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Im Gewächshaus

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11.05.2019
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Im Gewächshaus

Wie Schmetterlingskokons warten die Knospen der Magnolie darauf, dass es Frühling wird. Als könnte es jeden Tag losgehen. Als gäbe es den langen, dunklen Winter nicht.
Helene steht im Gewächshaus und spürt ihn bereits in den Knochen. Sie setzt sich schwerfällig auf die Bank zwischen den Hochbeeten an der Stirnseite und zieht die hochhackigen Samtschuhe aus. Atmet tief ein. Genießt die Ruhe. Erholt sich von der Musik, den Umarmungen, den schmerzenden Zehen, dem Lachen Sigrids und der entsetzlich vertrauten Art, mit der sie Mels Krawatte zurechtgerückt hat.
Neben ihr liegt das Päckchen Kerzen, das sie vor kurzem zum Schutz gegen den Frost bereitgestellt hat. Die Streichhölzer liegen in einer Frühstücksdose mit ausgeblichenem Micky Maus Motiv, ein Geschenk ihres ältesten Enkels. Eine dünne Laubschicht zum Schutz der Erde liegt auf den Hochbeeten. Im Laufe der Jahre hat die Krone der Magnolie das ganze Gewächshaus ausgefüllt und es den Blumen darunter schwerer gemacht. Trotzdem hat Helene keinen Ast gekappt. Ihr Großvater hat das Gewächshaus als standesgemäßes Gegenstück zur Stadtvilla erbauen lassen und diese Magnolie als Erstes gepflanzt. Der Baum gehört hierher, so wie er ist und immer war. So wie der Koffer.

Dinge, die Helene über das Gewächshaus lernt:
Es ist Treffpunkt der zwei optischen Achsen im Garten.
Es schützt die Pflanzen vor dem strengsten Frost.
Es ist so weit weg vom Haus, dass niemand sehen und hören kann, wie eine sechzehnjährige Helene einem Schusterlehrling mit kommunistischen Eltern die ewige Liebe schwört, seine Hand hält, ihn küsst, verspricht, dass sie es ernst meint, einen gepackten Koffer unter der Bank hervorholt, es wirklich ernst meint, eine Träne aus seinem glücklichen Gesicht wischt, ihm hinterher sieht und wartet.
Wartet, weil er sie seine Helena nennt, weil er sich nur kurz verspätet, weil sie ihn vielleicht nicht in die Straßenbahn gelassen haben, weil es ihm bestimmt gut geht, weil er ganz sicher nicht auf einer Liste steht, weil sie sich lieben und das muss doch etwas wert sein.

Die Sache mit ihrer Mutter geht so:
Als Helene stundenlang gewartet hat, die verräterischen Tränen und den Schnodder ignorierend, steht ihre Mutter mit offenen Armen vor ihr und sagt: „Sei froh, der Junge hätte dich nur mit ins Unglück gerissen.“
Als ginge es hier um Glück.
Als Helene die Nächte wieder im Haus verbringt – es ist Ausgangssperre und auf den Straßen patrouillieren schwer bewaffnete Männer – steht ihre Mutter mit verschränkten Armen im Türrahmen und sagt: „Dein Vater glaubt noch an den Sieg. Du bist genauso stur. Es wird euch beide ins Unglück stürzen.“
Als ginge es hier um Glück.
Als Helene an ihrem fünfzigsten Geburtstag aus dem Gewächshaus tritt – nach all den Jahren erwartet sie ihn nur noch an solchen außerordentlichen Tagen – sagt ihre Mutter in Helenes beständiges Schweigen hinein: „Was für eine schöne Feier. Mel sieht im Anzug immer noch aus wie bei eurer Hochzeit. Und die kleine Paula läuft so gut, ich habe sie ja schon lange nicht mehr gesehen. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen.“
Da wird Helene zum ersten Mal bewusst, wie traurig es sein muss, im Leben nur die Hoffnung auf Glück zu haben.
Ihre Mutter wird noch ein Jahr lang Glück haben, bevor ein Herzinfarkt sie tötet.

Helene und der Koffer warten, während in der Ferne Sirenen ertönen und einmal in gar nicht großer Ferne eine Bombe einschlägt und die Glasscheiben des Gewächshauses zum Klirren bringt. Sie zieht die Knie vor die Brust und denkt an seine Worte: Tanzen. Reisen. Kinder. Miteinander alt werden. Und an ihren Traum: Sich im Mondschein unter der Magnolie lieben.
Jahre vergehen, Helene wird älter und die Magnolie mit ihr. Die Baumkrone berührt beinah die gläserne Decke des Gewächshauses und ihre Mutter lässt die obersten Äste abschneiden. Noch eine Sache, die Helene nicht verzeiht.
Nachdem sie das Haus übernimmt, wird sie Jahr für Jahr darauf warten, dass die Äste durch das Glas brechen, aber es wird nicht passieren. Die Rinde wird rau, reißt hier und da auf, aber jeden Frühling blühen mehr Magnolien, mal begleitet von Narzissen, mal von Blausternchen und immer unter dem aufmerksamen Blick von Helene. In einem feuchten Sommer tauscht sie die morsche Bank aus. Der Koffer darunter bleibt.
Einer der Seitentriebe wird zu schwer und Helene bleibt ihrem Schwur treu. Ein umgedrehter Besen stützt den Ast und als sie nach einer Operation am Knie wieder vor ihrem Gewächshaus steht, grinst Mel sie an. „Könntest du die Krücke am anderen Arm tragen? Nur wegen der Symmetrie.“
Ja, Mel weiß ganz genau, wie er sie zum Schmunzeln bringt. Und er hat gelernt, worüber er nicht einmal sprechen darf.
Den Koffer zum Beispiel.

Die Sache mit Mel ist folgende:
Während Helene nach dem Krieg eine Ausbildung als technische Zeichnerin beginnt, teilt sich das Lokomotivwerk die Etage mit einer Druckerei. Das Zeichnen der Maschinenanlagen geschieht meist still und auch die Setzer sind leise, bis auf das gelegentliche Klackern der Schubfächer und Bleisätze. Von Zeit zu Zeit aber ertönt ein Rufen aus der unteren Etage: „Kunde sitzt auf der Treppe und weint.“ Dann läuft ein Junge durch die große Halle und übergibt einem der Setzer einen Zettel, der sich sofort an die Arbeit macht. Einer dieser Männer sitzt vor ihr, unsichtbar hinter einem hohen Regal, welches die sittliche Ordnung erhalten soll, aber offenbar braucht es mehr als ein Regal, denn besagter Mann hat die Angewohnheit, sein Bein zur Seite zu strecken und seinen wippenden Fuß neben dem Regal hervorragen zu lassen. Manchmal stellt sich Helene vor, dass hinter diesem Holzregal ein unheimlich leises Konzert stattfindet und sie malt sich die tollsten Dinge aus und niemand kann sie vom Gegenteil überzeugen, solange sie auf den wippenden Schuh schaut.

Eines besonders verwegenen Montags lernt sie:
Der wippende Fuß gehört zu einem jungen Mann, mit einer ganz gewöhnlichen Erscheinung und einem ganz und gar ungewöhnlich schönem Lächeln.
Kunde sitzt auf der Treppe und weint, meint, dass Eile geboten ist beim Verfassen einer Todesanzeige, denn Trauernde haben weniger Zeit als Tote.
Der Mann heißt Melvin, aber bitte nennen Sie mich Mel.

Später lernt sie:
Sein Vater hieß Melvin und war kein Mann, dessen Namen man mit Stolz trägt.
Mel hat nie beide Beine unter einem Tisch, weil er auf die nächste Fliegerbombe wartet und bereit sein will, um aus zusammenstürzenden Häusern durch brennende Gassen zu fliehen, und er wird sein ganzes Leben lang nicht damit aufhören.
Er wippt zu Ray Charles.
Er ist rastlos.
Er liebt Helene.
Er wird sie trotz allem lieben.

Helene geht mit ihm in den botanischen Garten, in rauchgeschwängerte Keller voller Musik, lädt ihn zu sich nach Hause ein, stellt Mel ihren Eltern vor und sagt Ja, weil sie es wirklich will. Sie ziehen in die Villa, Mel baut sie eigenhändig um, und die Kinder pflanzen Radieschen und Karotten ins Hochbett. Sie haben dreckige Finger, streiten und lachen und Helene liebt es. Aber immer wieder ertappt sie sich dabei, wie ihr Blick von der Arbeit hochschnellt, so als hätte sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel gesehen, so als hätte sie Schritte auf dem Weg gehört oder ihren Namen, gerufen aus weiter Ferne. Dann strömt Kälte über sie und sie blickt zum Koffer.
Ihre Kinder merken es nicht.
Mel schon. Er fragt nie. Es ist, als ahnte er, dass er nur verlieren kann.

