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Illusionen

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19.04.2003
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Illusionen

Illusionen

Es ist 14:23 Uhr und in einer Wohnung mitten in der Stadt fällt einer Frau eine Teetasse herunter, während ihr Mann kopfschüttelnd und spöttisch lächelnd daneben steht.
Zum gleichen Zeitpunkt sitzt ein junger Mann am Ende der Stadt auf einer Mauer, hat lächerliche, kleine Stöpsel im Ohr, hört eine Musik, die zu diesem Zeitpunkt nur er alleine hören kann und hinter seinen Augen warten Tränen darauf, endlich loszulaufen – über die Wangen, an der Nase vorbei, in den Mundwinkeln kurz innehaltend und dann weiter das Kinn herab.
Zur selben Zeit, ein paar Sekunden später, fällt ein Kind von seinem Fahrrad und schreit schmerzhaft auf.
Im gleichen Augenblick nimmt eine junge Frau einen Anruf entgegen, der ihr Leben, so wie es im Moment ist, drastisch verändern wird.
Und in diesem Moment, um 14:23 Uhr, zerbrechen an verschiedenen Stellen der Stadt dieselben Illusionen.

Kaspar, ein 25-jähriger junger Mann mit einem Hang zum Selbstgerechten, versteht die Welt.
Er studiert mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaften und hat zur Zeit das Gefühl, ihm gehöre das Universum.
Manche behaupten, er sei intelligent. Manche behaupten, er sei arrogant.
Er fragt sich manchmal, ob nicht beides aufs Gleiche hinausläuft und lächelt deshalb sorglos in die Gesichter der Menschen, die ihm begegnen.
Er besitzt nicht viel Phantasie, doch Phantasie ist ja nicht dasselbe wie Einbildungskraft.
Denn die hat er zur Genüge.
Kaspar lag gerade in seinem Bett und schlief, als das Telefon klingelte.
Es war Samstag und die rotblinkende Anzeige des Weckers zeigte ihm, dass es kurz nach 10 am Morgen war. Mit einem ärgerlichen Knurren sprang er aus dem Bett, warf einen kleinen Blick in den Spiegel, grinste selbstgefällig, fuhr mit seiner Hand durch die unordentlichen Haare und hob den Hörer ab.
„Na, was für ein Frühaufsteher ist diesmal dran?“
Am anderen Ende räusperte sich jemand und sagte:
„Hi Kaspar. Ich bin’s, Lene.“
„Hallo, meine Schöne. Gibt’s was bestimmtes?“
„Na ja, ich wollte dich fragen, ob du heute Mittag Zeit hast, Ich wollte etwas mit dir ... besprechen, weißt du.“
„Was wichtiges?“
Er bemerkte, dass sie zögerte mit ihrer Antwort.
„Ja. Ja, schon.“
„Gut. Treffpunkt, Uhrzeit?“
„An der Mauer beim Friedhof? Da brauchen wir beide nicht weit zu fahren, oder?
Gegen halb 12?“
„Geht klar, mein Schatz. Ich werde da sein.
Ich liebe dich. Machs gut.“
Er lächelte ins Telefon hinein.
„Ja. Bis dann.“
Er legte auf und sah sich noch einmal im Spiegel an.
„Ich sehe wirklich gut aus, wenn meine Haare so wuschelig sind!“, murmelte er und hangelte nach der Fernbedienung für die Stereoanlage.
Während er sich laut singend anzog und Cornflakes in eine Schüssel schüttete, kitzelte es ihm in der Nase und grinsend dachte er, dass wohl in diesem Moment jemand an ihn denken müsste.

