufgetaut wie ein mariniertes Grillhühnchen. Spucke braunes Gelee auf die Kacheln, schlucke, muss mich doch übergeben, als hätte ich letzte Nacht durchgezecht. Viele Jahre: einfach weg, während ich in Stasis lag, in einer sechskantigen Röhre, die hier schier endlos hoch aufgestapelt sind – Waben. Jemand reicht mir ein Handtuch. Ich sehe noch verschwommen, huste.
»Willkommen Bürger«, sagt eine neutrale Stimme.
»Welcher ... Tag ist ...?«
»Heute ist heute.«
»Welches Jahr, verflucht.«
»Sehen Sie diese Fußabdrücke?«
»Ja?«
»Dort duschen Sie bitte.«
Sie geben mir eine Unterhose, dazu Socken, gelbes Hemd, eine schwarze Arbeiterjeans; jetzt spüre ich Wärme, die vom Stoff selbst ausgeht. Angenehm. Nur die Schuhe sind Klotschen, klobig: ein zerteiltes Wespennest, aber robust wie aus Holz.
Im schummrigen Flur warten wir ab, bleich und haarlos in dieser Legebatterie, drehen Däumchen; im Schoß unsere Plaketten, die magnetisch an jeder Röhre kleben. Ich höre ein Sirren von großen Ventilatoren.
Gegenüber an der Wand, wie im Krankenhaus, sind alte Fernseher montiert, ich zähle sie: achtzehn, aber nur einer davon zeigt eine bäuerliche Landschaft: Ähren im Wind, von Morgenlicht durchstrahlt, vielleicht eine Reklame für Brot oder Butter, jedoch stark verrauscht; alle anderen sind schwarz und spiegeln und glotzen als Facettenaugen her, als würden sie uns prüfen.
Ich versuche, mich zu konzentrieren, bis mir plötzlich die Worte der Broschüre durch den Kopf gehen; vorne war ein Wald im Morgennebel abgedruckt, das weiß ich noch – ich erinnere mich genau an den Text, als hätte ich ihn gestern erst gelesen:
Der Mensch, von Habgier zerfressen, handelt immer nur zum eigenen Vorteil – oder dem seiner Familie. Ein Mitbürger schert ihn nicht. Die Zukunft ist ihm gleich, die Umwelt sowieso. Heute will er leben, und zwar so gut es geht: Luxus. Häuser. Geld! Die Folgen: soziale Ungleichheit, die zu Kriegen führt, zu Umweltkatastrophen.
Wir sind Transformatoren. Wir verändern die Welt. Unsere Vision: Jeder wird für zehn Jahre aus der Welt entfernt, sobald er 20, 30, 40, 50, 60, 70, 80, 90, 100 geworden ist, dann wiederbelebt, um für weitere zehn Jahre zu leben ... in einer Gesellschaft, die sich weiterentwickelt hat: Neue Medizin. Neue Technologien, die die Menschheit voranbringen – alles ohne den emotionalen Ballast von Partnerschaften, Ehen. Bis er wieder für zehn Jahre entfernt wird.
Sei ein Teil dieser Gemeinschaft.
Sei du selbst!
»100223?«
»Hier!«
»Bitte folgen Sie mir.«
Wir betreten einen Fahrstuhl, und die Türen schließen sich. Als nichts passiert, schaue ich auf: Der Maschinenmensch neben mir scheint freundlich, doch es stört mich, mit ihm hier eingesperrt zu sein: Er steht zu nah. Seine Augen, sein Lächeln wirken lebensecht, nur waren mir diese Kunstpersonen immer schon suspekt – nach Schmierfett stinkend, zwar schwach, aber man roch es, in den Gelenken, Servos und Getrieben, von wächserner, kalter Haut kaschiert. Jetzt riecht er süßlich, nach Honig. Seltsam. Aber das Gesicht ist viel zu schmal, auch die Hüfte: eine Wespentaille. Sein Kittel ist weiß, aber fleckig. Er hebt eine Augenbraue. »Ja?«
»Interessant«, meine ich. »Kannst du auch blinzeln?«
»Bitte schieben Sie Ihre Plakette in den Schlitz, um das zugeteilte Kompartiment zu bestimmen.«
»Gern.« Aber mich interessiert, was passiert, wenn ich damit noch warte …
Achtsam, sein Lächeln auf den Lippen, blickt er mich an, so langsam gruselig. Sekunden vergehen, bevor er nachfragt: »Darf ich Ihnen den Ablauf demonstrieren?«
»Gewiss.«
»Geben Sie mir bitte Ihre Karte.«
»Aber gern«, wiederhole ich; doch ich gebe ihm die Plakette nicht.