Helene hebt den Kopf, mag es, wenn bleiches Mondlicht durch die Äste fällt, aber heute ist der Himmel bedeckt. Es hat fast zwei Tage nur geregnet und die Feier musste nach drinnen verlegt werden. Trotzdem hängen überall im Garten Lampions und Lichterketten und leuchten wie Sterne in den tropfenbehangenen Wänden des Gewächshauses.
Helena.
Ihre Ohrringe klimpern leise, als sie den Kopf zur Tür dreht. Nicht hoffnungsvoll, sondern voller Gewissheit. Es ist eine Bewegung zwischen den Lichtreflexen, dann ein Schatten, die Tür öffnet sich und da steht Béla mit feuchten Locken, schlaksig, in den zu großen Sachen seines Vaters, und keinen Tag älter als in diesem Frühling vor fünfzig Jahren. Er ist außer Atem, drückt die Hand gegen seine Seite und als er ihren Namen sagt, bebend und verzweifelt, ist sich Helene sicher, dass er nicht mehr daran geglaubt hat, sie hier zu finden.
„Ach Béla“, erwidert sie und steht auf. Die Kälte des Bodens prickelt an ihren Fußsohlen. Sie geht zwischen den Hochbeeten entlang und stellt sich zwischen die Magnolie und ihn, fühlt, wie seine Atemzüge über ihr Gesicht streichen und riecht die Pfefferminze, die er immer kaut, um den Geruch nach Leder und Schuhwichse zu überdecken.
„Helena.“ Sein Blick gleitet über sie, nicht scheu und sehnsüchtig wie damals, sondern mit unerschütterlicher Selbstverständlichkeit. Seine Hände umfassen ihren Kopf, greifen in ihr Haar, zärtlich, aber unnachgiebig. „Du hast gewartet.“
Sie will sagen: „Natürlich“, aber da beugt er sich auch schon zu ihr herab, um sie zu küssen, und sie glaubt das metallische Klicken der Kofferverschlüsse unter der Bank zu hören. Etwas fließt warm von ihren Wangen hinab in ihren Körper, macht Dinge ungeschehen, dreht die Zeit zurück, gibt ihr Recht mit allem. Sie seufzt, als sie sich voneinander lösen und da gibt es einen Moment, ein Warten, Lauern oder Zögern ... was immer es ist, der Moment endet und während Helene die Knöpfe seines Hemdes öffnet, nestelt Béla an den Verschlüssen ihrer Bluse. Keiner von ihnen sagt ein Wort, während Kleidungsstücke wie verblüht zu Boden sinken. Béla beugt sich herab. Sie spürt kaum, wie der Stoff des Rockes über ihre Hüften gleitet, denn Bélas Fingerspitzen hinterlassen ein Prickeln auf ihrer Haut, das tief in ihren Schoß sinkt und ihre Knie weich werden lässt. Sie gräbt ihre Hände in seine Locken und blickt hinaus in den von Sternen erleuchteten Garten. Wann werden die Gäste ihr Fehlen bemerken? Wann Mel?
Als Béla sich wieder aufrichtet, blickt sie ihm tief in die dunklen Augen, kohlenschwarz, wie beim Schneemann hatte sie immer gesagt, aber er hatte nur gelacht, siehst du sie glühen? und sie will jetzt nur an dieses Lachen denken und an das Toben in ihrem Magen und darunter. Sie schmiegt sich an seinen nackten Oberkörper, weich und fest zugleich, schiebt ihm die Hose herunter, fühlt das erregte Pulsieren seines Körpers an ihrem Oberschenkel, drückt das Bein sanft gegen ihn, spürt das heiße Keuchen in ihrer Halsbeuge und will ihn so sehr. Er öffnet ihren Büstenhalter, drückt sie behutsam von sich und schiebt ihr die Träger über die Schultern. Für einen Atemzug fragt sich Helene, was er wohl sieht: Den Busen der jungen Frau, auf die er – selbstverständlich Helena – noch drei Jahre warten will, oder den Busen der vierundsechzig jährigen Helene, die ein halbes Jahrhundert auf ihn gewartet hat, aber das ist plötzlich nicht mehr von Belang, denn seine Lippen schließen sich um die Spitze ihrer Brust und diese Empfindung erschüttert ihr Denken. „Oh“, haucht sie in die kalte Luft, spürt seine Finger heiß auf ihrer Haut und das Holz des Hochbeetes in den Kniekehlen. Béla löst sich von ihr, schiebt sie langsam nach hinten – es fühlt sich fast wie Tanzen an – eine Hand um ihren Nacken gelegt, die andere an ihrem Rücken, um sie behutsam auf das Laub des Hochbeetes zu legen. Seine Finger streichen über ihre Wange, das Kinn und den Hals hinab, so wie sie es sich immer gewünscht hat, damals, als ihre Haut straff war und leicht errötete. Damals, als sie nur ahnte, wohin es führen konnte, wenn ein Mann sie so berührte. Jetzt folgen Bélas Finger altbekannten Bahnen auf ihr, beschleunigen Helenes Atem, hinterlassen prickelnde Spuren und wecken das Verlangen nach mehr in ihr. Sie biegt den Rücken durch, hebt den Oberkörper gegen seine Hände und presst ihre Schenkel gegen seine Hüften.
Béla direkt über ihr, mit glühenden Augen und stockendem Atem.
Bitte. Ihr Stöhnen, als er mit der Hand zwischen ihre geöffneten Beine fährt. Sie strebt ihm entgegen, bitte, bitte ... spürt seine Lippen an ihrem Hals und endlich ... seine Finger in ihr. Seine Hand reibt gegen sie, ihre Hüften gehen mit jeder Bewegung mit, erst langsam, dann schneller. Sie verliert Ort und Zeit, blickt hoch und sieht die Magnolie über sich, in voller Blüte, karges Holz mit weißen Sternen.
Oh bitte ...
Hör nicht auf.
Hör nicht auf.
Hör nicht auf.

„Hör nicht auf.“ Ihr Wispern zwischen keuchenden Atemzügen. Er löst sich von ihrem Hals, beobachtet jede ihrer Regungen und hält schließlich inne. Ist das Wehmut in seiner Miene? Helene streckt die Arme aus, zieht ihn an sich, lass es etwas wert sein, schmeckt Minze und Salz auf seinen Lippen, will ihn trösten, spüren und lächeln sehen. Sie fühlt die Muskeln unter seiner Haut, als sie ihn noch dichter an sich drückt, winkelt ein Bein an und ist absolut verzaubert von dem Stöhnen aus Bélas Kehle, als er sich schließlich hart und heiß in sie versenkt.
Oh bitte ...
Er gräbt seine Hand in das Laub neben ihrem Kopf, mit der anderen Hand umfasst er ihr Bein und hält sie fest, während er zustößt. Seine Bewegungen sind nicht zaghaft, sind Echo ihrer Sehnsucht, ihrer nächtlichen Träume, ihrer heimlichen Fantasien. Es ist, als hätten sie das hier schon tausend Mal getan. Helene umfasst seinen Unterarm neben ihr, spürt die feinen Härchen, hält ihn und sich mit aller Kraft fest. Sie schmiegt ihr Gesicht gegen sein Handgelenk, schließt die Augen, stöhnt viel zu laut, aber es ist ihr egal. Bélas Bewegungen treiben sie weiter und weiter, lassen die Kälte an ihrem Rücken verblassen und alles andere auch.
Weiter.
Weiter.
Hör nicht auf.
Bitte hör nicht auf.

„Oh bitte ...“
Weiter.
Seine Stimme, ganz nah. „Helena.“
Und über den Punkt hinaus ...
Ihr Schrei verhallt zwischen Eisen, Glas und Magnolienästen.
Welle um Welle treibt es ihren Körper gegen seinen.
Ein tobendes Kreiseln in ihrem Zentrum.
Keuchende Atemzüge.
Und die Wirklichkeit, die langsam wieder in ihren Kopf tröpfelt. Béla. Sein Gesicht direkt vor ihr, hilflos, atemlos, während sich sein Körper noch immer unter Schauern krümmt, noch immer in ihrem Innersten pulsiert. Sein Mundwinkel zuckt und er schüttelt lächelnd den Kopf.

Sie liegt in seinen Armen und hört sich selbst, sechzehn Jahre alt und voller Träume. Béla spricht von ihrer gemeinsamen Zukunft und er klingt so zuversichtlich, so sicher, dass sie nicht einen Moment an ihm zweifelt. Sie lässt die Bilder auferstehen: Tanzen. Reisen. Kinder. Miteinander alt werden. Sich im Mondschein unter der Magnolie lieben. Helene blinzelt. Sie spürt noch immer so etwas wie Glut in ihrem Innersten, ihre weichen Knie, aber nicht die Schwere in den Gedanken und Gliedern, wie sonst nach einem Höhepunkt. Hellwach richtet sie sich auf.
Mel, mit wippendem Fuß zu I’ve Got a Woman.
Mel, unter kalifornischer Sonne.
Mel, nachts im Garten Kreise ziehend, den kleinen Jakob im Arm.
Mel summend in der Küche, bei der Beerdigung ihrer Mutter, bei unzähligen Weihnachtsfeiern der Firma, immer an ihrer Seite. Mel im Nadelstreifenanzug zu ihrem dreißigsten Hochzeitstag. Wartend vor dem Gewächshaus. In diesem Moment.
Helene atmet die kalte Herbstluft ein und fährt sich mit den Händen übers Gesicht. Sie streicht sich Bluse und Rock glatt, richtet ihre Ohrringe und steht auf. Ihr rechtes Knie summt und sie kann die Feuchtigkeit zwischen den Beinen spüren. Sie fühlt sich jung und alt zugleich, muss leise lachen und kann sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal in diesem Gewächshaus gelacht hat.