Es dachte tatsächlich jemand an ihn. Lene zum Beispiel, die gerade an ihrem Küchentisch saß und nachdenklich den Hörer in den Händen drehte. Lene, seine Freundin.
Oder wie sie es ausdrücken würde: Ex-Freundin. Sie hatte vor, sich von ihm zu trennen.
An diesem Samstag, an der Mauer beim Friedhof, gegen halb 12.
Sie war sich dessen sicher, auch wenn sie wusste, es würde ein schwerer Schritt werden.
Doch sie konnte es nicht ändern. Und er würde es ebenfalls nicht ändern können.
Sie hatte keine andere Wahl.
Lene ist Studentin an derselben Universität, an der Kaspar studiert.
Sie ist nett, hübsch und wie geschaffen für einen selbstgefälligen Menschen. Das sind zumindest seine Gedankengänge.
Lene denkt da ganz anders und das ist der Grund, warum ihr schon vorher klar war, die Beziehung würde nicht von langer Dauer sein.
Sie ist eine Person mit mehr Geheimnissen als Wahrheiten in sich.
Und das ist der Grund, warum sie keine andere Wahl hat.
Denn er kennt sie nicht und wird sie auch nie kennen lernen.

Etwa um Elf Uhr an diesem Samstag stand Hannes vor seiner Mutter, trotzig die Hände in den klebrigen Hosentaschen und mit sturem Blick auf ihre Schürze.
„Du wirst heute nicht mehr rausgehen. Hausarrest. Ist das klar?“
Sie zitterte leicht, auch wenn der 12-Jährige dies nicht bemerkte.
„Ich muss aber!“, rief ihr Sohn widerspenstig.
Sie stöhnte und rieb sich die Schläfen. Sie fühlte förmlich, wie ihr Nacken sich verspannte und sehnte sich nach einer warmen, massierenden Hand.
Aus dem Nebenzimmer drangen Fußball-Geräusche.
„Tor, Tor!“ und „Los, lauf doch endlich du Idiot!“.
Sie konnte es nicht verhindern einen kurzen Blick in den Raum zu werfen und sah, dass die Hand, nach der sie sich sehnte, gerade nach einer Flasche Bier griff.
Der Flur, in dem Mutter und Sohn standen roch nach Alkohol und Staub.
In Richtung der Wohnungstür wurde es dunkler, die Jacken rechts und die Schuhe von fünf Familienmitgliedern links neben dieser Tür nahmen dem kleinen Gang Freiraum und Helligkeit.
Sie fühlte sich beengt, eingedrückt, verlassen. Nicht nur wegen der Räumlichkeiten.
„Hör zu, du hast heute Hausarrest. Das habe ich gesagt und das wirst du auch einhalten. Hast du mich verstanden, Hannes? Kümmere dich um deine Schwester oder so. Lass mich jetzt in Ruhe.“
Ihre müden Augen wanderten zu dem kleinen Mädchen, das in der Küche saß und mit ihrem Essen spielte.
„Aber ich...“
„Nichts aber!“
Ruckartig drehte sie ihren Kopf wieder ihrem Sohn zu.
„Du wirst jetzt auf mich hören. Sonst wird dein Vater dir eine Lehre verpassen, die es in sich hat. Kapiert?“
Die Hände noch immer in den Hosentaschen flossen ihm nun ein paar Tränen der Wut über das Gesicht doch er nickte.
„Ihr könnt ja meinetwegen auf den Hof gehen. Aber nimm deine Schwester mit. Und wehe ihr geht auf die Straße. Ihr bleibt auf dem Hof!“, sagte sie unwirsch und schlurfte müde in die Küche, wo ihre jüngste Tochter die Hände und das Gesicht voller Spinat auf einem Hocker saß und sie anlachte.
Mit einem Waschlappen reinigte sie schnell und nachlässig das Mädchen.
„Du gehst jetzt mit deinem Bruder raus. Hör auf ihn.“
Dann überließ sie ihre Kinder sich selbst und schloss die Augen, während sie sich wieder und wieder die Schläfen knetete.
Erneut hörte sie wütende Ausrufe und Applaus aus dem Wohnzimmer und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie man schon morgens Alkohol trinken konnte. Und wie sie hier überhaupt hineingeraten war.
Es hatte doch nicht so angefangen. Es hatte doch schön angefangen.
Sie lächelte traurig, als sie an die Zeit dachte, in der ihr Mann ihr noch die Sterne vom Himmel herunterholen wollte. In der sie noch in Jeansgröße 36 hineingepasst hatte.
„Vielleicht wird es ja wieder besser!“, murmelte sie zu sich selbst und begann, ihre ständige Müdigkeit verdrängend, mit den Abwasch.

