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Ich sehe Dich

Seniors
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23.08.2001
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Ich sehe Dich

Ich sehe Dich, wie Du lachend durch eine Wiese rennst, ich sehe Dich, wie Du Dir Blumen ins Haar steckst, wie Du schaukelnd in die Höhe saust – Dein Rock flattert hinter Dir her – so glücklich, so glücklich.
Ich sehe Dich, wie du vor Freude die Sonne trinkst und versuchst, die Wölkchen zu fangen und Dich vor Lachen auf der Wiese kugelst – und Du bist das glücklichste Kind der Welt.
Ich sehe Dich, übermütig durch die Wälder tollend, wie Du mit blitzenden Augen auf Bäume kletterst und von Stein zu Stein springend den Bach überquerst – trunken vor Freude.
Ich sehe Dich älter werden, wie Du wächst und lernst und die Welt um Dich herum entdeckst und ich spüre Dein Staunen, Deine Neugier, Dein Immer-hinter-die-Dinge-sehen-wollen – und hinter allen Dingen unbändige Freude.
Ich spüre Deine Lust am Leben, Dein Nie-genug-bekommen, Deinen eisernen Willen nach mehr.
Ich sehe Dich mit Deinen Freunden spielen und spüre, wie von Dir Magisches ausgeht – kein Streit, keine Unstimmigkeiten: friedliches Kinderspiel, und doch ungewöhnlich – so intensiv, so kostbar.
Ich bin wie verzaubert, jeden Tag neu, ich nehme Dich als Geschenk des Himmels und aus dem Wissen heraus, Dich nicht verdient zu haben, sehe ich Dich jeden Tag neu mit der staunenden Liebe der Ungläubigen und fühle die Kraft, die in Dir steckt.
Ich sehe, wie Dein Leben auch meines verändert, denn Deine unbändige Freude ist ansteckend – als sei sie eine heilende Infektion.
Ich höre und sehe Freunde und Fremde über Dich staunen und spüre Stolz in mir, unberechtigten, denn Du bist nicht mein Werk. Ich höre die Lehrer Dich loben und von allen nur Gutes und denke, Du wirst immer der glücklichste Mensch dieser Welt bleiben.
Ich sehe den LKW, der auf dich zurollt und kann es nicht fassen – unsere Schreie vermischen sich zu einem einzigen. Der Deinige endet, der meinige nie.


(Sommer oder Herbst 1994)

 

hi!
beindruckend!
zwei Dinge: 1. ich habe mit einem anderen Ende gerechnet, vielleicht aber auch deshalb, weil ich selbst zur Zeit sehr düster denke und schreibe.
2. ich muß an der Sprache Kritik üben - auch, wenn das vor mir monatelang keiner getan hat.

zum ersten Punkt: alle sagen "vorhersehbar". Gut, ich habe auch damit gerechnet, daß sich das Ende auf den Tod des Kindes bezieht. Nurbin ich davon ausgegangen, daß es eine Krankheit oder Behinderung hat, die zu einem unabwendbaren, frühen Tod führen wird. Daß also die Mutter (?) die beobachtet, dabei die ganze zeit schon weiß, daß ihr Kind mit Sicherheit sterben wird... daß sie also das Bewußtsein für die Kostbarkeit der Zeit viel stärker hat und daher dann der "Weichzeichner" ( gut gewählter Begriff )

zum zweiten Punkt: ich finde Deine Ausdrucksweise sehr schön. Sie unterscheidet sich auch vom Üblichen. Nur stört mich in diesem Text irgendwie der Textfluß. Genau beschreiben kann ich das jetzt nicht ( wenn Du magst, kann ichDir ja ein paar Stellen raussuchen )... aber an manchen Stellen war der Leserythmus unterbrochen oder so...
ja, ich weiß, das ist eine KG und kein Gedicht. Also gibt es auch kein "Versmaß". Aber ich finde immer, daß es eine parallele Struktur auch bei anderen ( Prosa-, nicht unbedingt Sach-)Texten geben sollte. Brüche sind da definitv erlaubt und auch erwünscht, wenn sie etwas bewirken.
Ich denke, Du könntest Deinen Leser noch um einiges stärker einlullen, im ersten Teil, wenn Du den Fluß harmonischer gestalten würdest.

So, jetzt aber: verdammt starkes Bild, das dieser Text hinterläßt! Sehr schön! ein Apell daran, daß man Lebenszeit nicht erwarten kann, sondern genießen muß!

Lieben Gruß,
Frauke

 

Hi chaosqueen,

du machst deinem Namen alle Ehre:
du bist die Königin im Erzeugen von (Gefühls-)chaos!

Einfach super!

Gruß vom querkopp

 

@arc en ciel:
Jetzt schaue ich mir den Text nach sieben Jahren plötzlich wieder mit ganz anderen Augen an... Hm, ich bin bekannt für ungewöhnliche Sprachrhythmen, und hier habe ich es mehr oder weniger bewußt eingesetzt. Trotzdem hast Du recht: Manchmal ist der Fluß unterbrochen. Erstaunlich. Vielleicht ist es mir nie so aufgefallen, weil ich als Autor genau weiß, wie ich was wann betone, so daß der Lesefluß dann anders wirkt. *grübel*
Danke für den "Augenöffner"!

@querkopp:
Hehe, ich stifte doch gerne Chaos! Und Gefühlschaos erst recht! ;) Aber mal ernst: Wenn der Text bei Dir für Gefühlschaos sorgt, heißt das, daß er Dich berührt, und so soll es ja schließlich sein. Danke!