Das Streichholz entzündet sich mit einem hellen Fauchen. Beinah erlöscht das Feuer, verliert sich rauchend im trockenen Laub, doch dann leckt eine Flamme an den Blättern entlang und verzweigt sich. Helene könnte es mit einer Hand auf den Boden wischen und ersticken. Stattdessen wartet sie, bis sie Wärme und dann Hitze im Gesicht spürt. Das Feuer erreicht die Magnolie und Helene erwartet, dass es sich wie ein grauenhafter Fehler anfühlt, der ihr die Luft abschnürt oder in Panik mündet, aber nichts dergleichen geschieht. Ohne sich noch einmal umzudrehen, hebt sie ihre Schuhe auf und tritt aus dem Gewächshaus. Mit langsamen Schritten geht sie den gepflasterten Weg entlang, hört das Knistern hinter sich und sieht orangene Lichtreflexe im nassen Gras.
Mel erwartet sie. Kein Gartenschlauch in der Hand, keine Panik im Gesicht. Er steht in seinem Anzug da, breitschultrig, mit gebeugtem Rücken und wohlverdienten Lachfalten.
„Mel?“ Ihre Stimme ist belegt.
„Hm?“ Als hätte sie ihn gerade beim Frühstück angesprochen.
„Gab es mal eine andere?“
Sie kann sehen, dass er sofort antworten will, dann aber zögert und das passiert so selten, dass es sich für einen Moment wie Fallen anfühlt.
„Nun. Es gab die Arbeit. Das Haus. Es war viel zu tun. Aber nein, es gab keine andere Frau in meinem Leben.“ Er lächelt sie an. „Du warst genug“ und bestimmt bildet sie sich nur ein, dass sein Lächeln nicht jeden Winkel seines Gesichts erreicht.
Selbst jetzt wagt er nicht zu fragen und so tut es Helene für ihn im Kopf.
Sie sagt: „Die Sache mit dem Koffer ... Nein, die Sache mit mir geht so: Ich war verliebt in einen Jungen und habe auf ihn gewartet. Und ich hoffe so sehr, dass er aus freien Stücken nicht mehr wiederkam.“ Für einen kurzen Moment rechnet sie damit, dass ihr bei diesen Worten Tränen in die Augen steigen, aber auch das geschieht nicht. „Weißt du, es ist schwer, mit dem Warten aufzuhören.“
Mel sieht sie lange an. So als wüsste er es ganz genau. Er hält ihr den Arm hin und steht dann mit ihr vor dem brennenden Gewächshaus, als wäre es ein Feuerwerk. Die Flammen lecken an der Decke und platzende Glasscheiben regnen herunter.

 

Hallo @Huxley,

da du auf die letzten 6 Kommentare (noch) nicht geantwortet hast, fasse ich mich kurz.
#Textkram:

und es den Blumen darunter schwerer gemacht
Den Komparativ braucht es mMn nicht.

Ihr Großvater hat das Gewächshaus als standesgemäßes Gegenstück zur Stadtvilla erbauen lassen
Das raff ich nicht, wie kann ein Gewächshaus ein Pendant zur Stadtvilla sein? In Bezug auf die Größe, oder wie?

Die Sache mit ihrer Mutter geht so:
Beim ersten Lesen stößt mir das auf. Das hat sowas von: Passt gut auf, ich erklär euch mal die Welt.

Ihre Mutter wird noch ein Jahr lang Glück haben, bevor ein Herzinfarkt sie tötet.
Der auktoriale Erzählung kann in die Zukunft blicken. Gefällt mir nicht so gut.

Sie zieht die Knie vor die Brust und denkt an seine Worte: Tanzen. Reisen. Kinder. Miteinander alt werden. Und an ihren Traum: Sich im Mondschein unter der Magnolie lieben.
das ist schön, starke Stelle.

Die Baumkrone berührt beinah die gläserne Decke des Gewächshauses und ihre Mutter lässt die obersten Äste abschneiden. Noch eine Sache, die Helene nicht verzeiht.
Auch das schön.

In einem feuchten Sommer tauscht sie die morsche Bank aus. Der Koffer darunter bleibt.
Das raff ich auch nicht ganz: Der Koffer verbleibt all die Jahre unbeschadet im GH, trotz der wechselhaften Witterung? Das heißt, die Bank verrottet und der Koffer bleibt unverändert?

Und er hat gelernt, worüber er nicht einmal sprechen darf.
Den Koffer zum Beispiel.
Gibt es noch mehr Beispiele? Sonst würde ich das anders formulieren:
Und er hat gelernt, dass er über den Koffer nicht sprechen darf.

Lokomotivwerk
Lokomotiv-Werk kann das Auge besser auflösen, finde ich.

Von Zeit zu Zeit aber ertönt ein Rufen aus der unteren Etage: „Kunde sitzt auf der Treppe und weint.“
Was sagt mir das? Kapiere ich nicht.
Aha, später erklärst du es, trotzdem hakelt es erst mal.

Mel hat nie beide Beine unter einem Tisch, weil er auf die nächste Fliegerbombe wartet und bereit sein will, um aus zusammenstürzenden Häusern durch brennende Gassen zu fliehen, und er wird sein ganzes Leben lang nicht damit aufhören.
schön plastisch, mit wenigen Worten viel gesagt.

Damals, als sie nur ahnte, wohin es führen konnte, wenn ein Mann sie so berührte. Jetzt folgen Belas Finger altbekannten Bahnen auf ihr
Das widerspricht sich für mein Empfinden. Wenn sie es damals nur ahnte, wie kann es dann heute altbekannt sein? Genauso unverständlich wie das hier:
Es ist, als hätten sie das hier schon tausend Mal getan.
?

Ich war verliebt in einen Jungen und habe auf ihn gewartet. Und ich hoffe so sehr, dass er aus freien Stücken nicht mehr wiederkam.
Schöner Satz.

Lieber Huxley, Thema deiner Geschichte ist die Hoffnung auf Glück. Es beginnt mit einem Versprechen, das einst voller Inbrunst dahingesprochen war und das sich nicht erfüllt hat. Warum? Du befeuerst die Tragik, indem du aus Bela einen Bolschewiken machst, der (bedingt durch das politische Geschehen der Zeit) an der Erfüllung des Versprechens gehindert wird. Und Helene wartet 50(?) Jahre lang auf ihn und darauf, dass er doch noch daherkommt, um sein Versprechen einzulösen. In der Zeit lebt sie mit Mann und Kindern und Koffer eine B-Lösung, die sich dennoch irgendwie richtig anfühlt. Final kommt es zur Masturbation/ wechselweise surrealen Vereinigung, die offenbar nötig ist, damit sie als 64-Jährige den Traum eines gemeinsamen Lebens endlich verabschieden kann(?). Und dann muss sie das Gewächshaus abfackeln, um den Entschluss unumkehrbar zu machen, Tatsachen zu schaffen. Uff.
Die Stärke deines Textes ist die Sprache. Du hast wirklich viele gelungene Formulierungen gefunden. Es tritt auch das Feilen, die Arbeit an dem Text zutage. Es ist deutlich spürbar, wieviel du investiert hast.
Die Schwäche deines Textes ist für mich die Plotkonstruktion. Da werden (zu) viele Fragen aufgeworfen:
- Warum lebt Helena in einer erstarrten Vergangenheit? 50 Jahre in ständiger Bereitschaft, Bela mit gepacktem Koffer zu empfangen? Klingt nach einem verschenkten Leben. Warum tut jemand sowas?
- Warum gelingt es der Prota auch als erwachsener Frau nicht, sich von der jugendlich verklärten Schwärmerei der 14-Jährigen zu lösen und die B-Lösung ihres Lebens zu einer A-Lösung zu wandeln?
- Warum muss sie für die Beendigung der Illusion das Abfackeln, was ihr am heiligsten ist?

Es ist ein polarisierender Text. Du hast auch sehr viele positive, wohlwollende Kommentare bekommen. Deshalb erlaube ich mir zu sagen, dass mir die Sprache an vielen Stellen gefallen hat, doch die Plot-Brocken, die du mir vorsetzt, kann ich so schlecht schlucken. Mir ist die ganze Konstellation zu absurd.