»Falls Sie Ihren Ausweis verlegt haben, wenden Sie sich an die Zentrale.«
»Nein, nein, ich habe ihn gleich hier ... Siehst du.« Ich halte die Metallkarte hoch.
Seine Stirn legt sich in Falten. »Besitzen Sie eine Plakette?«
»Natürlich!«
»Geben Sie mir bitte Ihre Karte.«
Ich grinse. Und bevor sich der Maschinenmensch in einer logischen Endlosschleife verliert, womöglich einen Kurzschluss kriegt, stecke ich die Karte ins Lesegerät.
»Vielen Dank.«
Der Fahrstuhl ruckt an – gleitet seitlich auf Schienen anstatt senkrecht aufwärts oder abwärts: Über der Tür wechseln die Ziffern in rascher Folge, 47, 63, 77; bei 92 rastet er geschmeidig ein, öffnet sich; und der Maschinenmensch geht raus, nach links. Ich folge ihm durch die Korridore, ovale Tunnel, rundum mit Raufaser tapeziert, spärlich beleuchtet und klaustrophobisch eng – zu einem Büro mit nur einem Ausblick zur Stadt, ein kleines Fenster, ewig nicht geputzt. Nichts hat sich verändert: Wolkenkratzer, dieselben Geschäfte und Cafés. Plötzlich fällt mir auf, dass es gar keine Aussicht, bloß dickes Glas ist, dahinter eine Leinwand, auf der ein Kinofilm in Dauerschleife flimmert. Wie Papierlandschaften in Western, die man langsam durchrollt; oder das Schaufenster im Zoo: davor Affen, Wale, Schlangen, Insekten. Oder diese Kulissen im Museum, wo Neandertaler stehen ... Draußen könnte sonst was sein! Ich traue den Behörden nicht.
»Bitte setzen Sie sich«, sagt der Maschinenmensch, der mich streng von unten anblickt, wie ein Vorgesetzter – oder als Chefarzt, zwar freundlich, aber mitleidig; als wäre ich totkrank.
»Gern.« Ich bleibe vorm Schreibtisch stehen.
Kurz zieht er die Brauen zusammen, dann lächelt er sein Lächeln. »Wie ist Ihr Name?«
Ich ziehe die Plakette aus der Tasche, lese langsam, wie für Begriffsstutzige, vor: »1.0.0.2.2.3.«
»Nein, ich möchte wissen, wie Sie heißen.«
Ich gebe auf: »Karl Peter Malberg. Alter 46, wohnhaft in –«
Der Maschinenmensch nickt nur; fragt mich dann: »Welchen Beruf hatten Sie?«
»Physiklehrer am Gymnasium. Alle Stufen. Bin ich immer noch ...«
Sein Lächeln gefällt mir nicht. Auf der Leinwand sehe ich, wie ein Zeppelin vorbeischwebt.
»Für Lehrpersonal besteht kein Bedarf mehr. Gaia hat solche Arbeiten automatisiert, daher –«
»Gaia?«, hake ich nach.
»... wird Ihnen eine neue Aufgabe zugeteilt.«
»Die da wäre?«
»Aufgrund Ihres Körperbaus: Gamma 2, können Sie weder im Sägewerk noch in der Papiermühle eingesetzt werden, aber als Feinmechaniker in der Fabrik.« Hinter ihm springt eine Schreibmaschine an und spuckt ein Blatt aus.
