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Ich weiß warum

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17.04.2011
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Ich weiß warum

Das Wasser scheint wärmer zu werden. „Sag mal, pinkelst du etwa ins Becken?“
Sven hängt neben mir am Beckenrand. Er nickt.
„Du Sau!“ Angewidert stoße ich mich vom Beckenrand ab. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, reicht mir das Wasser gerade bis zum Kinn. Aber jetzt schwimme ich lieber vor ihm her. Ich will kein Wasser in den Mund kriegen. Nicht jetzt. Igitt!
„Warum gehst du nicht aufs Klo, wie alle anderen auch?“
Sven guckt gelangweilt Richtung Liegewiese. „Ist dir aufgefallen, wie wenig Leute um diese Zeit noch hier sind? Wann wollte uns dein Vater abholen? In drei Stunden?“
„Es ist doch toll, so lange hier sein zu können. Aber nun sag, warum du nicht aufs Klo gehst.“
„Ich habe meine Gründe.“
„Was für Gründe sollen das denn sein?“ Ein Ball landet neben mir. Ich werfe ihn zurück. „Nur Babys pinkeln ins Wasser. Alle anderen gehen aufs Klo.“ Ich deute auf das Gebäude mit den Umkleideräumen.
Jetzt starrt er mich an. „Ich gehe da nicht alleine rein!“ Seine Hände klammern sich an den Beckenrand. „Auf keinen Fall!“ In seinen Augen sehe ich Angst.
„Was ist denn los?“ Ich hänge mich wieder neben ihn und schaue ihn an. Doch Sven dreht sich weg.
„Ich will nicht drüber reden. Okay?“ Er guckt ins Weite. Ich lege eine Hand auf seine Schulter, doch er wischt sie weg. „Lass mich einfach!“
So habe ich ihn noch nie erlebt.
„So spät sind die Toiletten wirklich unheimlich.“ Ich löse mich vom Rand und schwimme um ihn herum. „Ich bin da auch nicht gerne alleine. Weißt du was? Nachher gehen wir zusammen hin.“ Ich lege mich aufs Wasser. Mit den Füßen halte ich mich am Beckenrand fest. Ich kann mir sogar eine Hand in die Tasche meiner Schwimmshorts stecken, ohne unterzugehen.
„Ich bin doch kein Mädchen!“ Die Sonne lässt seinen Ohrring kurz aufblitzen. Er findet ihn cool. Zwei Mädchen paddeln auf einer Matte vorbei. Sven lächelt ihnen hinterher.
„Soll ich lieber allen erzählen, dass du ein Baby bist, das ins Becken pinkelt?“
„Das wagst du nicht!“ Mit Schwung stößt er sich vom Beckenrand ab. Er versucht auf den Zehenspitzen zu stehen, aber das Wasser reicht ihm bis zu den Augen. Stattdessen schwimmt er auf der Stelle.
Auf dem Rücken liegend blicke ich in den Himmel. „Dann hast du ja nichts zu fürchten.“ Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Du hast gewonnen.“ Ein Schwall Wasser klatscht mir ins Gesicht. Reflexartig hänge ich mich mit einer Hand an den Beckenrand und wische mir mit der anderen das Wasser aus den Augen. Sven ist verschwunden.

„Der Dreimeter-Turm ist wieder offen!“ Sofort klettert Sven aus dem Wasser und rennt hinüber.
„Warte auf mich!“ Erst an der Leiter hole ich ihn wieder ein. Vor uns stehen noch zwei andere.
„Traust du dich einen Kopfsprung?“, fragt Sven. Er hat schon beide Hände an der Leiter und zappelt mit den Fingern.
„Ich bin doch nicht irre! Wenn das schief geht, klatsche ich voll auf den Bauch.“ Ich schüttle den Kopf. „Mach‘ du doch einen.“
„Mach ich auch!“ Sven klettert nach oben und steht kurz darauf vorne an der Planke. Ich beobachte ihn gespannt. Er beugt sich vor, lässt sich fallen und taucht tatsächlich mit dem Kopf zuerst ein. Wahnsinn! Jetzt bin ich dran, aber ich springe mit den Füßen zuerst. Wie immer. Sven wartet am Beckenrand auf mich.
„Du traust dich was!“ Ich hänge mich neben ihn.
„Tja, irgendwie muss man die Mädels ja beeindrucken.“ Dabei haben wir noch ein paar Jahre Zeit.
„Stimmt. Jetzt musst du nur noch lernen aufs Klo zu gehen und sie fallen dir um den Hals.“ So breit habe ich noch nie gegrinst.
„Halt die Klappe!“, zischt er mich an und taucht ab.

