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Im Elfenbeinturm
Iris freut sich auf ihr Zuhause im Türmchen. Dabei hat sie doch gerade den ersten Urlaub mit ihrer neuen Liebe hinter sich und der ist keineswegs ein Misserfolg gewesen. Obwohl ...
Sie haben eine lange Rückfahrt aus der Camargue vor sich. Es wird Abend werden, bis sie ankommen. Zum Glück hat es bisher keinen Stau gegeben. Am Neujahrstag befahren nur wenige Lastwagen die Autobahn, viele Leute müssen ja erst mal ausschlafen. Udo ist ein kontrollierter Fahrer, rasante Überholmanöver sind nicht sein Ding. Wenn er unvermittelt bremsen muss, streckt er den rechten Arm vor ihren Oberkörper, obgleich das Auto mit Sicherheitsgurt und Airbag natürlich maximalen Schutz bietet.
„Ist einfach ein Reflex“, erklärt er, als sie beim ersten Mal zusammenzuckt. Er schaut nur eine halbe Sekunde in ihre Richtung. „Hanna hat immer ein wenig gequiekt, die wollte am liebsten hinten sitzen.“
Hanna ist Udos jüngere Tochter. Wahrscheinlich hat ihr Vertrauen in den Papa einen Knacks bekommen, seitdem die Scheidung der Eltern beschlossene Sache ist. Udo hat viele Fotos von den Seinen auf dem Handy. Bei keinem Thema tut er sich so schwer wie bei den Kindern.
Seit zwei Stunden haben sie so gut wie nichts miteinander geredet. Iris gehört nicht zu den Beifahrerinnen, die unentwegt mit dem Zeigefinger herumfuchteln, um auf Sehenswürdigkeiten hinzuweisen. Ratschläge erteilt sie schon gleich gar nicht. Männer sind da empfindlich. Udo legt sich gerne mit dem Navi an. Das bringt sie zum Lachen, aber da versteht er keinen Spaß. Sie merkt es daran, wie er die Lippen zusammenpresst. Für mindestens eine Viertelstunde bleibt er dann sehr einsilbig.
Iris nutzt die eintönige Autobahnstrecke das Rhonetal hinauf, um weiter an ihrer Urlaubsbilanz zu basteln. Wie soll es mit ihnen weitergehen? Noch haben sie beide daran zu knabbern, dass die Wunden und Schrammen aus ihren Ehen ordentlich schmerzen. Udo ist gerade erst ausgezogen und haust jetzt in einem Ein-Zimmer-Apartment . Es sieht bei ihm ganz nach einem Rosenkrieg aus, Vermögensfragen verknotet mit dem Sorgerecht. Iris hat selbst schlimme Erinnerungen an ihre Trennung, aber Geld spielte dabei keine Rolle.
Kuschelsex ist angesagt, vorsichtiges Ausloten der Eigenheiten, Bedürfnisse und Wünsche. Wie kommen sie mit dem Zusammenwohnen, dem hundsgewöhnlichen Alltag zurecht, mit den berüchtigten offenen Zahnpastatuben? Zur Probe haben sie daher auch ein abgelegenes Ferienhäuschen und nicht ein Hotel gebucht. Ihnen war nach einem Silvester ohne 'Dinner for one' und Kanonenschläge zumute. Stattdessen holten sie sich einige Leckereien aus der Spezialitätenecke des Supermarché und einen trockenen Roten aus Bourdic. Mit einem Glas Prosecco traten sie eine Viertelstunde vor Mitternacht unter den klaren Sternenhimmel. Es war ganz still, nur ein Hund bellte in der Ferne. Udo legte zuerst das Jackett und dann den Arm um Iris' Schultern.
„Lass uns nichts überstürzen. Erst muss die Scheidung durch sein. Dann seh ich klarer.“
„Wann ist das Trennungsjahr vorbei, Juni, Juli?“
„Im Herbst hoffentlich. Wenn sie keine Schwierigkeiten macht.“
„Schwierigkeiten?“
„Na ja, du weißt schon, ein Jahr Trennung von Tisch und Bett. In der gemeinsamen Wohnung ist es verdammt schwierig. Hat nicht geklappt."
„Bist du optimistisch?“
„Nein.“
Ein kleiner Sternschnuppenschwarm zog vorbei. Gelegenheit für geheime Wünsche. Ob Udo sich das gleiche wünschte wie sie? Noch vor halb eins gingen sie zu Bett. Gepackt hatten sie schon am Nachmittag.