„Komm schon. Mach endlich.“, drängte Hannes seine kleine Schwester, während sie sich mit großer Anstrengung und Konzentration ihre Schuhe band.
Er sah hinunter auf die Vierjährige und wünschte sich ein weiteres Mal, keine kleinen Geschwister zu haben.
Sie nervten ja doch nur.
Er hatte Glück gehabt, dachte er bei sich. Denn seine Mutter war genervt gewesen und nun durfte er doch hinaus. Zwar offiziell nur auf den Hof, aber das würde sie nie im Leben überprüfen.
Sie würde es ja doch nicht bemerken, wenn er die Grundstücksgrenzen überschreiten würde.
Und schließlich hatte er Termine einzuhalten.
Selbstgefällig grinste er und half seiner Schwester mit dem Reißverschluss ihrer Jacke.
„Jetzt komm endlich.“
Er griff nach ihrer kleinen Hand und verschloss sie fest in seiner.
„Was spielen wir, Hannes?“
„Wir spielen großer Bruder und kleine Schwester und die kleine Schwester hört auf den großen Bruder!“
Er lachte, während er die Tür hinter sich schloss, als wäre sie das Hindernis, das ihm bisher die Freiheit versperrt hatte.
„Aber das brauchen wir doch nicht zu spielen. Das sind wir doch eh schon. Das ist doof!“, schmollte sie und blieb stehen.
„Ich will wieder zu Mama.“
Hannes seufzte und kniete sich hin.
„Wenn du jetzt mit mir kommst, dann kriegst du nachher ein Eis, okay? Aber erst müssen wir noch was mit dem Fahrrad erledigen. Das geht ganz schnell.“
„Ein Eis? Wirklich?“
Misstrauisch schaute sie auf. Er hatte ihr schon zu oft etwas versprochen.
„Ja, klar. Ein Eis. Mit zwei Bällchen. Großes Simba-Ehrenwort!“
Ihr Gesicht erhellte sich und sie lachte.
„Na gut.“
Er stand wieder auf, zog sie die Treppe herunter und grinste in sich hinein.
Das große Simba-Ehrenwort. Das half immer.

Erschöpft sank Lene auf einen Sitz in der Straßenbahn, die gerade dabei war, anzufahren.
Fast hätte sie sie verpasst.
Aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hatte sie mit voller Absicht getrödelt. Das Unvermeidliche hinausgezögert.
... Schnell die Schuhe anziehen. Aber ach, da kommt ja grad ein schönes Lied im Radio. Hör dir das noch kurz an, Lene. Und das Glas da auf der Spüle, das könntest du ja auch noch mal schnell wegspülen. Wird schon nicht zu spät werden. Oh, im Bad ist ja noch das Fenster auf. Das muss noch zugemacht werden. Und die Begonie muss auch noch gegossen werden. Mach das doch noch kurz, Lene. Dauert ja nur ein paar Sekunden ...
Und dann hatte es doch ein paar mehr Sekunden gedauert.
Tief atmend schloss sie für kurze Zeit die Augen und sah dann auf die Uhr.
Eine halbe Stunde noch.
Eine halbe Stunde. 30 Minuten. 1800 Sekunden.
Sie wusste nicht, wie sie es anstellen sollte.
„Ach, Kaspar. Du kennst mich eigentlich gar nicht. Lass uns Schluss machen, okay? Schönen Tag dir auch noch.“
Sie musste sich eine Strategie ausdenken. Einen Plan.
Oh ja, in ihrem Leben verlief schließlich alles nach Plan.
„Na ja, das meiste zumindest!“, murmelte sie.
Vielleicht sollte sie es auch einfach lassen.
Vielleicht könnte sie sich ihm ja öffnen und ihm eine Chance lassen, sie kennen zulernen.
Vielleicht würde er dann trotzdem bei ihr bleiben.
Vielleicht, vielleicht und vielleicht auch nicht.
Sie hatte es sich doch geschworen. Sie konnte doch keinen Schwur brechen.
Oder?
Nachdenklich knetete sie eine Haarsträhne, die aus ihrem Zopf herausgefallen war und locker ins Gesicht fiel.