„Ich kann nicht, wenn jemand zusieht.“ Wir stehen nebeneinander am Urinal. Bei mir plätschert es. Mein Blick fixiert eine zerbrochene Fliese an der Wand.
„Ich gucke doch gar nicht!“ Das Plätschern wird schwächer. „Außerdem sehe ich genauso aus, wie du.“ Ich schüttele den letzten Tropfen ab. „Geh‘ mir schon mal die Hände waschen. Du kannst ja nachkommen.“ Mit dem Fuß stoße ich die Tür zum Waschraum auf.
„Nein! Lass mich hier nicht alleine!“ Ich drehe mich sofort um. Da war Panik ist in seiner Stimme. Eindeutig.
„Ganz ruhig! Ich bleibe hier.“ Er zittert stark. Die Tür fällt wieder zu. „Aber du hast doch gesagt, du kannst nicht, wenn jemand guckt.“
„Dreh dich um. Aber geh bloß nicht weg! Bitte!“ Ich muss schlucken. Solch eine Angst habe ich noch nie bei ihm erlebt.
Mit dem Rücken stehe ich zu ihm. Nervös kreuzt mein Blick den Raum. Die Fenster sind nie geputzt worden und von den zwei Neonröhren leuchtet nur die Vordere. Der hintere Teil des Raumes versinkt im Dämmerlicht. Ein paar Fliesen fehlen an der Rückwand. Der Geruch nach altem Urin scheint von dort hinten zu kommen. Aber der Boden ist so nass, dass ich nicht sehen kann, ob vielleicht ein paar mehr Leute nicht getroffen haben. Mich schaudert es bei dem Gedanken, in was für einer Pfütze ich hier stehen könnte.
„Ich bin fertig.“ Er huscht an mir vorbei. Als ich den Waschraum betrete, steht er schon am Waschbecken. Seine Hände zittern immer noch. „Lass uns hier bloß verschwinden.“ Als er sie abtrocknet, fällt ihm das Papiertuch aus der Hand. Er nimmt sich ein Neues. Im Neonlicht sieht sein Gesicht kalkweiß aus.
„Was macht dir denn so eine Angst?“ Ich wasche mir die Hände. Ganz gründlich. Die Seife ist fast leer. Warmwasser hat es hier nicht gegeben, seit ich schwimmen kann.
„Ich will nicht drüber reden. Keine Chance!“ Er stößt die Tür auf und rennt raus. „Wer als Erster im Wasser ist!“
Die Tür fällt zu und ich stehe alleine mitten im Waschraum. In einer Hand habe ich noch das zusammengeknüllte Papierhandtuch. Ich werfe es in den Papierkorb. Er ist so voll, dass es gleich wieder herausfällt. Auf dem Boden liegen noch mehr benutzte Handtücher. Ich hebe meines auf und stopfe es hinein. Das gleiche mache ich mit dem Handtuch, das Sven fallen gelassen hat.

Heute bin ich alleine im Freibad. Am Telefon hatte Sven behauptet, er hätte sich gestern erkältet. Gestern Morgen habe ich auch schon seine Begeisterung vermisst. Wir konnten jetzt ein paar Wochen nicht zusammen ins Freibad, weil ich mit meinen Eltern verreist war. Davor wollte er immer bei mir mitfahren, weil mein Vater erst so spät kommt. Aber gestern war er richtig erleichtert gewesen, als wir abgeholt wurden.
Irgendetwas muss hier doch passiert sein, während ich weg war. Vielleicht hat die Tür des Waschraums geklemmt und er war dort alleine eingesperrt und hat Panik gekriegt. Vielleicht ist er dabei ausgerutscht und hat eine Weile in einer Pippi-Pfütze gelegen, bis jemand gekommen ist.
Die Cola von vorhin drückt in meiner Blase und ich gehe los.

Ich muss wieder an Sven denken. Eine Spülung rauscht. Mit einem Klacken wird hinter mir eine Tür geöffnet. Ich schüttele den letzten Tropfen ab. Jemand nähert sich.
Eine Hand legt sich von hinten über meinen Mund und dämpft meinen Aufschrei. Ich will um mich schlagen. Aber meine Arme werden mit Kraft auf meinen Rücken gebogen. Ich wimmere vor Schmerz.
„Keinen Mucks!“ Die Hand auf meinem Mund lässt mich kaum Luft kriegen. Hektisch atme ich durch die Nase.
Ich trete nach hinten, aber ich treffe nichts. Stattdessen verliere ich auf dem nassen Boden das Gleichgewicht. Ich gehe in die Knie. Sie sind zu zweit und ziehen mich wieder hoch. Ich winde mich wie ein Aal, aber sie halten mich fest. Tränen schießen mir in die Augen.
Immer wieder versuche ich, mich gegen die beiden zu stemmen. Ich rutsche jedes Mal weg. Der Boden ist einfach zu glatt. Sie schieben mich mühelos ans hintere Ende des Raumes. Verschwommen sehe ich eine Tür vor mir. Einer lässt mich los, geht vor und öffnet sie. Das ist meine Chance. Sofort lasse ich mich auf die Knie sinken. Ich muss mich irgendwie drehen. Dann kann ich ihn vielleicht zwischen den Beinen treffen und hier weg. Ich will nur weg hier!
Aber er hält meine Arme wie in einem Schraubstock. Schmerz bohrt sich in meine Schultern. Ich kann mich nicht mal drehen. Ein Finger schiebt sich zwischen meine Zähne und ich beiße drauf.
„Lass den Scheiß!“ Er lässt einfach nicht los. Meine Hilferufe kann ich selbst kaum hören. Warum kommt denn bloß niemand hier rein?
Auf den Knien schleift er mich durch die Tür. Ich schaffe es, zur Seite zu treten. Ein Eimer mit Putzzeug fällt scheppernd um. Aber er zieht mich rückwärts immer weiter in die Kammer hinein. Ich kann sehen, wie die Tür ins Schloss fällt. Die gedämpften Geräusche des Freibads verstummen augenblicklich.

Heute bin ich wieder ohne Sven hier. Ich hänge am Beckenrand und höre zu, wie das Wasser gleichmäßig in die Ablaufrinne platscht.
Es sind jetzt schon deutlich weniger Leute hier, als heute Mittag. Aber ich muss noch drei Stunden warten, bis mich mein Vater wieder abholt. „Als ich in deinem Alter war, war ich in den Ferien jeden Tag in diesem Freibad, bis sie zu gemacht haben. Das war schön.“ Das sagt er jedes Mal, wenn er mich hier absetzt.
Immer wieder wandert mein Blick zu den Toiletten. Ein kleiner Junge geht hinein. Er ist gerade mal halb so alt wie ich. Einen Moment später kommt er wieder heraus und rennt über die Liegewiese. An meinen Beinen wird das Wasser wärmer.

 

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