Peace, linktofink

 

Nabend,
man, mein Jahresende hat die Hosenbeine hochgekrempelt und rennt was das Zeug hält. Keine Ahnung, wo die letzten zwei Wochen geblieben sind ... -.-

@Shey ,
Ach, schön, dass ich dich ein bisschen einlullen konnte. :)

Aber zu aller erst: Hut ab für diese schöne, traurige, romantische Geschichte. Sie hat mich mitgenommen, mitfibern lassen. Sie war schön und traurig und ich habe beinahe vergessen, das ich noch ein Kommentar schreiben wollte.
Find ich schön, dass es nicht nur mir so geht beim Lesen hier. :)

"Schnodder"

ich finde das passt nicht zur Art des Textes und zu der Sprache die du gewählt hast.
Ja, du hast vollkommen Recht. Ich habe auch nach anderen Begriffen gesucht, aber nur "Rotz" und "Nasensekret" gefunden, was auch nicht geht. Mir war aber wichtig, dass "richtiges" Heulen mit genauso viel Wasser aus den Augen wie der Nase einhergeht.
hier hast du beide mal den Akzent vergessen
geändert, danke
Oh man ich merke das das völlig verschroben klingt, ich hoffe du verstehst was ich sagen wollte :-D
Ja, es ist schon explizit und ich wollte das auch genauso ausprobieren. Es heischt nach Aufmerksamkeit, klar und ist nicht für jeden was.
Sehr sehr gerne gelesen.
Vielen Dank, auch für die vielen positiven Anmerkungen zu Stellen, bei denen ich dachte: "Ja, oder?! Ich mag sie auch!" ^^

Hallo @Geschichtenwerker ,

Ich versuche es trotzdem, aber das musst Du mit Vorsicht genießen, weil ich einfach nicht der richtige Leser für Deinen Text bin.
Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du ihn gelesen hast und finde deine Hinweise sehr hilfreich, eben weil du dich nicht "einlullen" lässt.

Und dann fehlt mir die Nachvollziehbarkeit Deiner Protagonistin.
Also warum angesichts des Partners sich nach jemand anderen verzehren, in den man mal vor einem halben Jahrhundert verschossen war?
Feuer braucht Brennstoff.
Ja, das ist ein völlig gerechtfertigter Einwand, den auch andere schon hatten. Ich habe das nicht bis zum Ende ausgearbeitet und möchte da auch nicht im Nachhinein versuchen, mich rauszuwieseln. Beim Planen hatte ich dieses vage Bild von einer Sehnsucht, dieser romantischen Idee, der ersten Liebe und einer Protagonistin, die stur daran festhält, den Absprung nicht schafft.
Warum sie so ist und ob das abseits einer ausgewachsenen psychischen Störung überhaupt passieren könnte, habe ich mir nicht überlegt.

und man sich dann den Jugendschwarm als älteren Herren vorstellt, der einfach mal vorbeikommt und eine Nummer mit einem schiebt.
Hm, also im Text fantasiert sie ihn als jungen Mann und ich hatte gehofft, dass im Text herauskommt, dass sie besonders körperlich von ihm angezogen wird (Er träumt von einem gemeinsamen Leben, Reisen, sie von einer Nummer unter der Magnolie) Da konnte ich dich anscheinend nicht abholen.
Wie auch immer, vielleicht kannst Du trotzdem mit meinen Anmerkungen etwas anfangen,
Wie gesagt, du hast den Finger auch gleich treffsicher auf die Wunde gelegt. :)
Ich habe mich beim Beantworten deines Kommentars aber auch gefragt, wie nachvollziehbar ich eine Figur eigentlich konzipieren muss. "Wasserdicht" wird nicht möglich sein, wir sind ja alle unterschiedlich in unseren Bewertungen und Meinungen. Aber mit "Na, es reicht, wenn 50% der Leute ihren "Disbelief" über Bord werfen" mache ich es mir auch zu leicht. Das beschäftigt mich grad.

Nabend @Isegrims ,

ich lese dich ja sehr gern und bin gespannt, was du vom Text hälst.

von allem ein bisschen zu viel nach meinem Geschmack: symbolbehangen, adjektivbeladen, bildprächtig, Wehmut und Botschaft, Glück und Trauer.
Der Magnolienbaum, die Blüten, das Gewächshaus, das von den Ästen des Baums gesprengt werden könnte, der mysteriöse Koffer, habe ich was vergessen? Klar, das trägt den Text. Dadurch verblasst allerdings das Personal mMn, besonders die Männerfiguren wirken wie durch einen Winternebel als Schemen.
Die Symbolhaftigkeit wird dann noch durch sprachliche Üppigkeit verstärkt.
Kann ich nichts gegen sagen. Der Text ist schon eher eine Sahnetorte mit Amarenakirsche und auch die schwach ausgebauten Männer (Béla mehr als Mel), ja, stimmt. Ich war beim Schreiben eher auf ein "Gefühl" aus und hatte meinen Fokus nicht auf das Zeichnen einzigartiger Charaktere.
finde ich zu viel
Ja, stimmt. Ich habe immerhin das "glockenhell" entfernt. Ich will ganz ehrlich sein, um so öfter ich den Text lese, umso mehr kotzen mich die vielen Adjektive an. Ist mir am Anfang nicht so aufgefallen ...
die tell-Passagen arrangierst du zwar geschickt, wechselst aber deutlich den Tonfall
Darüber muss ich ausgeschlafen nachdenken. Ich erahne nur, was du meinst, aber es liegt vermutlich daran, dass ich meinen Tonfall gerade nicht verbalisieren könnte.
wie sieht ein glückliches Gesicht aus?
Sollte eine Abkürzung sein von leuchtenden, feuchten Augen, einem breiten Lächeln und erhobenen Augenbrauen. Ich habe es vage gehalten, um dafür das Tempo beizubehalten.
so, und wie bringt er sie zum Schmunzeln?
Durch seinen Vergleich mit ihr und der Krücke und dem Baum mit dem Besenstiel.

nach Leder und Schuhwichse?
Ich habe geraten, wie Schuhmacher so riechen.

das wohlverdient ist mal ein Adjektiv, das was aussagt
Isegrims, ich bin nicht ganz sicher, ob ich Ironie erkenne ... :)
Ist das "wohlverdient" wieder zu vage (wie das glückliche Gesicht weiter oben) oder magst du es wirklich? Ich finde es ganz schön, als Zusammenfassung eines zufriedenen Lebens und dem Hinweis, dass die Ehe trotzdem ganz gut lief.

Danke auf jeden Fall fürs Lesen und die gefühlte Ausgewogenheit von Lob und Kritik.

Nabend @greenwitch ,
als Mitglied des thinktanks, aus dem dieser Plot entstand, freue ich mich besonders, dass du reinschaust.

Du hast schon ganz viel feingeschliffen, während ich am Anfang noch ein etwas kritsches Auge hatte, ist es irgendwann einfach zugefallen und ich habe nur noch genossen.
Also kriegst Du jetzt einen ziemlich unkonstruktiven Leseeindruck ..
Ich wehre mich nicht. ;)

Läuft sie aber mit ihrem Warten nicht auch immer nur dem Glück hinterher, wartet darauf
Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ihre Mutter habe ich mir als passive Person vorgestellt, dem Schicksal ergeben. Durch das Nichtloslassen gibt Helene ihr Schicksal auch aus den Händen und wartet passiv darauf, dass er vielleicht doch noch kommt. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Haltung sie in der Ehe mit Mel hemmt.
naja, ich weiß, das du die Blüten meinst, hört sich aber an wie immer mehr Bäume.
Ja, ich verstehe, was du meinst. Ich muss mal in einem ausgeschlafenen Moment schauen, dass ich das ändere.
Oder bezieht sich das auf sie. also für sie vertraute Bahnen?
Da sie das Ganze fantasiert, weiß ihr FantasieBéla natürlich genau, was sie möchte.
Ein schönes Ende, nur der letzte Satz provoziert mich zum "meckern". Das habe ich ja als Leserin versanden, ist mir also zu viel
Ich fand den am Anfang des Schreibens so schön, aber du hast völlig Recht und ich habe ihn weggenommen.
Beste Wünsche, vielleicht hast Du ja mal eine Idee für einen Plot für mich parat, falls ich jammere
Ich mochte deine Nanowrimo-Idee und würde dir gern in eine Gärtnerei folgen ;)

Hallo @Fliege ,
man, man, man, dich zu lesen, ist wie warmen Kakao trinken. :) Danke.

Das liest sich wirklich schön. Sprachlich mag ich den Text sehr, sehr gern. Da sind wirklich schöne Details drin, das plätschert so fein, und macht mir das Herz warm.
In meiner jetzigen Stimmung bin ich absolut die Zielgruppe. Und ich stelle weder das Warten auf Béla, noch Mels Liebe, noch das Ende in Frage. Will ich auch gar nicht. Ich will das alles genau so
Ich wiederspreche nicht, sondern grinse nur blöd. Ist ja auch mal ok.

Hallo @linktofink ,

ich bin ehrlich fasziniert, was dir noch so auffällt. :)
Die positiven Anmerkungen von Dir nehme ich hiermit gesammelt mit einem stolzen Grinsen zur Kenntnis.

"schwerer" habe ich geändert, danke für den Hinweis.