Erfreut sprang Kaspar von der Mauer, auf der er gesessen hatte, als er Lene kommen sah.
Er breitete die Arme aus und wartete bis sie vor ihm stand.
Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen.
„Schön dich zu sehen!“, flüsterte er.
Sie nickte nur und machte sich los.
„Ja. Ja, Kaspar hör zu. Ich muss mit dir reden.“
Sie atmete geräuschvoll ein und aus.
„Komm, wir setzen uns erst mal.“
„So schlimm, dass ich mich setzen muss um nicht umzufallen?“
Er grinste, setzte sich jedoch neben sie auf die Friedhofsmauer.
Während sie redete, starrte er sie an. Sich bewusst, dass auf der einen Seite neben ihm die Toten waren, auf der anderen Seite die geschäftig herumeilenden Lebenden. Und als sie geendet hatte, wusste er nicht mehr auf welche Seite er gehörte.

Du hast deine kleine Schwester mitgebracht?
„Pst, schrei doch nicht so, Mann.“
„Ich fass’ es nicht, er hat seine kleine Schwester mitgebracht.“
Hannes verdrehte die Augen und sah kurz zu der Schaukel, auf die er seine Schwester kurzentschlossen gesetzt hatte. Sie war einige Meter entfernt, bekam nichts von dem Streit mit und winkte ihm fröhlich zu.
„Hannes! Du kannst sie doch nicht so einfach mitbringen. Sie ist vier!“
„Eben, sie ist vier und kapiert das überhaupt noch nicht. Kein Grund zur Panik, Mann! Sie kriegt nichts mit, okay? Ich musste das halt heute machen. Ging nicht anders. Ich kann auch nicht so lange heute. Hab Grundstücksarrest eigentlich.“
Der ältere Junge vor ihm stöhnte und schüttelte den Kopf.
Undeutlich und sehr leise, sodass Hannes es nicht verstehen konnte, murmelte er: „Sei froh, dass du überhaupt mitmachen darfst.“
Ein anderer, der neben ihm stand kniff die Augen zusammen und musterte Hannes.
„Hast du denn wenigstens das Zeug dabei?“
„Klar.“
Grinsend packte er die Zigaretten und die Flasche Bier aus.
„Hab’ ich bei meinem Alten mitgehen lassen.“
Er lachte und die anderen beiden stimmten nach einem kurzen Blick in die Richtung des schaukelnden Mädchens mit ein.
„Okay, aber nie wieder. Klar? Kleine Geschwister haben hier nichts zu suchen!“
Hannes nickte grinsend.
„Geht in Ordnung. Hat jemand Feuer?“
Grölendes Lachen stieg in den Himmel und keiner der Drei bemerkte das kleine Mädchen, das seine Schaukel verlassen hatte und auf die Straße zusteuerte.