»Warten Sie.« Ich habe ihn tatsächlich gesiezt. Mist. »Und welche Alternativen gibt es für mich? Ich will nicht irgendeine Arbeit machen, nur um zu arbeiten.«
»Gaia hat Ihre Vita geprüft und die bestmögliche Stelle für Sie ausgewählt.«
»Ja! Für mich. Nicht mit mir ...«
»Das ist belanglos.« Der Maschinenmensch greift hinter sich, zieht das Blatt surrend aus der Walze; hält es mir hin. »Im Dokument finden Sie auch Ihre Wohnzelle. Wir danken für Ihren Dienst.«
»Was‽ Das ist ja die Höhe! Welche Parteien regieren gerade? Keine sozialen mehr dabei?« Ich verschränke die Arme.
Lächelnd sieht er mich an – nein, das ist kein Lächeln, sondern Zähneblecken. »Parteien? Die gibt es nicht mehr. Gaia steuert uns in eine bessere Zukunft.«
Uns? Hat er gerade uns gesagt? »Na, das wage ich zu bezweifeln«, fluche ich, wobei ich ihm das Papier aus der Hand reiße.
Ich höre, dass er unten eine Schublade öffnet; legt dann eine Armbanduhr auf den Tisch, justiert etwas, aber nicht die Zeiger. »Dieses Gerät öffnet die Tore. Möchten Sie, dass ich Sie aus dem –«
»Bloß nicht!« Ich packe die blöde Uhr, mache auf dem Absatz kehrt, zurück zum Fahrstuhl.
Raus hier.
Doch der Fahrstuhl öffnet sich nicht, egal, was ich versuche. Frustriert gehe ich in anderer Richtung den Flur entlang – zu einer Schleusentür. Dahinter, als würde man ins Freie treten: eine Kuppelhalle, hell erleuchtet und wie von Sonne geflutet, aber die Proportionen zwischen Vordergrund und Hintergrund sind falsch, die Wolken zu nah, zu schnell, zu unscharf gleiten sie über den Himmel, aufgespannt als Zirkuszelt über mir … Ja, Scheinwerfer; alles ein Bühnenbild: Die Häuser aus Pappmaschee, seltsam verzogen, organisch oder mathematisch fraktal, innen Wände mit dünnen Tapeten, verrußt oder mit Fett durchtränkt; wachsgelb, durchscheinend, nikotinbraun wie in der Küche meines Opas. Keine Autos, keine Busse, kein Motorrad knattert, spuckt Abgas; und alle Passanten laufen zu Fuß in Kolonne, Bienen oder Ameisen, am Handgelenk diese Uhr, die ich noch in meiner Tasche trage.
Hier stimmt was nicht.
Hastig ziehe ich das Merkblatt heraus, lese meine Zuteilung; gehe hin: Das ist kein Gebäude, vielmehr eine kreisrunde Tür, gehalten von barocken Strukturen, manche aus Holz, andere aus Pappe oder mit Zellstoff verklebt. Kulissen! Die Lamellenblende versperrt mir den Zutritt. Und erst, als ich die Uhr aus der Tasche ziehe, gleiten die Segmente ineinander und geben den Weg nach innen frei ...
Eine Treppe strebt spiralförmig hoch, der Flur ist wieder schnurgerade, jede Tür aus Stahl, rechtwinklig in der Wand, aber mit alten Postern verklebt, die ich nicht lesen kann. Ich finde meine, öffne sie:
Die Räume meiner Wohnung haben eine wabenförmige Struktur: Sechseck an Sechseck. Doch nichts passt zusammen; als wäre der Architekt auf Drogen durchgedreht.
Was ist hier los?
Als Blüte sind Bad, die Küche, Vorratsraum und Schlafzimmer angeordnet – der Flur der Stängel, mittig das Wohnzimmer als Landeplatz für Arbeitsdrohnen wie mich. Ich kann die Logik des Ganzen verstehen, obgleich es wahnsinnig wirkt. Immerhin: fließend Wasser. Ein Klo, ein Waschbecken wie aus Bienenwachs; ein Ofen, ein Kühlschrank und ein Bett, zwar alles verzogen und deformiert, aber funktionstüchtig. Ich werfe die Uhr aufs Laken, prüfe zuerst den Stoff: eine Seide, Spinnfäden, ehe ich mich vorsichtig auf die Matratze lege. An der Decke buntes Licht wie durch Tautropfen gebrochen; hinter den Fenstern, die keine sind, strahlt die Sonne.