"Gegenstück zur Villa": Mein Gedanke war ein optisches Gegengewicht zur Villa, so wie bei einer Parkanlage. Da endet doch auch jeder Weg in einer Statue oder einem Brunnen. Außerdem soll das Gewächshaus ähnlich pompös wie das Wohnhaus aussehen.

Das heißt, die Bank verrottet und der Koffer bleibt unverändert?
*seufz* Ich möchte jetzt gern sagen, dass der Koffer auch gammelig ist, aber Helene das stur ignoriert, aber ehrlich gesagt, habe ich nicht drüber nachgedacht und jetzt ärgert es mich. Guter Punkt.

Lokomotiv-Werk kann das Auge besser auflösen, finde ich.
Stimmt. Hab ich geändert.
Gibt es noch mehr Beispiele? Sonst würde ich das anders formulieren:
Und er hat gelernt, dass er über den Koffer nicht sprechen darf.
Hm, ich mag meine Formulierung mehr. Ich sehe dahinter so eine typische Beziehungsdynamik: Es gibt die Butterschlieren in der Marmelade und vollgerotzte Taschentücher auf dem Sofa, die kann man ansprechen, es gibt politische Haltungen und Handtuchfalttechniken, über sowas kann man sich streiten und dann gibt es Leichen im Keller, die riechen schon ab und zu, aber trotzdem nicht so sehr, als das man die Kellertür aufmachen will. So eine Leiche ist der Koffer für Mel. Es gab auch noch zwei kleine Abschnitte in einer früheren Version, in der Mel zwei Mal das Thema anspricht und Helene eine emotionale Kernschmelze vollzieht, aber ich fand es zu viel.

Das widerspricht sich für mein Empfinden. Wenn sie es damals nur ahnte, wie kann es dann heute altbekannt sein? Genauso unverständlich wie das hier:
Ich habe den Widerspruch bewusst gewählt zwischen der sexuell unerfahrenen, aber sehnsüchtigen jungen Helene und der älteren Helene, die sich in der Masturbationsfantasie Highlights ihrer sexuellen Erfahrungen bastelt. Natürlich weiß Béla da ganz genau, wo er wie hin muss (Spannenderweise speist Helene ihre Fantasie aus dem Sexleben mit Mel, wird mir grad bewusst)

- Warum lebt Helena in einer erstarrten Vergangenheit? 50 Jahre in ständiger Bereitschaft, Bela mit gepacktem Koffer zu empfangen? Klingt nach einem verschenkten Leben. Warum tut jemand sowas?
- Warum gelingt es der Prota auch als erwachsener Frau nicht, sich von der jugendlich verklärten Schwärmerei der 14-Jährigen zu lösen und die B-Lösung ihres Lebens zu einer A-Lösung zu wandeln?
- Warum muss sie für die Beendigung der Illusion das Abfackeln, was ihr am heiligsten ist?
Berechtigte Fragen und auch hier kann ich nur plump antworten, dass ich mir das vorher nicht überlegt habe. Ich glaube, ich war so sehr mit dieser romantisch, tragischen Stimmung beschäftigt, dass ich die Logik nicht mehr im Blick hatte.

Zur letzten Frage:
Das Anzünden des Gewächshauses emfinde ich als "Pflasterabreißen". Das Gewächshaus ist ja in der ganzen Zeit zu einem Schrein geworden mit einer Reliquie darin. Für mich ist die unwiderrufliche (und klar, übertriebene) Zerstörung folgerichtig nach dem ebenfalls absurd übertriebenen Festhalten.

Es ist ein polarisierender Text. Du hast auch sehr viele positive, wohlwollende Kommentare bekommen. Deshalb erlaube ich mir zu sagen, dass mir die Sprache an vielen Stellen gefallen hat, doch die Plot-Brocken, die du mir vorsetzt, kann ich so schlecht schlucken. Mir ist die ganze Konstellation zu absurd.

Eine schöne Zusammenfassung :)
Danke nochmal für deine Eindrücke und dein scharfes Gespür für die Leichen im Textkeller.

Ein Fazit aus dem ganzen Prozess dieses Textes und Euren Kommentaren bisher: Ich fühle mich gleichzeitig klein und groß, kompetent und bedröppelt, voller Raffinesse und "Ach du Shice!"
Es ist herrlich hier zu sein.

man liest sich
huxley

 

Hallo @Huxley

Deine Geschichte hat mir leider gar nicht gefallen. Ich möchte einige Gründe nennen, wobei ich nicht zu tief in Textarbeit einsteigen will, da ich denke, dass Du die entsprechenden Stellen so beabsichtigt hast und ich Dir meine Meinung nicht aufdrücken muss.
Für mich hakt es an der grundsätzlichen Aussage. Bei Romeo und Julia, gerade geschlechtsreif und noch nicht abgeklärt durch die Widrigkeiten des Lebens, mag es glaubwürdig sein, dass sie jede Möglichkeit auf Erfüllung und Glück von diesem einen Partner abhängig machen. Deine Heldin verknallt sich als Mädchen in einen Typen, der verschwindet. Dann übersteht sie Krieg und Nachkriegszeit, das Auf und Ab des Lebens, und lebt viele Jahre mit Mel. Tja, und diese erfahrene Frau wartet nun mit stiller Sehnsucht 50 Jahre lang auf die Affäre ihrer Jugend. Das ist Bullshit! Meine Meinung.
Zum Schreibstil: Überfrachtet mit konstruierten Formulierungen, die nicht über den romantischen Kitsch des Kerns hinwegtäuschen können, sondern lediglich Literarizität immitieren. Der verkomplizierte Aufbau über mehrere Zeitebenen trägt an einzelnen Stellen zur Verwirrung beim Lesen bei und verdeutlicht die Absurdität der Wahl des Präsens als Erzähltempus. Ein Beispiel:

: „Kunde sitzt auf der Treppe und weint.“
Wieso weint ein Kunde auf der Treppe? Erst einen ganzen Absatz später erfahre ich es. Man könnte auch im nächsten Satz erklären, dass dort Todesanzeigen aufgenommen werden, aber dann würde dem Leser nicht bewusst, wie sehr er den Erzähler benötigt, um ihn durch den Text zu leiten. Die Eitelkeit des Autors kann den besten Plot zerstören. Dagegen war nicht mal (oder: gerade nicht) Grass gefeit.
Die Unmittelbarkeit des Geschehens (oft genannter Grund für den Präsens ) wird durch die altbacken, distanzierte Sprache konterkariert. Und spätestens durch die hereinplatzende Erzählerstimme;
Dinge, die Helene über das Gewächshaus lernt:
fühle ich mich, wie beim Lesen von Nesthäkchen unf nicht als mündiger Leser behandelt.

Schönen Gruß!
Kellerkind

 

Hallo @Kellerkind ,
ich habe erstmal in deinen Forums-Aktivitäten hier herumgestöbert, um den Kommentar für mich besser einordnen zu könen. Und ein paar Formulierungen nachgeschlagen, deren Bedeutung ich lediglich erahnt habe. Du bist recht wortgewaltig unterwegs, merke ich.

und diese erfahrene Frau wartet nun mit stiller Sehnsucht 50 Jahre lang auf die Affäre ihrer Jugend. Das ist Bullshit! Meine Meinung.
Ja, diese zugrundeliegende Prämisse muss man schon wohlwollend annehmen, um den Text ungestört lesen zu können und du bist nicht der Erste, dem es an der Nachvollziehbarkeit haperte.

sondern lediglich Literarizität immitieren.
Ich sage mal, ja.
Ist es nicht einer der Schritte beim Erlernen einer Profession, zu kopieren, was bei anderen funktioniert, bis man seine eigene Stimme gefunden hat?

Man könnte auch im nächsten Satz erklären, dass dort Todesanzeigen aufgenommen werden, aber dann würde dem Leser nicht bewusst, wie sehr er den Erzähler benötigt, um ihn durch den Text zu leiten.
Es kam für mich unerwartet, dass doch einige Lesende darüber gestolpert sind. Es sollte, neben der Hinführung zum ersten Gespräch mit Helene und Mel, authentisches Druckerei-Kolorit vermitteln.
Verstehe ich richtig, dass dir die, erst später stattfindene, Erklärung zu künstlich erscheint?
Würde ich das gleich danach erklären, wäre doch aber auch die Spannung raus und es wäre redundant, es im ersten Gespräch noch einmal zu benennen. Hm.

Die Eitelkeit des Autors kann den besten Plot zerstören.
Ich schreibe hier nach bestem Wissen und Gewissen und dein Kommentar (rein von der Sprache, wohlgemerkt, inhaltlich kann ich das nachvollziehen) fühlt sich stellenweise durch seine Formulierungen an, als unterstellst du mir "böse Absicht". Es hat mich wirklich beschäftigt, warum das so bei mir ankommt, darum auch die Recherche zu deinen sonstigen Kommentaren und mein Bedürfniss, das hier rückzumelden. Ich könnte mit Ich-Botschaften so viel besser klarkommen, als diesem Bachmann-Kritiker-Stil.

man liest sich
huxley

 

Hallo Huxley

Zum Glück hat @Katla diesen Text empfohlen. Ich hatte ihn nämlich zweimal oder dreimal angelesen, dann aber jeweils recht schnell wieder abgebrochen. Weil ...