„Hey. Wir haben kein Bier mehr.“
Er stand in der Tür, breit grinsend. Seine Halbglatze glänzte und er widerte sie an.
„Na und? Hol dir doch neues.“
„Ich bin betrunken.“
„Was du nicht sagst.“
„Willst du dich über mich lustig machen?“
Er kam näher.
„Es ist erst zwei Uhr mittags“, bemerkte sie trocken.
„Da schon betrunken zu sein, ist eine reife Leistung.“
Sie wusste, dass sie zu weit gegangen war. Er war nicht gewalttätig, eigentlich nicht.
Nein. Der Alkohol machte ihn zu einem Monster, das er nicht war.
Ihr Kopf wurde in Richtung Spülmaschine geschleudert und sie konnte sich gerade so auf den Beinen halten.
Sie zitterte.
„Mach dich nicht über mich lustig.“

Lene stand in ihrer Küche und schaute aus dem Fenster.
Es war eigentlich gut gelaufen. Er hatte es relativ gut aufgenommen.
Natürlich wusste er nicht die wirklichen Gründe.
Sie hatte ihm eine hübsche kleine Geschichte aufgetischt mit Gefühlen, die einmal da gewesen waren und jetzt nicht mehr. Dass sie selbst traurig darüber wäre, dass sie sich freuen würde ihn als Freund zu behalten. Platonische Beziehung, versteht sich.
Dann war sie gegangen, hatte ihn dort alleine gelassen und es würde sie nicht wundern, wenn er jetzt noch dort säße.
Sie hätte ihm gerne etwas über ihren Schwur erzählt. Über sie.
Doch wer einmal mit den Unwahrheiten angefangen hat, kann nicht plötzlich dazu übergehen, jedem die Wahrheiten zu erzählen.
Dabei fraßen sie sie innerlich auf, die Unwahrheiten.
Sie konnte es nicht mehr für sich behalten, konnte sich selbst nicht mehr belügen.
Sie hatte sich geschworen, es niemandem je zu erzählen, niemanden an sich heran zu lassen.
Seufzend setzte sie sich und fragte sich, wann es endlich Vergangenheit werden würde.
Denn irgendwann würde es Vergangenheit sein, da war sie sich sicher.
Und irgendwann würde Lene es vergessen können. Auch da war sie sich sicher.

Wie wild strampelte Hannes auf seinem Fahrrad, vorbei an Autos und Lastwagen, vorbei an Menschen und Tieren.
Sein Herz klopfte wie wild und seine Augen tränten vom Wind. Und auch ein bisschen von dem Gedanke, dass seiner Schwester etwas passiert sein konnte.
Sie hatten es gerade erst bemerkt, gerade erst. Und keiner von ihnen hatte eine Ahnung gehabt, seit wann sie schon weg war.
„Scheiße, scheiße, scheiße!“, rief er und bewegte die Räder seines Fahrrads noch schneller.

Die Musik dröhnte aus seinem Discman, doch er achtete gar nicht darauf.
Er verstand es nicht. Sie hatte Schluss gemacht. Sie hatte wirklich Schluss gemacht.
Fassungslos schüttelte er den Kopf.
Angeblich weil ihre Gefühle für ihn nicht mehr da waren.
Doch das nahm er ihr nicht ab. Nicht wirklich.
Sie musste andere Gründe haben.
Vielleicht hatte sie ja auch nur Angst. Angst vor dem nächsten Schritt in ihrer Beziehung.
Etwas hoffnungsvoller überlegte er sich, wie er sie davon überzeugen könnte, wieder mit ihm zusammen zukommen.
Und er entschied, dass er die CD aus dem Discman seinem Bruder Hannes am nächsten Wochenende schenken würde. Sie gefiel ihm nicht.

Seine Beine waren schon taub vor Kälte doch er konnte nicht anhalten. Noch nicht.
Plötzlich stoppte Hannes abrupt.
„Haaaaaaaannes! Guck mal, hier kannst du Eis kaufen.“
Erschrocken drehte er sich um und sah sie, seine kleine Schwester auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Er lachte erleichtert auf und winkte ihr zu.
„Bleib wo du bist, ich komme. Großes Simba-Ehrenwort.“
Ohne zu bemerken, dass ein Auto von links kam, fuhr er mit dem Fahrrad über die Straße.