Gänsehaut; diese kalte Angst, die einem in den Nacken kriecht. Ich bin allein. Mein Gott. Wann und wieso habe ich meinen Vertrag unterschrieben? Wann war das? Welches Jahr, verdammt? Ich versuche mich zu erinnern; aber meine Vergangenheit ist ein Nebel, durch den Untote wanken ...
Plötzlich klingelt ein Telefon mit Wählscheibe, mausgrau, so veraltet wie alle Technik hier, wie eingelagert: Es steht auf dem Tisch. Ich hebe ab.
»Sind Sie Bürger Malberg?«
»Wer ist da?«, frage ich misstrauisch.
»Holmstedt, mein Name. Ich bin, natürlich auch Sie, ein eingetragenes Mitglied der Transformatoren und möchte Sie herzlich in unserer Welt begrüßen. Vieles haben wir in den letzten Jahrzehnten erreicht, und es erfüllt uns mit Stolz, mit Demut –«
»Ich dachte, es gibt keine Parteien mehr«, unterbreche ich seinen Sermon.
Ich höre ein Knacken, als würden am anderen Ende der Leitung versteckte Relais arbeiten ... Schweigen. Wieder ein Klacken; dann: »Als Parteimitglied der ersten Stunde genießen Sie gewisse Sonderrechte, denn Bürger wie Sie haben die Weichen dafür gestellt, damit wir hier und heute –«
»Ja, gut.« Das ist unerträglich. »Welche Sonderrechte?«
Ein Klacken.
»Sie erhalten zwei Stunden mehr Schlaf pro Nacht und Rationen der Stufe 3.«
»Absurd!«, brülle ich und knalle den Hörer auf die Gabel. Nur eine Aufzeichnung, ein automatischer Anruf ...
Zu müde, um nachzudenken, lege ich meinen Kopf ins Kissen, das sich seltsam warm, aber gut anfühlt. Schließe die Augen. Bin –
In Spinnweben; ich träume, jetzt ein klammes Gefühl, von Regen: Ich rieche ihn. Am Bahnhof stehe ich, mit dem Militärrucksack, darin meine Sachen aus ihrer Wohnung, eine Zahnbürste, mein Deoroller. Ein paar Platten aus Vinyl. Und ich fühle die Wut auf sie, mitkonserviert durch all die Jahre. Im Zug spricht mich dieser Mann an, grün gewandet und lächelnd wie der Guru einer Endzeitsekte.
Später liegt sein Flyer auf dem Küchentisch meiner Mutter, bei der ich für ein paar Tage unterkomme; es riecht nach Zuhause, nach Kohlsuppe, nach Speck und Zwiebeln, und ich öffne ihn in Zeitlupe … im Traum beginnen die Zeilen zu brennen:
Der Mensch, von Habgier zerfressen ... Aber wir blicken nach vorn, wir sehen das Gesamtwerk: unser Erbe, die Gegenwart, die Zukunft. Wir haben die Technik, den Willen, die Kraft.
Das ist unser Manifest.
Kommt zu uns. Noch heute.
Lass dich, lasst euch zum Schutz der Völker und der Erde, konservieren. Sei unabhängig. Sei stark! Lass deine Sorgen, deine Probleme zurück. Zusammen mit uns stellst du die Weichen für eine Welt, in der wir gemeinsam leben werden, als Brüder und Schwestern. Wählt uns in den Bundestag.
»Nein!«, schreie ich, als die Buchstaben erst glutrot, dann sonnengrell werden. Zitternd, verschwitzt wache ich in meiner Wabe auf. Im Ohr – oder draußen, im Gang, höre ich ein Summen von tausend Insekten, die schwärmen.
Schwarzweiß prangt die Uhrzeit auf dem Fernsehapparat, den ich nicht abschalten kann, ein Modell ohne Marke, uralt.
Meine Schicht fängt gleich an.
Schwerfällig stehe ich auf.
Im Kühlschrank liegt eine Butter, denke ich, und etwas, das Milch ähnlich, aber zähflüssiger ist. Brot, ja, das soll wohl Brot sein, finde ich in der Schublade mit Holztellern und Besteck – auch etwas Geleeartiges, vielleicht Marmelade: süßlich, als ich den Finger ins Glas tauche und mutig abschlecke. Wenn das also Rationen der Stufe 3 sind, wie sieht es darunter aus?
