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Ich komme klar
Ich hatte ihn über eine Tanzpartnerbörse kennengelernt, wo er als Erster auf mein Gesuch antwortete. Blind verabredeten wir uns zu Tango. Als ich drinnen wartete, schaute ein Traum von einem Mann durch die Scheibe und ich winkte ihm freundlich zu. Groß, muskulös, ein Hintern, wie eine griechische Statue, Haare wie aus der Anti-Schuppen-Werbung. Er kam herein.
"Du bist Lydia?"
"Und du bist Jonny?"
"Woher wusstest du, dass ich das bin?"
"Wusste ich nicht ..."
Er hatte mein Foto über Google gefunden. Ich sagte ihm, dass er Physik studierte, denn auch ich hatte nach ihm gegoogelt. Wir lachten darüber, während wir zusammentrugen, was wir über den anderen herausgefunden hatten.
Als der Tangolehrer sagte: "Ihr dürft zu euren Tanzpartnern", jubelte ich: "Juchhu!"
"Jetzt müsst ihr euch trennen."
Ich gab ein enttäuschtes "Ohhh" von mir.
Der Tangolehrer lachte: "Nur ganz kurz."
Wenn ein Partnerwechsel angekündigt wurde, ging Jonny einmal im Kreis um mich herum und tat, als wäre ich eine neue Partnerin.
Seit der Trennung kann ich nachts kaum schlafen. Ich muss an ihn denken, wie er mit sanfter Stimme sagt: "Aber Azizam, ich sage das doch nur für dich. Wenn du mit mir kommst, wirst du sehr unglücklich werden und dann wirst du mich unglücklich machen und wir werden beide zusammen miserabel sein. Ich mache das, damit du glücklich sein kannst."
Wir trafen uns jedes Wochenende, um die Figuren zu wiederholen, die wir am Donnerstag im Kurs gelernt hatten. Jonny erzählte mir vom Iran. Sie seien dort so misstrauisch gegenüber Fremden, dass Ausländer keinen Job bekämen. Auch er würde Schwierigkeiten haben, da er nach Deutschland gekommen war, aber sein Vater würde ihm mit guten Beziehungen helfen.
Ich fragte: "In welchem Land willst du später mal leben?" Ich stellte mir vor, wie es für mich dort wäre, Kopftuch zu tragen und zu Hause zu sitzen. Das wäre nichts für mich.
Doch er antwortete: "Das mache ich nicht von mir abhängig", also dachte ich nicht weiter daran und genoss es, endlich jemanden gefunden zu haben, der genauso viel Blödsinn im Kopf hatte wie ich.
Nach dem Tanzen schauten wir zusammen Videos zu wissenschaftlichen Themen.
"Darf ich einen Arm um dich legen?"
Ich bejahte.
"Darf ich dich küssen?"
Nach unserem ersten Kuss lachten wir darüber, und scherzten, ob wir nun bei jeder romantischen Situation einen Vertrag schließen wollten.
Als ich nach der Trennung die ersten Male im Keller weinte, sammelte sich etwas Feuchtigkeit, bald stieg das Wasser. Ich dachte, ich müsste so lange weinen, bis keine Tränen mehr in mir übrig wären, doch es kamen mehr und mehr. Als ich das nächste Mal in den Keller gehen wollte, waren die Wände zusammengebrochen und ein See hatte sich in der Höhle gebildet, der bis an die unterste Treppenstufe reichte.
Da wir beide Sternengucker waren, schlug ich vor, ins Planetarium zu gehen. Über uns leuchtete die Sternenkuppel, da legte er die Jacke über meinen Schoß. Seine Hand wanderte darunter, zog den Reißverschluss meiner Hose herab, öffnete den Knopf. Streichelte vom Bauchnabel abwärts. Die Finger fanden den rasierten Schamhügel, doch zogen sich zurück, als hätten sie nichts Interessantes gefunden, zogen Kreise über den Unterbauch, nur um bald zurückzukommen, um sich zu vergewissern. Nein, doch nicht. Mit jeder Erkundung wanderten sie einen Millimeter weiter, doch niemals weit genug. Die Leute um uns her verfolgten den Vortrag, von dem ich kein Wort mitbekam.
Der See im Keller wuchs und wuchs. Bald fand ich einen unterirdischen Ozean vor. In der riesigen Höhle konnte ich das Ende nicht mehr sehen, Tränen bis zum Horizont. Da kam mir der Gedanke, dass ich damit nicht mehr fertig wurde.
Gegen den Druck des Wassers schob ich die Tür zu und drückte sie ins Schloss. Ich wollte diesen Ozean nicht mehr sehen, den ich keine Chance hatte, loszuwerden. Doch nachts zog es mich hinunter und das Wasser tropfte durch die Ritzen, während ich mich gegen die Tür stemmte.
