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Ich sehe Dich
Ich sehe Dich, wie Du lachend durch eine Wiese rennst, ich sehe Dich, wie Du Dir Blumen ins Haar steckst, wie Du schaukelnd in die Höhe saust – Dein Rock flattert hinter Dir her – so glücklich, so glücklich.
Ich sehe Dich, wie du vor Freude die Sonne trinkst und versuchst, die Wölkchen zu fangen und Dich vor Lachen auf der Wiese kugelst – und Du bist das glücklichste Kind der Welt.
Ich sehe Dich, übermütig durch die Wälder tollend, wie Du mit blitzenden Augen auf Bäume kletterst und von Stein zu Stein springend den Bach überquerst – trunken vor Freude.
Ich sehe Dich älter werden, wie Du wächst und lernst und die Welt um Dich herum entdeckst und ich spüre Dein Staunen, Deine Neugier, Dein Immer-hinter-die-Dinge-sehen-wollen – und hinter allen Dingen unbändige Freude.
Ich spüre Deine Lust am Leben, Dein Nie-genug-bekommen, Deinen eisernen Willen nach mehr.
Ich sehe Dich mit Deinen Freunden spielen und spüre, wie von Dir Magisches ausgeht – kein Streit, keine Unstimmigkeiten: friedliches Kinderspiel, und doch ungewöhnlich – so intensiv, so kostbar.
Ich bin wie verzaubert, jeden Tag neu, ich nehme Dich als Geschenk des Himmels und aus dem Wissen heraus, Dich nicht verdient zu haben, sehe ich Dich jeden Tag neu mit der staunenden Liebe der Ungläubigen und fühle die Kraft, die in Dir steckt.
Ich sehe, wie Dein Leben auch meines verändert, denn Deine unbändige Freude ist ansteckend – als sei sie eine heilende Infektion.
Ich höre und sehe Freunde und Fremde über Dich staunen und spüre Stolz in mir, unberechtigten, denn Du bist nicht mein Werk. Ich höre die Lehrer Dich loben und von allen nur Gutes und denke, Du wirst immer der glücklichste Mensch dieser Welt bleiben.
Ich sehe den LKW, der auf dich zurollt und kann es nicht fassen – unsere Schreie vermischen sich zu einem einzigen. Der Deinige endet, der meinige nie.
(Sommer oder Herbst 1994)