Grundversorgung.
Keine Zahnbüste. Die Seife ein brauner Klotz, und kein Handtuch weit und breit, nur Klopapier.
Ich stehe unten in der Halle, sehe die Kolonne an mir vorüberziehen: alle in gelber oder schwarzer Kluft; die Köpfe gesenkt, als würden sie auf ihre Uhren starren – an jeder Ecke so ein Maschinenmensch im Kittel, der, sanft lächelnd, jeden von uns mustert. Was soll ich tun? Ich weiß es nicht. Also reihe ich mich ein: vor mir ein Bürger, nach mir ein Bürger, so marschieren wir zur Arbeit ...
Sklaven!
Ich sitze an einem chitinschwarzen Fließband, um diese klitzekleine Schraube am Gehäuse festzuziehen, wieder, wieder und wieder. Ich verstehe nicht, was wir herstellen: Es ist ein Käfer, ein schillernder Skarabäus, mit Zangen aus Holz, das gehärtet wurde und messerscharf ist. Hunderte, Abertausende davon.
»Wofür sind die nütze?», frage ich, als ein Maschinenmensch kommt, um meine Arbeit zu prüfen. Er lächelt nur.
Nach zehn Stunden schrillt eine Warnsirene: Ich darf nach Hause, zermürbt von eintönigen Handgriffen, vom warmen, klebrigen Licht in dieser Maschinenhalle, und vom Schweigen in den Pausen. Niemand sagt ein Wort.
Vor meiner Tür liegt ein Karton mit dem Logo der Partei … Wieso bin ich Mitglied geworden? Er ist schwer, ich hieve ihn in den Flur, öffne die Laschen und beäuge den Inhalt: rostige Konserven mit Fleisch und Gemüse, längst abgelaufen. Die ersehnte Zahnpasta und drei Bürsten. Ein Damenrasierer, rosa. Zwei Handtücher. Und eine Grußkarte: »Willkommen in der Zukunft! Rufen Sie an, falls Sie mehr brauchen. Holmstedt.«
Hm.
In der Nacht träume ich von Agatha: ihr sanftes, aber trauriges Lächeln, ihre Finger auf meinem Bart, den sie mechanisch krault. »Ach«, sagt sie, seufzt. »Ich liebe dich, das weiß du.« Sie zieht die Hand zurück. »Ich habe eine Stelle als Personalchefin in Frankfurt in Aussicht, und ja, ich denke, ich werde sie annehmen«
Und ich habe genickt – und sie gehen lassen, mich dann hemmungslos betrunken. Andere wären am Hafen durch Bars gezogen, hätten sich ein Tattoo stechen lassen oder rumgehurt; aber ich stand schließlich vor dieser Garage, mehr war es nicht, nur ein Tor, das sich rasselnd öffnete, dahinter: mannshohe Glaszylinder, die sich im Schatten verlieren, eisgrün leuchtend wie im Labor eines verrückten Professors.
Transformatoren.
Aufwachen. Arbeiten. Schlafen. Wenn ich träume, sehe ich das endlose Fließband und wie ich eine Schraube nach der nächsten in dieses Wespenloch drehe. Ich hasse es! Ich hasse den Geruch von Pollenstaub und Gras; und ihr mechanisches Lächeln, das so echt wirken soll und doch nur Grimasse ist: ein Plagiat, eine obszöne Karikatur von echtem Leben, von Blut und Herzschlag.
Unten geht die Kolonne vorbei: müde, kahle Köpfe, wieder und wieder – zum Sägewerk, zur Holzverarbeitung oder Zellulosemühle, dazu Konstrukteure wie ich einer bin. Ich wende mich zum Fernseher ab, betrachte seine chaotischen Muster: graue und weiße Ameisen, die dort wimmeln, Maden im Fleisch ...
Es beruhigt mich.
Und da, langsam, taucht ihr Gesicht aus der Tiefe auf: Agatha, ich erkenne es sofort: Sie ist alt geworden, das Haar einer Hexe, die Wangen eingefallen und knöchern; am Kinn noch das Muttermal, ein kleiner Schönheitsfleck, den ich so sehr an ihr geliebt habe. Oh Gott!