Wie Schmetterlingskokons warten die Knospen der Magnolie darauf, dass es Frühling wird.
... Knospen mit Kokons zu vergleichen, m.E. nicht sehr gelungen ist, weil zu ähnlich. "Die Nadel bohrte sich wie eine Ahle in den Stoff" wäre ein Analogon, um zu verdeutlichen, was ich meine.
Als gäbe es den langen, dunklen Winter nicht.
Ja, aber wenn es den Winter nicht gäbe, würden sie ja bereits blühen, habe ich mir gedacht.

Auch die folgenden Sätze haben mich nicht in den Text gezogen, mittlerweile kann ich aber nicht mehr sagen, warum.

Also. Ich habe dem Text nach der Empfehlung noch mal eine Chance gegeben und ich möchte dir zurückmelden, dass ich den Text sehr gut geschrieben fand, nicht bloss sauber oder geschmeidig. Mein Gedanke während des Lesens war: Mensch, das beherrschen hier aber nur wenige, einen solch souveränen Umgang mit der Sprache. Du traust dich diesbezüglich auch was, gehst ein wenig an die Grenze des Schwülstigen, aber nur an die Grenze, denn der Text blieb für mich immer leicht und die Sprache dem Thema des Textes, der Sehsucht, vollkommen gerecht werdend.

Für eine inhaltliche Auseinandersetzung fehlt mir leider die Zeit, ich muss gleich los, danach fahre für eine ganze Weile weg. Aber diesen Eindruck wollte ich dir gerne zurückmelden.

Ein paar Details habe ich aber noch.

Micky Maus Motiv
Würde ich mit Bindestrich schreiben. Mittlerweile spricht man schon vom "Deppenleerschlag", wenn darauf verzichtet wird.
Der Baum gehört hierher, so wie er ist und immer war. So wie der Koffer.
Vielleicht: "Wie auch der Koffer."
Der Mann heißt Melvin, aber bitte nennen Sie mich Mel.
Sehr cool, ein Beweis für einen souveränen Erzählstil.
Den Busen der jungen Frau, auf die er – selbstverständlich Helena – noch drei Jahre warten will, oder den Busen der vierundsechzig jährigen Helene, die ein halbes Jahrhundert auf ihn gewartet hat, aber das ist plötzlich nicht mehr von Belang, denn seine Lippen schließen sich um die Spitze ihrer Brust und diese Empfindung erschüttert ihr Denken.
Seine Finger streichen über ihre Wange, das Kinn und den Hals hinab, so wie sie es sich immer gewünscht hat, damals, als ihre Haut straff war und leicht errötete.
Ich hab mich gefragt, weshalb diese Sexszene so gut geschrieben ist, und ich denke, es liegt daran, dass du zwar sehr konkret und sinnlich beschreibst, was geschieht, aber dann immer auch diese Einschübe hast, erschüttert ihr Denken, ein halbes Jahrhundert gewartet, wie sie es sich immer gewünscht hat. Das ergibt einerseits eine sehr angenehme Mixtur von Konkretem und Poetischem, fügt sich andererseits auch sehr gut in diesen Erinnerungs- und Sehnsuchtskontext. Einer der besten erotischen Szenen, die ich hier je gelesen habe.
der vierundsechzig jährigen Helene
vierundsechzigjährigen

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Huxley,

Gewächshäuser und Wintergärten haben eine große Anziehung auf mehrere Autoren hier im Forum :D , das nur so am Rande bemerkt.

Ich habe anfangs gedacht, Helene hätte eine Frau als Partner, denn Mel ist für mich eindeutig eine Abkürzung für Melanie (ich kenne zwei davon) und somit weiblich. Irgendwann löste sich das auf, aber für mich war es anfangs irreführend.

dem Lachen Sigrids und der entsetzlich vertrauten Art, mit der sie Mels Krawatte zurechtgerückt hat.
Das wird erst am Ende deutlich, worauf das hinzielt, als Helene Mel fragte, ob es auch eine andere Frau in der Zeit ihrer Beziehung gegeben habe. Ich weiß ja in dem Moment nicht, wer Sigrid ist - könnte ja die Exfrau, eine Exfreundin, die Schwester von ihm sein, also eine Person, bei der allgemein bekannt ist, dass sie mit Mel (aus was für Gründen auch immer) näher zu tun hat.

Neben ihr liegt das Päckchen Kerzen, das sie vor kurzem zum Schutz gegen den Frost bereitgestellt hat.
Das verstehe ich nicht. Sie will, um den Frost aus dem Gewächshaus zu halten, Kerzen anzünden? :susp:

Die Streichhölzer liegen in einer Frühstücksdose mit ausgeblichenem Micky Maus Motiv, ein Geschenk ihres ältesten Enkels.
Der Enkel hat der Oma eine Vesperdose mit Micky-Mouse-Motiv (mit Bindestrichen) geschenkt? Hä? Oder verstehe ich was falsch?


Es ist so weit weg vom Haus, dass niemand sehen und hören kann, wie eine sechzehnjährige Helene einem Schusterlehrling mit kommunistischen Eltern die ewige Liebe schwört, seine Hand hält, ihn küsst, verspricht, dass sie es ernst meint, einen gepackten Koffer unter der Bank hervorholt, es wirklich ernst meint, eine Träne aus seinem glücklichen Gesicht wischt, ihm hinterher sieht und wartet.
Es ist soweit vom Haus entfernt, dass

Und die kleine Paula läuft so gut, ich habe sie ja schon lange nicht mehr gesehen. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen.“
Geht es da ums Laufenlernen? Das liest sich irgendwie komisch, als wäre die kleine Paula irgendeine Maschine, die gut läuft. :shy:


Ihre Mutter wird noch ein Jahr lang Glück haben, bevor ein Herzinfarkt sie tötet.
das mit dem Töten las sich für mich nicht geschmeidig - vielleicht: bevor ihr ein Herzinfarkt zum Verhängnis wurde.

Da macht die Helene ganz schön viel Drama um diesen Koffer (Symbol für Erinnerung). Ich kann nicht nachvollziehen, dass eine Frau, die über Jahrzehnte hinweg erwachsen, Ehefrau und Mutter geworden ist, so lange einem jugendlichen Traum in so einer Vehemenz hinterhertrauert.
Für mich bedeutet das dann auch, dass sie jederzeit mit diesem Belá gegangen wäre und nie wirklich ja zu ihrem Mann gesagt hat - dabei war es doch recht sicher anzunehmen, dass Belá nicht mehr lebt.
Da hat Helene sehr viel Sentimentalität Raum gegeben, was wohl auch bedeuten könnte, dass Mel ihr einiges nicht zu ihrer eigenen Zufriedenheit geben kann. Bei Belá wäre es anders. Vermutlich hängt das auch sehr mit dem ehelichen Sex zusammen, der nicht so befriedigend sein könnte. Das erklärt sich mir dann aus der langen Sexsequenz bei ihrer Träumerei - sonst hätte Belá auch fiktiv auftauchen und mit ihr diskutieren können, wieso er sich aus dem Staub gemacht hat. Wahrscheinlich ist er als Kommunist gefangen genommen worden und den Rest im 2. WK kann man sich dann denken. Hätte sich Helene mal professionelle Trauerhilfe genommen, dann wäre es für alle Beteiligten ein harmonischerer Weg gewesen die ganzen Jahre hindurch.

Mir war das zu dick aufgetragen mit dem Koffer, das wirkt auf mich zu konstruiert, ich kann diesem Herzschmerz so nicht folgen. Aber andere flasht es ja richtig, von daher liegt es nicht an dir, sondern an mir als Leserin, dass mich der Plot nicht richtig abholt.

Jedoch möchte ich unbedingt erwähnen, dass die Sexszene klasse geschrieben ist, wie der restliche Text auch, also handwerklich sauber - mir geht es bei der Kritik hier nur um den Inhalt, den ich so nicht gerne abkaufe.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo Huxley,

ich bin über die Empfehlung auf deinen Text gestoßen. Du hast ja nun schon einige Kommentare bekommen, trotzdem wollte ich dir kurz meine Gedanken dalassen.

Ich habe die anderen Kommentare nicht gelesen, evtl wiederholt sich also etwas.

Stilistisch gesehen finde ich den Text - bis auf ein paar winzige Anmerkungen (dazu unten) - super. Der leicht altertümliche Stil passt zur Perspektive von Helene, das gefällt mir. Auch sonst ist das handwerklich schon ziemlich gut!

Inhaltlich finde ich die Story aber - tut mir leid - recht platt. Ich hab nichts gegen Liebesgeschichten. Ich würde es auch gar nicht per se als unrealistisch bezeichnen, dass jemand jahrzehntelang auf seine (vermeintliche) große Liebe wartet. ABER: dann möchte ich wissen, wieso dieser Mensch so einzigartig ist, dass er es wert ist, auf ihn zu warten. Wieso ist Bela für Helene die große Liebe? Was macht ihn so besonders, was macht ihre Beziehung so besonders? Das fehlt mir in dem Text und deswegen funktioniert er nicht für mich, da kann er noch so gut geschrieben sein.