„Du bist so still“, sagt Udo und legt seine Rechte auf ihr Knie, „sollen wir eine Pause machen? Ich könnte einen Espresso vertragen.“ Er hat schöne Hände, schmale Finger und sehr gepflegte Nägel. Trotzdem kann er gut zupacken, manchmal ... Iris mag sie sehr.
„Warum nicht, wir schaffen es sowieso nicht, bevor es dunkel wird. Wann musst du tanken?“
„Wieso fragst du?“
„Na ja, ich dachte nur ...“ Iris verstummt. Udo fährt immer bis zum letzten Tropfen Benzin, genau wie ihr Ex. Auf der Hinfahrt, als sie die Autobahn verlassen hatten und durch abgelegene Dörfer der Auvergne fuhren, fanden sie erst auf den letzten Drücker eine offene Tankstelle. Iris wusste nicht, ob Udo eine sportliche Wette im Sinn hatte. Vielleicht wollte er bloß an den Tankstellen nicht mit Karte zahlen. Hier hätte sie früher mit ihrem Ex einen handfesten Krach angefangen. Der liebte solche Spielchen, lebte immer im Risikomodus. Wahrscheinlich war sie für ihn entweder zu zickig oder zu vernünftig gewesen. Kein Wunder, dass er Abenteuer anderswo suchte. Zwölf Jahre hat sie die ertragen.
Draußen dämmert es. Einzelne Schneeflocken bleiben an der Frontscheibe kleben und rutschen langsam nach unten. Die Landschaft wechselt allmählich von grau und braun zu weiß. Udo stellt die Autoheizung auf zweiundzwanzig Grad.
„Bei der nächsten Raststätte fahren wir raus, ich muss sowieso den Reifendruck nachprüfen. Kommt mir zu niedrig vor.“
Natürlich, Udo ist ja Ingenieur, da darf sie sich hundertprozentig auf seine Umsicht verlassen.
„Sollen wir nicht auch gleich noch eine Kleinigkeit essen? Und dann in einem Rutsch durchfahren?“
„Ganz wie Sie wünschen, Madame. Ich hoffe nur, dass wir kein Glatteis kriegen. Such mal SWR 3, da kommt bestimmt gleich der Wetterbericht."
„Soll ich dich ablösen?“
Iris ist froh, dass Udo den Kopf schüttelt. Sie war nie eine gute Fahrerin. Seit ihrer Scheidung hat sie kein eigenes Auto mehr.
„Hier brauche ich keins“, hat sie den Skeptikern unter die Nase gerieben, „wozu gibt es die Straßenbahn? Ich hab die Haltestelle direkt vor meiner Haustüre. Und für das Geld kann ich oft Taxi fahren. Außerdem sind es ja nur ein paar Schritte in die Innenstadt.“
Das stimmt. Es ist einer der Vorteile ihrer Wohnung mit dem grandiosen Rundblick von der Dachterrasse aus über die Stadt bis hin zu dunklen Höhen des Schwarzwaldes. Klar, die fünf steilen Treppen sind nicht jedermanns Sache. Als sie sich vor einem Jahr einen Bänderriss zugezogen hat, musste sie vier Wochen in ihrem Elfenbeinturm ausharren. Einen Aufzug gibt es in dem denkmalgeschützten Haus nicht, dafür aber ein Türmchenzimmer mit bis zum Boden reichenden Jugendstilfenstern, von denen aus sie das Leben unten auf der Straße beobachtete. Gut, dass sie sich in dieser Zeit auf ihr Netzwerk von Freunden und Kollegen verlassen konnte.
„Es ist alles nur eine Frage der Organisation. Okay, manchmal wird mir die Zeitung unten aus dem Briefkasten geklaut. Ich werd wohl auf ein Digitalabo umstellen. Und Flaschen schleppen ist zugegeben nicht so prickelnd. Aber oben ist es super, so luftig nach allen Himmelsrichtungen und vor allem so sicher. Die Glaskuppel kann von innen verriegelt werden. Und wenn's brennt, bin ich schnell im Freien.“
Dieses Credo verkündete sie trotzig bei jeder Gelegenheit.
Jetzt wohnt sie schon eineinhalb Jahre in ihrem Elfenbeinturm. Ungeladene neugierige Gäste kommen nicht mehr so oft, seit sie mit Udo zusammen ist.