»Lieber Peter, das sind die letzten Minuten, und ich muss an dich denken.« Eine Aufzeichnung, ihre Stimme leiert vom Tonband, ihre Augen schauen nicht in die Kamera, mich nicht direkt an, sondern auf etwas im Hintergrund: Ihre Stirn wird heller. »Alte Liebe rostet nicht ... ach, wir hätten reden sollen. Du warst immer schon impulsiv, aber –« Ein Knacken. »... dich jeden Tag vermisst. Ich nehme das auf, um dir zu sagen, dass du für –«
Grelles Weiß.
Im Abspann das Zeichen der Transformatoren: eine Hand auf einem Blatt, bevor sich der Fernseher abschaltet.
Fälschung?
Kopfschmerzen.
Es war ein Fehler, mich einzusargen.
Was ist passiert mit der Welt? Eine Umweltkatastrophe – oder ein nuklearer Holocaust; ein Virus, Sporen, gefährliche Keime? Chemikalien? Ein mir unbekannter Stoff?
Wo sind wir?
Und was, zum Teufel, ist da draußen?
Dieses kalte, unwirkliche Gefühl verfolgt mich durch die klinischen Gänge, an Räumen vorbei, die transparent sind wie japanische Papierwände, dahinter: Schattenspiele. Oder stimmt etwas nicht mit mir: Bin ich krank? Ist da eine Raumforderung in meinem Kopf, ein Tumor, ein Geschwür? Daher die Migräne? Verdammt. Mein Herz klopft, während die Wände näherrücken, ich kriege keine Luft! Wir sind hier drin gefangen ...
»Bitte, hilf mir«, spreche ich einen Maschinenmenschen an. »Mir geht es nicht gut.«
Doch er lächelt nur, legt eine schwere Hand auf mein Schulterblatt und schiebt mich weiter ... durch diese organischen Strukturen, die stellenweise eingefallen, verwelkt oder verfault sind; an anderen Stellen wölben sie sich prall nach außen wie Pilze.
Schüttelfrost.
Ich versuche, das alte Zeug zu essen. Oder diese Marmelade. Aber ich kriege es nicht mehr runter. Habe den Bauchspeck längst verloren. Gestern ist mir ein Zahn ausgefallen ...
*
Am Arbeitsplatz, wo ich bei Schichtende den Schraubendreher beiläufig in meinen Schoß fallen lasse – einstecke. Zuhause lege ich meine Uhr ab, drehe sie auf den Rücken wie die Käfer, dann öffne ich ihr Gehäuse, vorsichtig. Meine Hände zittern. Sie hat keine Stromquelle, fällt mir auf, keine Batterie, auch keine Feder, die unter Spannung steht. Sie muss von außen mit freier Energie gespeist sein, wie alle anderen Geräte auch.
Tesla! schießt mir durch den Kopf, aber: unmöglich; und da finde ich die Funkeinheit, drehe am hölzernen Zahnrad, um die Frequenz zu wechseln:
Nichts passiert.
An der Papiermühle vorbei ... beobachte, wie sie das Holz zersplittern, den nassen Papierbrei ähnlich Metall in großen Essen kochen, später in die Druckerspinnen füllen, die dann, heimlich, mitten in der Nacht, die Waben und vieles mehr herstellen. Hier wird auch Holz mit Druckluft gehärtet und in Ölbäder gegeben, damit es stärker wird als Stahl. Ich verstehe das wie, aber:
Warum?
Endlich, nach so vielen Tagen, habe ich eine Außentür entdeckt, zwar mit Zellstoff verwuchert, aber schwach schimmert ein rotes Licht durch; und als ich das Papier abreiße, eine Tapetenbahn, da lese ich:
Notausgang.
Ich wusste es! Da ist kein Tumor in meinem Kopf, von der Strahlung. Keine Infektion, keine Vergiftung. Da sind keine Bienen, die in meinen Ohren summen ...
Atomschutzbunker.
Im Uhrwerk drehe ich das Rädchen, suche, finde die Frequenz – und das Licht wird grün, die Tür schnappt auf; mit der Schulter kann ich das Wachspapier als Siegel zerbrechen, dahinter: ein Gang im Zwielicht, dessen Wände aus Stein sind, kühl und rau und wunderschön vertraut. Blind taste ich mich voran ... Dunkelheit und Stille; in meinen Ohren rauscht das Blut, sonst nichts.