Eines Tages entschied er: "Ich gehe in den Iran zurück" und fragte: "Kommst du mit mir?"
"Ja, ich komme mit dir", sage ich im Reflex.
"Was würdest du machen, wenn wir uns trennen?"
In meinen Gedanken drehte er sich um, verschwand in der Dunkelheit, kehrte niemals zurück. Das Bild, wie er mich verließ, drängte sich mir auf. Wenn ich meine Zukunft vor mir sah, in zehn Jahren, zwanzig, dreißig, würde er immer noch fort sein, all die Zeit ohne ihn, dann fing ich an zu weinen.
Er lachte wohlwollend. "Aber Ghorbunet, warum weinst du denn? Wir sind doch noch zusammen!"
"Ich kann den Gedanken, dich zu verlieren, nicht ertragen", schluchzte ich. "Und ich will auch nicht darüber reden."
Er lachte freundlich, diplomatisch, um mich zu beruhigen. "Antworte doch einfach, dann frage ich nicht mehr, versprochen."
Ich spürte in mich hinein nach der Antwort: "Ich würde eine zeitlang traurig sein, aber irgendwann komme ich damit klar."
Die Bretter sehen zu schwach aus, um dem Druck des Wassers lange standzuhalten. Tropfen sickern durch die feuchten Wände. Ich weiß nicht, was ich machen soll und stemme ein paar Bretter zwischen Tür und Treppe, um das Holz zu stabilisieren.
Eines Abends saß er vor dem Computer, zupfte an der Unterlippe, als er Artikel darüber las, wie Männer im Iran Frauen vergewaltigten. Er murmelte vor sich hin: "Fünfzehn auf eine Frau, zwanzig auf eine Frau, eine Vierzehnjährige, eine Zwölfjährige. Das sind keine Menschen, das sind Tiere!" Dann hörte ich Schreie aus einem Video von Liveleak, sah rhythmische Bewegungen von menschlichen Umrissen. Er drehte sich zu mir um. "Ghorbunet, ich will nicht, dass das mit dir passiert. Deswegen muss ich mich von dir trennen."
Ich schrie: "Nein!", als könnte das das Schreckensszenario davon abhalten, Wirklichkeit zu werden. Er setzte sich freundlich lächelnd zu mir, die Freundlichkeit, die er immer aus diplomatischen Gründen aufsetzte, und zeigte zum Computer. "Du weißt überhaupt nichts von dem Land. Da gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, da fährt man bei anderen Leuten mit, aber man muss aufpassen, bei wem man einsteigt. Du hast keine Ahnung, kennst dich dort nicht aus und kannst nicht auf dich aufpassen."
In mir kreisten die Argumente. Ich kann das alles lernen. Wir können zusammenbleiben und du besuchst mich jeden Sommer. Lass uns noch eine Weile zusammenbleiben, wenigstens bis Ostern. Doch er sagte, er hätte schon seit Monaten darüber nachgedacht und es war die beste Entscheidung. Je früher, desto besser. Es würde nur schlimmer werden, je weiter er es hinauszögerte.
"Aber ...", erhob ich schluchzend Einspruch, "warum wolltest du dann eine deutsche Freundin haben?"
Er antwortete traurig: "Es tut mir leid, Azizam. Ich habe nicht nachgedacht."
Es ist so ungerecht, dass ich nicht mit ihm zusammen sein kann, weil irgendwelche Leute in seiner Heimat irgendeinen Scheiß machen.
Mit einem Tuch will ich den Teich vor der Kellertür aufwischen, doch es erscheint aussichtslos. Die Bretter beulen sich durch, die Nägel hängen straff an der letzten Faser.
Genug geweint. Am nächsten Tag rufe ich ein Bauunternehmen an, damit die Leute den Keller mit Beton ausgießen, zumindest die Treppe bis zur Tür. Ich packe alle Sachen, die mich an ihn erinnern, in einen Karton: die Hülle unseres ersten Kondoms, das Türschild mit unseren Namen und den Namen unserer Kinder drauf, die niemals existieren werden, den Zettel, auf dem er mir die persischen Schriftzeichen vorgeschrieben hat, die Tasche mit Rollen, damit ich nicht im Alter wie seine Mutter, die ihr Leben lang schwere Sachen geschleppt hat, die Knie kaputt habe ... den Karton werfe ich die Treppe hinunter, bevor diese zugeschüttet wird.
Die Tränen sind versiegt. Nun kann ich nachts wenigstens schlafen, doch die Welt erscheint mir grau und leer, einsam. Heute stehe ich auf der Betonplatte, es ist still und trocken. Das Leben geht weiter. Ich habe ihm versprochen, dass ich ohne ihn glücklich werde. Irgendwo da unten lauert der Ozean der Traurigkeit, doch ich bemerke ihn nicht.