Udo. Eine Freundin aus Kindertagen hat ihn einmal mitgeschleppt. Ein schlanker Mann mit eisblauen Augen und einer hohen Stirn, Anfang vierzig und gut einen Kopf größer als sie. Sein praktisches Talent als Bauingenieur bei der Stadt ließ ihn sofort kleinere Mängel erkennen. Lösungen hatte er auch gleich parat. Während ihrer unfreiwilligen Auszeit wegen des Bänderrisses fragte er mindestens jeden zweiten Tag an, ob er ihr was helfen könne. Er brachte zwei Rauchmelder an und schüttelte den Kopf, als er die einfache Wohnungstür mit den dünnen Glasscheiben inspizierte.
„Die hält nicht viel aus. Meinst du nicht, da wäre wenigstens ein Sichtschutz sinnvoll?“
So viel Fürsorge rührte sie und taute die äußere Eisschicht um ihre Gefühle an. Einmal, so um den ersten Mai herum, stand er nach einem ausführlichen Sonntagsfrühstück vom Tisch auf, spähte aus dem Türmchen auf die gegenüberliegende St. Georgs-Kirche, wo es gerade zwölf Uhr schlug, und murmelte, er habe hier jetzt wohl ein paar Würzelchen geschlagen. Iris hätte gerne gefragt, was er damit meine. Aber so viel Mut hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Die letzten fünfzig Kilometer, bereits auf deutschem Boden, kommen sie fast nur im Schritttempo voran. Ein Schneesturm fegt von der Seite her über die Fahrbahn. Iris ist froh, nicht selbst am Steuer zu sitzen. Bei ihrer Nachtblindheit kann sie kaum die Rücklichter erkennen. Sie sehnt sich nach einer heißen Dusche, um die Verspannungen in den Schultern loszuwerden.
„Hör mal, Iris, macht es dir was aus, wenn ich nur das Gepäck hochtrage und dann verschwinde? Ich muss unbedingt noch ein paar Telefonate führen, in Ruhe, du weißt ja … Ich hab's den Mädchen versprochen, und es ist schon nach acht.“
„Ja, klar, kein Thema.“ Iris will sich jetzt nicht mit Udos Familie beschäftigen. „Ich bin sowieso ziemlich müde. Ist ja kein Vergnügen mit dem Schnee. Du bist bestimmt k.o. Fahr du nur gleich weiter, den Koffer kriege ich auch allein nach oben.“
„Nicht so schlimm, nur die Augen tun mir weh. Aber Hanna ...“
„Ich hab schon verstanden, Udo. Children first. Wir haben ja noch ein paar Tage. Außerdem muss ich endlich die Abiaufsätze korrigieren. Übernächste Woche ist Termin.“
„Mir graut auch schon vor meinem Schreibtisch. Da liegt ein Stapel Baupläne für den Rathausumbau.“
„Du Armer! Klingt nach Stress.“
„Kann schon sein, aber mit dir möcht ich auch nicht tauschen.“
Iris lacht. Sie kennt seine Vorbehalte gegenüber dem Lehrerberuf. Er hat keine guten Erfahrungen mit Pädagogen. Zu viel Gedöns um Unwichtiges, findet er. Zu den Elternabenden hat er immer seine Ex geschickt. Die redet gerne und viel. Iris wundert sich manchmal, dass ihr Beruf den großen Schweiger nicht abgeschreckt hat.
Schließlich parken sie auf dem Parkplatz gegenüber ihrer Wohnung. Udo stellt den Motor ab und fängt an, Gepäck auszuladen. Iris blickt zu ihrem Ecktürmchen hoch. Ein wohliges Gefühl erfasst sie. Meine Burg, mein Refugium, was für ein Glücksfall in den Turbulenzen der beiden letzten Jahre. Sie hat sehr viel Energie und einiges an Geld in die Einrichtung gesteckt. Tu was für dich, du darfst dich nicht noch selbst bestrafen. Nur eine Nacht nach der Besichtigung brauchte sie und der Kauf war für sie beschlossene Sache. Der Makler kam aus dem Staunen gar nicht heraus.
Sie packt entschlossen Koffer und Reisetasche, pflanzt einen flüchtigen Kuss irgendwo in Udos Gesicht und ist schon auf der anderen Straßenseite. Vor dem altertümlichen Hauseingang mit den ausgetretenen Steinstufen dreht sie sich um und winkt. Udo steht wie angewurzelt da, den Autoschlüssel in der Hand.