Liebe Grüße,

chaosqueen :queen:

 

der anfang ist eher ein gedicht. ist das typische "ich sehe mein kind aufwachsen." kommt trotzdem immer wieder schön. das ende finde ich sehr gut mit dem niemals endenden schrei und so.
schön!

 

hey, Queen!
ich denke, beim Schreiben und eine Weile danach ist ein Autor immer blind für solche Sachen, da muß man sich selbst schon zwingen, um es zu sehen. Gegen den bewußten Einsatz solcher Mittel will ich gar nichts sagen. Das ist ein herrliches Mittel, um den Leser unterbewußt zu "manipulieren", weil es ein Stilmittel ist, das anders als Wiederholungen, Auslassungen, parallele Strukturen, Kurzsilbigkeit oder Langamtigkeit... so unterschwellig läuf... :D

Lieben Gruß,
Frauke

 

@instin[c)t:
Ohne das ende wäre der Text langweilig, denke ich. Oder zumindest kitschig. Das wollte ich natürlich nicht - freut mich, daß es Dir gefällt, so wie es ist!

@arc:
So lange, wie ich an meinen Texten (normalerweise) feile, darf man das ruhig als gewolltes Stilmittel ansehen - vor allem bei diesem Text, da er damals Wettbewerbsbeitrag beim schulinternen Schreibwettbewerb war!
Lieben Gruß,

chaosqueen :queen:

 

einen Wettbewerb ind er Schule?
das hätte ich auch gern gehabt!
Als Stilmittel beherrscht Du das, soweit ich bis jetzt mit Deinen Texten gekommen bin, auch! gar keine Frage.
und wenn ich mal nicht sicher bin, wie es gemeint ist, dann frage ich halt... dann kannst Du Dir aussuchen, ob es nettes Lob für Erfolg ist, oder eine bedenkenswerte oder wegwurfwürdige Kritik... :D

Ach ja: welchen Platz hat der Text belegt?

Lieben Gruß,
Frauke

 

Na, jede Kritik hat ihre Berechtigung, sofern sie sich mit dem Text beschäftigt und nicht nur ein Angriff auf den Autor darstellt. Aber sowas macht ihr ja zum Glück nicht! :)

Ähm... welchen Platz? Naja, den ersten. In der Oberstufengruppe (war damals in der 11.). Von immerhin sechs Einsendungen - hatte also nicht allzu viel Konkurrenz. ;)

Liebe Grüße,

chaosqueen :queen:

 

Verwunderung spricht nicht gerade aus meinen Blicken! naja, wie VIEL Konkurrenz ist nicht so wichtig, wie die Frage der Qualität. ;)

Frauke

 

Hallo Chaosqueen,

zu der Geschichte (oder Gedicht oder "was auch immer") ist eigentlich alles schon gesagt worden.

Was mich wirklich beeindruckt hat, sind die letzten zwei Sätze. Ohne sie wäre es ein zwar wohlfeil formulierter, stellenweise sogar wunderschön melodisch fließender Text, den ich aber sicher innerhalb kürzester Zeit vollständig vergessen hätte, wenn nicht... ja, wenn nicht diese letzten zwei Sätze gewesen wären.

Das sind - im Kontext der ganzen "Geschichte" - die mit Abstand besten Sätze, die ich hier gelesen habe. Die haben mich wirklich tief berührt... und diese Empfindung habe ich nur selten beim Lesen einer Geschichte.

Herzlichen Dank dafür, diese Geschichte werde ich so schnell nicht vergessen.

Liebe Grüße,
Somebody

 

Hej Somebody!

Meinem Adlerauge entgehen in letzter Zeit immer wieder neue Kritiken zu meinen Geschichten... Ich glaube, ich werde alt! *Brille putz*

Es freut mich, dass mein Text Dich berührt hat. Er ist durchaus so angelegt, und wenn der eine oder andere dann auch berührt ist, habe ich wohl ein bisschen richtig gemacht. :)
Danke!

Lieben Gruß

chaosqueen :queen:

 

Hi chaosqueen,

eine wunderbare Geschichte! Und für meine Gefühl eine echte Kurzgeschichte. Wieso fehlt die Handlung? Was soll denn noch mehr passieren?

Zunächst las ich das Ganze als Liebeserklärung einer glücklichen Mutter / eines Vaters an ihr / sein Kind. Ganz zu Anfang befürchtete ich noch ein schreckliches Ende, doch dann wollte ich zufrieden im Hier und Jetzt sein und alle Bedrohung vergessen. Deshalb überrollte der LKW auch mich!

Ganz wunderbar ist das Ende, diese letzten Sätze....:

"unsere Schreie vermischen sich zu einem einzigen. Der Deinige endet, der meinige nie."

Hier müßte allerdings einem Einzigen und der Meinige groß geschrieben werden, oder?

Besser als mit diesem letzten Satz kann man den immerwährenden Schmerz über den Verlust des Kindes nicht beschreiben, finde ich.

Du warst in der elften Klasse, als Du dies schriebst? Respekt!!!

Liebe Grüße
Barbara

 

Hej ihr zwei,

ich sollte mich nicht auf die Benachrichtigung per Mail verlassen... *schnief*

@Barbara: nein, "einzige" und "meinige" bleibt klein, es bezieht sich ja beides auf den Schrei. "Deinige" ist groß, weil der Text eine Art Brief darstellt, wenn auch nicht zwangsweise einen, der wirklich geschrieben wird.
Danke für Deinen "Respekt"! :)

@Bo: Kurz und knapp und trotzdem ein ziemliches Lob, Deine Kritik. Danke! :kuss:

Liebe Grüße

chaosqueen :queen:

 

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