Noch ein paar Anmerkungen, positive wie negative:

.Wie Schmetterlingskokons warten die Knospen der Magnolie darauf, dass es Frühling wird.
Hmm. Der Vergleicht passt für mich irgendwie nicht. Warten Schmertterlingskokons auf den Frühling? Ich dachte, die Puppenruhe dauert immer nur ein paar Wochen und ist bei den meisten Schmertterlingsarten jahreszeitenunabhängig...

.
Der Baum gehört hierher, so wie er ist und immer war. So wie der Koffer.
Dieses Vorgreifen finde ich gut.

.Dinge, die Helene über das Gewächshaus lernt.
Gefällt mir stilistisch sehr.
Fände den Satz allerdings im Perfekt schöner.

.
Die Sache mit Mel ist folgende:
An sich finde ich auch das stilistisch schön. Diese Einleitung hattest du allerdings oben schon. Beim zweiten Mal wirkt sie nicht mehr, meiner Meinung nach.

Gleiches gilt für hier:

.
Eines besonders verwegenen Montags lernt sie:

.
Der wippende Fuß gehört zu einem jungen Mann, mit einer ganz gewöhnlichen Erscheinung und einem ganz und gar ungewöhnlich schönem Lächeln.
Schön.

Mel hat nie beide Beine unter einem Tisch, weil er auf die nächste Fliegerbombe wartet und bereit sein will, um aus zusammenstürzenden Häusern durch brennende Gassen zu fliehen, und er wird sein ganzes Leben lang nicht damit aufhören.
Er wippt zu Ray Charles.
Er ist rastlos.
den fettgedruckten Satz würde ich streichen. Dass Mel rastlos ist, ergibt sich schon aus der vorherigen Beschreibung.

.Sie haben dreckige Finger, streiten und lachen und Helene liebt es.
Den letzten Halbsatz finde ich nichtssagend. Ich würde entweder schreiben, was Helene konkret daran liebt oder ihn weglassen.

.Er lächelt sie an. „Du warst genug“
Warum Vergangenheit?

Ich hoffe, du kannst etwas mit meinen Anmerkungen anfangen!

Lieben Gruß und schönen Abend dir noch,

Tintenfisch

 

Hallo @Huxley ,

deine Geschichte ist jetzt die vorletzte der 39 Challengegeschichten, wobei die Reihenfolge rein gar nichts mit irgendwelcher Vorauswahl etc. zu tun, also absolut nichts über meine Einschätzung besagt.

Ich beginne am besten mit dem, was mich am meisten beeindruckt hat. Ich habe zwar noch nie versucht, eine erotische Geschichte zu schreiben, aber gerade weil ich es gerne mal irgendwann tun möchte, achte ich bei allen mir unter die Augen kommenden erotischen Texten darauf, wie sie mir gefallen und was ihre Qualität ausmacht.
Und da fällt dein erotischer Teil derartig wunderbar aus dem Rahmen dessen, was man sonst zu lesen bekommt, dass ich ihn besonders hervorheben möchte. Meist, so mein Erleben, beamt der Autor einen relativ rasch raus, wenn irgendwelche Begriffen für die Geschlechtsteile verwendet werden, die einen eher abschrecken als animieren oder alles driftet verbal in eine umständliche Verpackung und man ahnt, eigentlich möchte der Autor die richtige Worte wählen, traut sich aber nicht und salbadert nun umständlich drumherum. Nichts davon in deinem Text. Auch kein einziges Mal ein Abdriften in die Pornoszene und erst recht, was viel häufiger vorkommt, ein Reinrutschen in den tiefsten peinlichsten Kitsch.Dir gelingt diese Gratwanderung so perfekt, ich erinnere mich wirklich nicht, es schon mal wo besser gelesen zu haben.
Ganz ganz großes Kompliment. Ein perfekt geschrieben.
Ich sollte deine Schülerin werden, wenn ich vorhätte, erotische Geschichten zu schreiben.

Ich bin gespannt, denn ich habe weder die Vorkritiken, noch die Begründung Katlas für die Empfehlung gelesen, was sie genau zu diesem Thema Lobendes geschrieben hat.

Ausserhalb der erotischen Szene gefallen mir leider gefallen einige Sätze und Aussagen in deiner Geschichte nicht so gut.
Am meisten hatte ich Schwierigkeiten mit dem ersten Teil deiner Geschichte:

Wie Schmetterlingskokons warten die Knospen der Magnolie darauf, dass es Frühling wird.
Klar, wenn man nicht so genau hinguckt, sind die kleinen ! Magnolienknospen schon irgendwie mit Schmetterlingskokons verwechselbar. Aber während Schmetterlinge für mich optisch sehr positiv konnotiert sind, geht bei mir der Begriff Kokon ins Negative, weil sich darin die für mich ekligen Raupen befinden, da könnte ich mich schütteln und insoweit findet der von dir gewählte Vergleich wohl nur bei denjenigen Lesern Anklang, die das nicht so emotional sehen wie ich.
Bei mir baut sich jedenfalls ein etwas arg widersprüchliches Bild auf.

Sie setzt sich schwerfällig auf die Bank zwischen den Hochbeeten an der Stirnseite und zieht die hochhackigen Samtschuhe aus
Das ist der erste Satz, bei dem ich aufmerke und denke, so jetzt könnte es interessant werden. Wieso so schicke Schuhe in einem Gewächshaus.

Neben ihr liegt das Päckchen Kerzen, das sie vor kurzem zum Schutz gegen den Frost bereitgestellt hat.
Weiter unten bringst du auch so einen Satz, der mir inhaltlich von seiner Logik her quer liegt und diese gehört auch dazu.
Ein klassisches Gewächshaus hält tatsächlich weder Kälte, noch Wärme ab. In dem Teil wird es so lausig kalt wie es halt auf der anderen Seite der dünnen Glasscheiben der Fall ist.
Die meisten Gewächshäuser werden im Winter nicht genutzt und wenn doch, dann meist mit dicken Isomatten behängt und mit Heißluft oder anderer Wärmequelle beheizt. ABER mit schlichten Kerzen und mag das Gewächshaus noch so winzig sein, was es aber hier in Anbetracht einer ausladend wachsenden Magnolie nicht sein kann, erreicht man nichts an Wärmezuwachs.
Der Satz mit den Kerzen ist daher schlicht nicht richtig und so etwas stört mich dann immer ein wenig.


Es schützt die Pflanzen vor dem strengsten Frost.
Nein, ohne zusätzlichen Schutz eben nicht.

es ist Ausgangssperre und auf den Straßen patrouillieren schwer bewaffnete Männer
Hier bin ich mir nicht sicher, ob du die Zeit nach dem Krieg meinst?Denn während des 2. Weltkrieges gab es zwar Verdunkelungszwang und man hatte bei einer stockdunklen Stadt, bei der nicht ein Lichtchen brennt, natürlich nicht unbedingt draußen was zu suchen, aber es gab keine allgemeine Ausgangssperre. Ich meine, dass man als weitere perfide Schikane über die Juden eine Ausgangssperre verhängt hatte, aber das kann ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen.
Also dann die sog. Siegermächte Deutschland okkupierten, kann es hier und da durchaus Ausgangssperren gegeben haben. Aber sonst nicht.

Als ginge es hier um Glück.
Nicht? Diesen Satz verstehe ich nicht. Wieso ist Liebe kein Zustand des Glücks? Mir kommt dieser Satz an der Stelle sinnlos, fast schon kontra vor. Was übersehe ich da?

Kunde sitzt auf der Treppe und weint, meint, dass Eile geboten ist beim Verfassen einer Todesanzeige, denn Trauernde haben weniger Zeit als Tote.
Schöner Satz, da steht so viel drin, gut gemacht.

Wann werden die Gäste ihr Fehlen bemerken? Wann Mel?
Nein, das nehme ich ihr nicht ab, dass sie gerade in diesem Moment überhaupt an die Gäste denkt und ihren Mann. Wozu sollte sie sich aus ihrem Traum, ihrer Phantasie herausreißen lassen?

Oh bitte ...
Hör nicht auf.
Hör nicht auf.
Hör nicht auf.
All dieser Sätzchen bedarf es nicht. Dein Text wirkt so perfekt aussagekräftig, damit verwässerst du nur.

r hält ihr den Arm hin und steht dann mit ihr vor dem brennenden Gewächshaus, als wäre es ein Feuerwerk.
Mir ist nicht ganz klar, was genau in dem Gewächshaus brennen soll. Es sei denn, es ist extra Material da reingeschafft worden. Es dürfte kaum möglich sein, einen Baum, der in Saft und Kraft wächst, anzuzünden. Wenn er gesund ist, brennt er nicht. Wenn du vielleicht noch extra Benzin oder anderen Brandbeschleuniger hinkippst, dann vielleicht. Du verkokelst allenfalls ein paar Stellen am Baum, aber so wie du es beschreibst, kann es meines Erachtens nicht funktionieren. Rauchentwicklung vielleicht, aber keine Flammen.