„Wir telefonieren. Morgen. Und danke für alles“, ruft sie fröhlich hinüber. Dann holt sie den zwanzig Zentimeter langen Bartschlüssel aus ihrer Umhängetasche. Endlich zuhause.
Als erstes fallen ihr oben die schwarzen Flecken auf der weiß lackierten Eingangstür auf. Dann sieht sie die Holzsplitter auf dem Boden. Das Schloss ist herausgebrochen, die Tür nur angelehnt. Im großen Wohnraum, der das halbe Dachgeschoss umfasst, erwartet sie ein Chaos. Aufgerissene Schubladen, Bücher auf dem Boden, Papiere, überall Glasscherben. An den Wänden, um die Lichtschalter herum, auf dem hellen Berberteppich sind ebenfalls schwarze Flecken. Unter der Tischlampe auf dem großen Esstisch, den sie an einem Ende als Schreibtisch benutzt, findet sie eine Nachricht, dass sie sich beim zuständigen Revier melden solle. Es liegt nur ein paar Straßen weiter.
Iris handelt wie in Trance. Sie geht ein Stockwerk tiefer und klingelt bei der WG. Ein verschlafenes Erstsemester klärt sie auf. Ja, bei ihr ist eingebrochen worden. Wegen des anstehenden Partylärms habe er sie vorwarnen wollen, da war es schon passiert. Er habe sofort die Polizei verständigt und die sei mit der Spurensicherung angerückt. Sie hätten etwas von einer Kinderbande gesagt, es gäbe gerade eine Serie davon im Viertel. Nein, mehr wisse er nicht. Mit einem schrägen Blick von unten fügt er hinzu:
„Es ist wohl nicht sehr passend, wenn ich Ihnen ein gutes Neues Jahr wünsche?“
Das ist das Signal für ihr Herz, wie verrückt zu rasen. Iris kennt das schon: Wenn sie unter Stress zu flach geatmet hat, fängt der zweite Reizleiter an, ihr Herz auf Hochtouren zu bringen. Sie muss dann umhergehen oder sich hinlegen und abwarten. Oft dauert der Anfall eine halbe Stunde. Iris stolpert zurück in ihre Wohnung, wischt die Bücher und Papiere vom Sofa und streckt sich aus. Sie fühlt nur das Pochen. Nach einer Viertelstunde ist der Spuk vorbei. Vorsichtig probiert sie aus, ob sie sich schon bücken kann, um die verstreuten Abiaufsätze aufzuheben. Zum Sortieren hat sie keine Kraft. Auf der polizeilichen Nachricht steht, sie solle alles überprüfen und auflisten, welche Gegenstände fehlen. Der Verlust wird, so glaubt sie, nicht allzu groß sein. Iris hat hübsche Möbel, aber keine kostbaren Antiquitäten oder Bilder. Der Schmuck, hauptsächlich Ketten und Ringe, deren Wert in der Erinnerung liegt, ist natürlich weg, auch die geerbte Münzsammlung und die paar Schweizer Franken vom letzten Ausflug nach Basel. Der Laptop steckt noch im Koffer, den hatte sie in Frankreich dabei. In der Vitrine sind die Scheiben zu Bruch gegangen. Mehr kann sie auf die Schnelle nicht herausfinden. Sie füllt sich einen Becher mit kaltem Leitungswasser, um ihren Magen zu beruhigen.
Soll sie Udo anrufen? Zögernd wählt sie seine Handynummer. Mailbox. Sie bittet lediglich um einen Rückruf, ohne einen Grund anzugeben. Momentan kann er ohnehin nicht helfen. Dann traut sie sich ins Schlafzimmer. Schrank und Bett sind Gott sei Dank unberührt. In ihren Schock mischt sich ein Hauch Erleichterung. Sie verzichtet auf Zähneputzen und Nachtcreme, dreht den Schlüssel im Schlafzimmer zweimal um. Erschöpft fällt sie in den Tiefschlaf, so dass sie nicht hört, wie das Telefon klingelt.
Am Morgen liest sie Udos SMS.
„Sorry, Iris, ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht. Martina ist im Krankenhaus, sie hat eine Alkoholvergiftung. Da werde ich wohl in der nächsten Zeit gebraucht. Ich melde mich wieder, sobald es geht. Udo“
Sobald es geht ... Sicherheit ist nur ein relativer Begriff.