Sie zittert immer noch etwas.
Er lächelt höhnisch. Schweigend setzt sie heißes Wasser auf und nimmt sich eine Teetasse aus dem Schrank.
„Und jetzt hol mir ein Bier, sonst schlag ich dich grün und blau.“
Er lacht.
„Du weißt, dass ich es könnte.“
Ihre Teetasse gleitet zu Boden und zerspringt mit einem lauten Klirren.
Sie wird sich scheiden lassen. Das weiß sie jetzt genau.
Er schüttelt spöttisch den Kopf.
Es ist 14:23 Uhr.

Lene sitzt noch immer in ihrer Küche, einen Kaffeebecher in der Hand, als plötzlich das Telefon klingelt.
„Spreche ich mit Lene Thomas?“
Die Stimme am Telefon klingt sachlich und neutral.
„Ja, das tun Sie. Warum?“
„Ich wollte Sie nur informieren, dass ihr Gerichtstermin verschoben wurde. Drei Monate früher als geplant wird er nun stattfinden. Sie werden demnächst ein Schreiben erhalten, indem steht, wo Sie sich einzufinden haben, was Sie mitbringen sollen und so weiter. Sie kennen das ja. Wenn es ein Problem gibt, wenden Sie sich bitte an ihren Anwalt, dieser wird dann alles Weitere mit dem Staatsanwalt klären.
Einen schönen Tag noch, Frau Thomas.“
Unweigerlich fängt Lene an zu zittern.
„Ja, ja... Ihnen auch. Danke.“
Geschockt lässt sie den Hörer fallen und schlägt die Arme über dem Kopf zusammen.
Drei Monate früher. Sie ist doch noch gar nicht darauf vorbereitet. Sie könnte vielleicht drei Monate früher ins Gefängnis kommen.
„Ich halte das doch gar nicht aus.“
Das kann doch nicht sein. Nicht so früh.
Lene weiß selbst nicht, warum die Tatsache, dass sie möglicherweise schon früher mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt würde, sie gerade jetzt so schockt, wo sie es doch schon seit Jahren wusste.
Die Vergangenheit als Diebin holt sie auf einmal wieder ein.
Es ist 14:23 Uhr.

Hannes sieht das Auto sofort. Er sieht sofort, dass er nicht das klitzekleine Bisschen einer Chance hat. Das Auto wird ihn erfassen, das weiß er.
Und dennoch klammert er sich für den Bruchteil einer Sekunde an den Gedanken, dass alles gut wird. Er sieht seine Schwester, seine Schwester in Sicherheit.
Und er hört das Quietschen von Rädern auf dem Asphalt, hört den Aufprall und erst Sekunden später beginnt er ihn auch zu spüren. Er wirbelt in der Luft herum und mit einem Schrei schlägt er auf dem Auto auf. Dann wird alles schwarz.
Es ist 14:23 Uhr.

Kaspar ist immer noch am Grübeln, wie er Lene wieder zu sich zurückholen kann. Wie er sie an sich fesseln wird.
Denn wenn jemand Schluss macht, dann wird er es sein. Er hat es zwar nicht vor, aber bis jetzt hat noch nie jemand mit ihm Schluss gemacht.
Doch plötzlich erinnert er sich an etwas.
Das Telefongespräch am Vormittag.
„An der Mauer beim Friedhof? Da brauchen wir beide nicht weit zu fahren, oder?
Gegen halb 12?“
„Geht klar, mein Schatz. Ich werde da sein.
Ich liebe dich. Machs gut.“
„Ja. Bis dann.“

Sie sagte nicht: Ich liebe dich auch.
Und mit einem Mal spürt er Tränen hinter seinen Augen.
Und die Welt zerbricht.
Es ist 14:23 Uhr.

Und genau in diesem Moment, um 14:23 Uhr, zerbrechen an verschiedenen Stellen der Stadt dieselben Illusionen.
Es wird alles gut werden.