Das tut der wunderbaren erotischen Szene keinen Abbruch, aber wenn etwas unlogisch wird, stört es mich.

Sehr schöne Geschichte, die ich gern gelesen habe und, das wiederhole ich gern, die beste erotische Szene, die ich je gelesen habe!

Lieben Gruß
lakita

 

Die Eitelkeit des Autors kann den besten Plot zerstören.
Ich schreibe hier nach bestem Wissen und Gewissen und dein Kommentar (rein von der Sprache, wohlgemerkt, inhaltlich kann ich das nachvollziehen) fühlt sich stellenweise durch seine Formulierungen an, als unterstellst du mir "böse Absicht". Es hat mich wirklich beschäftigt, warum das so bei mir ankommt, darum auch die Recherche zu deinen sonstigen Kommentaren und mein Bedürfniss, das hier rückzumelden. Ich könnte mit Ich-Botschaften so viel besser klarkommen, als diesem Bachmann-Kritiker-Stil.

Hallo @Huxley
um dieses Missverständnis noch in diesem Jahr auszuräumen:
Ich unterstelle absolut keine böse Absicht. Die Eitelkeit, den Leser mit ausgeklügelten Konstruktionen und Metaphern zu beeindrucken gehört zum Wesen des guten Autors. Es wäre unsinnig, das zu einem Vorwurf zu erheben, was eine notwendige Motivation darstellt, sich auf die Bühne zu begeben.
Doch, so wie bei allen Dingen des Lebens, entscheidet die Dosis über die Wirkung. Mir erschien die künstlerische Ambition zu dick in den Vordergrund geschoben; gerade angesichts einer doch profanen Liebesgeschichte.

Zum Glück bin ich nicht der einzige Leser und Du kannst das als eine Meinung unter vielen verbuchen.

Schönen Gruß!
Kellerkind

 

Hallo @Huxley,
Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zur Lese-Empfehlung!
Ich wollte dir auch noch ein paar Gedanken hinterlassen. Falls sich Doppelungen finden zu bisherigen Kommentaren, bitte ich um Entschuldigung, ich habe diese bisher nicht gelesen.

Deine Geschichte handelt von der Sehnsucht nach einem Menschen. Eine Sehnsucht, die so stark ist, dass sie fünfzig Jahre überdauert. Um dieses Gefühl schlängelt sich dein Text, das ist für mich das Leitmotiv. Leider muss ich sagen, dass ich unter diesem Aspekt ein wenig die Glaubwürdigkeit vermisse. Jeder kennt ja sicher dieses leicht wehmütig Gefühl, irgendwann in der Vergangenheit vielleicht eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Dieses was-wäre-wenn, das sich dann und wann in einer diffusen Trauer über ein nicht gelebtes Leben äußert, aber auch schnell wieder verschwindet. Aber das möchtest du hier, so denke ich, nicht beschreiben. Ich denke, du hast mehr diese romantische, absolute Liebe im Sinn? Warum sollte sonst jemand fünfzig Jahre einen Koffer aufbewahren?
Um mich davon zu überzeugen, müsste ich allerdings mehr über Bela und Helena erfahren, als lediglich, dass sie ihm ewige Treue schwört. Noch dazu mit sechzehn Jahren, nicht zwingend ein Alter, in dem solche Schwüre in letzter Konsequenz ausgesprochen werden. Also, wie soll ich glauben können, dass diese Liebe wirklich so tief ist, dass sie Jahrzehnte in Helenas Seele herumgeistert? Fällt mir schwer.
Andererseits, sollte sie so stark für ihn fühlen, wie kann sie dann einen anderen Mann heiraten, ein Kind mit ihm bekommen, alt werden mit ihm? Würde sie nicht vielmehr alles daran setzen, ihren Bela zu finden? Davon habe ich nichts gelesen.
Also, entweder...oder, denke ich. So ist das irgendwie zu wackelig für mich.

Ein paar Anmerkungen noch zum Text selbst:

Neben ihr liegt das Päckchen Kerzen, das sie vor kurzem zum Schutz gegen den Frost bereitgestellt hat.
Da bräuchte sie wohl eher einen Radiator.

Ihr Großvater hat das Gewächshaus als standesgemäßes Gegenstück zur Stadtvilla erbauen lassen
Das verstehe ich nicht ganz, wieso ist ein Gewächshaus ein standesgemäßes Gegenstück zur Villa?

es wirklich ernst meint
Mir persönlich gefällt das Kursivsetzen von Worten nicht so sehr, um dem Leser eine Betonung zu verdeutlichen. Das sollte aus dem Geschriebenen hervorgehen und würde ich an dieser Stelle auch so verstehen.
Du machst das an drei, vier weiteren Stellen so.

Als Helene an ihrem fünfzigsten Geburtstag aus dem Gewächshaus tritt – nach all den Jahren erwartet sie ihn nur noch an solchen außerordentlichen Tagen –
34 Jahre sind also vergangen. Sie wartet immer noch auf ihn, aber nur noch an besonderen Tagen, wie du einfach so schreibst. Warum nur noch an diesen Tagen? Was ist mit ihren Gefühlen passiert? Hier würde ich wieder erwarten, dass die Gefühlsebene Helena-Bela mehr ausgelotet wird.

Da wird Helene zum ersten Mal bewusst, wie traurig es sein muss, im Leben nur die Hoffnung auf Glück zu haben.
Meint sie damit sich selbst?

Ihre Mutter wird noch ein Jahr lang Glück haben, bevor ein Herzinfarkt sie tötet.
Der Herzinfarkt könnte eigentlich weg, die Andeutung reicht mMn.

Der Koffer darunter bleibt.
Ich nehme mal an, der Koffer war aus Leder. Müsste der nicht schon längst vermodert sein, genauso wie der Inhalt?

Und er hat gelernt, worüber er nicht einmal sprechen darf.
Den Koffer zum Beispiel.
Da ist der Mel aber sehr rücksichtsvoll. Ich weiß nicht, würde man es akzeptieren, über Jahrzehnte mit dem Gedanken zu leben, dass die Ehefrau eigentlich lieber ihr Leben mit einem anderen Mann teilen würde, in ihren Träumen und Sehnsüchten bei diesem Mann ist? Da empfinde ich Mels Persönlichkeit als zu sehr "Groschenroman"-Kavalier.

Mel schon. Er fragt nie. Es ist, als ahnte er, dass er nur verlieren kann.
Noch so eine Stelle. Kurz zuvor schreibst du, dass Helena über Mel lernt, dass er sie lieben würde. Das kommt einfach so, ich muss es dem Autor also glauben. Viel häufiger gibst du mir jedoch Grund, eher das Gegenteil anzunehmen, denn Stellen wie diese hier ziehen sich durch die Beziehung zwischen Helena und Mel. Woher die Liebe zu ihr rührt, erfahre ich allerdings nicht.

Wartend vor dem Gewächshaus. In diesem Moment.
Dann wartet er auch noch in der Kälte vor dem Gewächshaus, während sich Helena ihren körperlichen Freuden hingibt. Btw: stelle ich mir nicht geräde gemütlich vor, in einem feucht-kalten Gewächshaus.

Das Streichholz entzündet sich mit einem hellen Fauchen. Beinah erlöscht das Feuer, verliert sich rauchend im trockenen Laub, doch dann leckt eine Flamme an den Blättern entlang und verzweigt sich.
Ich kann mich täuschen, aber ich würde nicht erwarten, dass das Laub trocken ist, wenn es die Tage davor dauerhaft geregnet hat, wie du schreibst. Diese Feuchtigekit würde auch in das Gewächshaus kriechen und das Laub wäre feucht, zumal wenn es dazu noch so kalt ist. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein einfaches Streichholz ausreichen würde, diesen Brand zu legen.

Ich fand deine Geschichte sehr gut lesbar, romantisch geschrieben und mit einer guten Ausgangslage. Das Gewächshaus bzw die Magnolie als Symbol der Sehnsucht, dazu der Koffer. Ist jetzt nicht gerade mein Lieblingslesestoff, aber damit triffst du sicherlich den Geschmack vieler Leser. Wie geschrieben, fehlt mir vor allem das Unterfüttern der von dir quasi als gegeben angenommenen, starken Liebe von Helena zu Bela, die ja ihr ganzes Leben durchzieht. Ebenso Mels Motivation, diesen Zustand zu akzeptieren. Das war mir zuviel romantische Schöndenkerei. Wen das nicht stört, der kann deinen Text natürlich als schöne Geschichte über eine sehnsuchtsvolle Liebe lesen, die Helena schließlich nach fünfzig Jahren loslässt, um fortan gedanklich frei mit Mel zu leben. So wie es der arme Kerl endlich verdient hat ;).

Beste Grüße und schon mal einen guten Rutsch wünscht
Fraser

 

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