An einer Schleuse, der Boden aus Stahlbeton, die Tür mit Blei verstärkt, starre ich durch ein zyklopisches Bullauge nach draußen: Alles ist unscharf, verzerrt durch das Glas, aber ich glaube zu sehen, wie unser Bienenstock als Geschwulst aus dem Bunker herausquillt, aus jedem Fenster, jeder Tür, die mit Zellstoff, mit Papier, mit Pappe versiegelt ist – hauchdünnes Membran, bloß Folie, flatternd an einer Raumstation oder auf einem fremden Planeten ohne Atmosphäre, die Atemluft vom Vakuum abtrennt ...
Aber auf dem Abhang wachsen Bäume, aufgeforstet; abgeholzt, dass ihre Stümpfe den Westhang säumen; dort steht ein Monster: eine mächtige Drohne mit meterlangen Mandibeln, die gerade einen Stamm zerteilt, die Rinde splitternd abfrisst. Kleinere Helfer spalten das Holz in Stücke; andere tragen es zurück zum Bau als Kandiskristalle.
Erschöpft drücke ich meine Stirn gegen das Glas, kneife die Augen zusammen, um im Tal die Stadt zu betrachten: verfallene Häuser – und Industrieanlagen, die größtenteils zerlegt sind: Schwärme von Skarabäen zerkleinern jede Leitung, jede Wand; ich sehe Sammler, die alle Rohstoffe abtransportieren, Kabel, Metalle. Und diese monströse Abrissbirne, die vom Baukran hängt, ein gewaltiger Mond, mit Zellulose, mit Holz gestützt:
Die Demontage einer Stadt. Aller Städte!
Sie löschen uns aus.
In der Entfernung stehen Holzmasten, massiv, aber biegsam, an denen Netze hängen wie an Insektenkeschern und filtern etwas, vielleicht Pollen, aus der Luft …
Die Sonne scheint.
Ich fliehe, durch Schatten, bis ich ein Schimmern sehe, als würde Morgenlicht durch eine Gardine fließen, eine alte Schießscharte, nein, doch nur ein Fenster, durch das ich nicht passen würde, aber ich habe so schrecklich abgenommen: nur Haut und Knochen; ein Gespenst.
Raus hier!
Mit dem Ellenbogen zerschlage ich die Scheibe, sie bricht so leicht, ein Zuckerglas – krieche hindurch, falle als Wurm aus der Frucht ins Gras. Gleich ein Kitzeln in der Nase; etwas legt sich auf meine Zunge: ein Geschmack wie Apfelkerne ... süß, aber giftig.
Zurück.
Und während ich Schaum hochwürge, sich alles um mich dreht, da sehe ich ... riesige Pusteblumen, die Teslaspulen sind, von denen Blitze wie Samen wegplatzen, grellweiß, um in allen Regenbogenfarben in den Äther hochzuknallen; sie zucken, prasseln, knistern. Dann wird es düster, als würde ich unter Wasser tauchen, in der dämmrigen Tiefsee eines Riffs, da sind Korallen, die aufblühen: biolumineszent, und sich wieder verschließen.
Ich wehre mich, ich kämpfe; aber die Maschinenmenschen sind zu stark. »Ihr helft dabei, uns auszurotten«, schreie ich zur Kolonne, während sie mich zurück zum Bürgerzentrum schleifen. »Gaia wird uns alle töten: Sie will eine Welt ohne Menschen!«
Sie verfrachten mich in eine Glasröhre, viel moderner als meine, und versiegeln die Tür, ehe das warme, honigzähe Gelee erst über meine Füße, dann über meine Beine quillt – weiter zur Hüfte, zum Brustkorb; ich atme heftig. Draußen eine neue Generation aus Arbeitern, die nass, zitternd verklebt aus den Röhren fällt.
Und da höre ich ihre Stimme, mechanisch, dumpf, aber zärtlich:
»Ich bin Gaia. Ich wecke dich in vielen Jahren ...«
»Wer ist Holmstedt‽«, schreie ich.
Und sie lacht.
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The Bees Made Honey in the Lion's Skull
Earth (Band)