 

Servus Fliegenbein,

der Anfang deiner Geschichte hat mich unweigerliche an "Die fabelhafte Welt der Amelie" denken lassen. Das Ende tat dem gleich - nur umgekehrt, sozusagen die Horroversion...
Kurzweilig, klar formuliert und gut durchkonstruiert ist die Geschichte zwar nicht allzu spannend (ich dachte mir schon, worauf das alles hinausläuft) aber dennoch schön zu lesen.

Es gibt ein paar holpernde Stellen sowohl vom Stil her als auch vom Inhalt (Du deutest zwar an, dass Lene "Geheimnisse" hat, aber die Sache mit den dem Gerichtstermin wirkt irgendwie ein bisschen hineingenagelt).

In Richtung der Wohnungstür wurde es dunkler, die Jacken rechts und die Schuhe von fünf Familienmitgliedern links neben dieser Tür nahmen dem kleinen Gang Freiraum und Helligkeit.
Sie fühlte sich beengt, eingedrückt, verlassen. Nicht nur wegen der Räumlichkeiten.
Hier würde ich den zweiten Absatz weglassen. Wie sich die Mutter fühlt, wird denke ich auch so deutlich.

Aber all das macht nichts, denn es gibt ein paar wirklich tolle Sachen:

Während sie redete, starrte er sie an. Sich bewusst, dass auf der einen Seite neben ihm die Toten waren, auf der anderen Seite die geschäftig herumeilenden Lebenden. Und als sie geendet hatte, wusste er nicht mehr auf welche Seite er gehörte.
oder natürlich
Und genau in diesem Moment, um 14:23 Uhr, zerbrechen an verschiedenen Stellen der Stadt dieselben Illusionen.
Es wird alles gut werden.
womit sich der Kreis, der am Anfang der Geschichte begonnen hat, wieder schließt.

Wäre es zu pathetisch, dennoch den Alternativtitel "14:23" vorzuschlagen?

Schöne Grüße,
Artnuwo

 

Lenes Charakter fiel mir schwer. Und ihre Geschichte.
Ich hatte geplant, sie nur ein wenig zu erwähnen und dann ist doch unweigerlich eine Protagonistin daraus geworden. Und ich hatte auch ein anderes Geheimnis für sie geplant, welches ich dann jedoch wieder geändert hatte, als die Geschichte fertig war.
Und auch dieses Geheimnis gefällt mir noch nicht. Ich glaube, ich arbeite noch mal daran.
Deinen Rat mit den Gefühlen der Mutter werde ich befolgen. Allerdings ändere ich den Satz einfach ein bisschen.
"Man fühlte sich beengt. Verlassen."
So in der Art, mal sehen. :)

Jedenfalls vielen Dank für das Lob und die Kritik.
Über den Titel mache ich mir nochmal Gedanken ;)

Achso, Amélie. Ja, ich weiss auch nicht. Es war nicht meine Absicht zu 'kopieren'. Es ist mir erst hinterher aufgefallen, als ich den Part schon geschrieben hatte und mir noch einmal den Film angeschaut habe. Hm.

 

Hi Fliegenbein,
es hat Spaß gemacht deine Geschichte zu lesen. Die verschiedenen Handlungsstränge in einer einzigen Geschichte unterzubringen, so dass es nicht störend wirkt, ist dir gut gelungen. Mein Lob! Übrigens finde ich, dass Lene ziemlich gut charakterisiert wurde und man merkt nicht, dass dir dies schwer gefallen ist. Dennoch hätte auch ich mir eine nähere Ausführung zu dieser Gerichtssache gewünscht. Aber nur eine kurze, sonst könnte es passieren, dass die story zu lang wird.
Dein Stil ist flüssig und ich habe soweit ich mich entsinnen kann keine holprige Stelle entdecken können.
Quasi bleibt unterm Strich ein einfaches und bestimmtes: Gut gemacht!

Grüße...
morti

 

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