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- 20.08.2019
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Ich hab's nicht kommen sehen
Ich ziehe die Küchenschürze aus, lege sie zusammen und verstaue sie im Schränkchen unter der Spüle. Die Lasagne für Alexander steht im Ofen, der Salat im Kühlschrank. Der Duft von Rosmarin, Oregano und Basilikum umhüllt mich. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, gieße Weißwein ins Glas, trinke einen Schluck und reiße das Fenster auf. Der Wind kühlt meine Wangen, lindert die innere Hitze. Ich starre hinab in die Tiefe, fünf Stockwerke, ich hab schon mal überlegt, zu springen. Es ist zweiundzwanzig Uhr dreißig. Wenn ich Glück hab, übernachtet Alex heute Nacht bei einem Kumpel. Hastig prüfe ich die Geschirrtücher, alle akkurat gefaltet. Nirgends Staubflusen, keine Fettflecken auf dem Herd. Alles blitzt und blinkt.
Ich gehe unter die Dusche, rasiere mich akribisch. Alexander hasst Körperbehaarung. Das Wasser prasselt auf meinen Rücken, Dampf erfüllt das Badezimmer. Ich drehe den Hahn zu, wickle mich in den Bademantel, lehne den Kopf gegen die gekachelte Wand, warte, bis der Schwindel sich legt. Über das Waschbecken gebeugt, spritze ich mir Wasser ins Gesicht, hab immer noch das Gefühl, förmlich zu glühen. Ich wische den Spiegel sauber. Eine bleiche, verängstigte Frau starrt mir entgegen. Sorgenfalten auf der Stirn, feine Krähenfüße um die Augen, dunkle Schatten darunter. Die Schwellung an der rechten Wange klingt langsam ab.
Ein Seufzer, ich mache weiter mit meiner Routine, greife nach der Schminktasche. Eine halbe Stunde später sitzt das Make-up perfekt. Ein paar Spritzer Parfum. Lancôme Hypnose. Er hat es mir zu Weihnachten geschenkt, weil er den Duft mag. Ich nehme die Bürste von der Ablage, kämme mechanisch mein Haar, während mein Blick zur Uhr huscht, die auf der Waschmaschine steht. Viertel nach eins. Falls er heimkommt, wird er nicht mehr nüchtern sein. Ein leises Stöhnen. Bin ich das? Ich kralle meine Nägel in die Oberarme. Mein Magen fühlt sich an wie ein Klumpen, die Muskeln sind verspannt, die Knie zittern. Bitte, lass ihn wegbleiben, flüstere ich, während ich auf die Waage steige. Nur noch knapp fünfundvierzig Kilo. Bin ein Knochengerüst, hab einfach keinen Appetit mehr.
Ich gehe ins Schlafzimmer, setze mich aufs Bett, öffne die Nachttischschublade, ziehe den kleinen Stoffengel heraus. Das Einzige, was mir von meiner Mutter geblieben ist. Behutsam streiche ich über die goldenen Flügel. Hätte ich doch selbst welche. Einfach fortfliegen, in ein anderes Leben, eine andere Realität. Ach Mama, wenn du mich sehen könntest. Du wolltest immer nur, dass ich glücklich bin. Ich halte den Engel fest, betrachte das Hochzeitsfoto an der Wand.
Plötzlich befinde ich mich wieder mit Alexander in der italienischen Trattoria Milano. Wir sitzen uns gegenüber an dem runden Tisch, feiern meinen Abschluss zur Erzieherin. Ich erinnere mich an jenen lauen Sommerabend, an die Wärme, die der Pizzaofen verströmt, den Duft nach Tomaten, Käse und Wein, an die Klänge von Eros Ramazotti, die den Raum erfüllen, an Alexanders Lachen, die Grübchen in seinen Wangen. Wie er mir schelmisch zuzwinkert, seine Hand über den Tisch zu meiner schiebt, mit meinen Fingern spielt. Dieser durch und durch goldene Mann. Dichtes, dunkelblondes Haar, der Teint, der immer leicht gebräunt aussieht, die Augen, deren Farbe an Eistee erinnern. Die Strähnen, die ihm in die Stirn fallen, die langen Wimpern, die weiche Haut, der Duft seines Aftershaves. Ich sehe mich selbst, wie ich dasitze, wie ich einen Schluck von dem Rotwein nehme, den er ausgewählt hat. Warm und weich und schwer. Honig und Sommerbeeren. Er erfüllt meinen Körper mit einem Prickeln, macht mich übermütig. Ich lege den Kopf schief, genieße seine Aufmerksamkeit, die Komplimente. Alex ist der erste Mann, der ernsthaft an mir interessiert ist. Er begleitet mich bis zur Haustür, gibt mir einen zarten Abschiedskuss auf die Stirn. „Schlaf gut, Denise. Bis morgen achtzehn Uhr. Soll ich dich abholen?“
Ein Nicken, eine Umarmung, dann ist er weg.
Ein paar Monate später: intensive Küsse, Streicheleinheiten, Zärtlichkeit. Schmetterlinge im Bauch. Alexander geht behutsam vor, bedrängt mich nicht, lässt mir Zeit, Vertrauen zu fassen. Er weiß, dass ich noch Jungfrau bin, macht mir keinen Druck. Schritt für Schritt bauen wir Nähe auf. Ich denke an das Glücksgefühl, als ich ihn das erste Mal in mir spüre. Unsere Körper, wie füreinander gemacht, Haut an Haut, die Berührungen. Die erste Nacht werde ich nie vergessen. Wie ich auf seinen Atem lausche. Ein, aus. Ein, aus. Regelmäßig, langsam, friedlich. Wie ich mich an ihn kuschle, die Augen schließe, seinen Geruch nach Sandelholz, Wind und Regen einatme. Ich bin angekommen.
Die Bilder verblassen, ich sitze wieder im Schlafzimmer, starre noch immer auf das Hochzeitsfoto. Der Traum aus weißer Seide, die wallende Schleppe, Blumen im Haar. Alexander im schwarzen Smoking und weinroter Fliege. Ich sehe ihn vor mir, wie er mir den Ring an den Finger steckt, mir sagt, wie sehr er mich liebt. In guten, wie in schlechten Zeiten. Meine beste Freundin und Trauzeugin, Anna, wie sie mich umarmt, mir ins Ohr flüstert. „Ich freu mich so für euch, Liebes. Ihr seid ein tolles Paar. Ich wünsch euch alles Glück der Welt.“
Was ist nur passiert?, denke ich. Das Foto hat keine Antwort. Ich wende meinen Blick ab, lehne mich zurück. Der Regen prasselt gegen die Scheiben. Viertel vor Zwei. Die Nacht liegt auf mir wie eine alles erstickende Decke. Ich kriege kaum Luft. So oft hab ich mir vorgenommen, diese Ehe zu beenden. Ich bin ein Feigling. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich schiebe den Engel zurück in die Schublade, schließe sie, bevor ich den Bademantel zu Boden gleiten lasse und das schwarze Spitzennachthemd aus dem Schrank nehme, das er so gerne an mir sieht. Es stört ihn nicht, dass es die blauen Flecke nicht verdeckt. Ich betrachte sie, als würden sie nicht zu mir gehören. Noch immer spüre ich Alexanders Fäuste auf mir, seine Stimme dröhnt in meinem Ohr: „Warum hast du meine Hemden nicht aus der Reinigung geholt?“ Sein Keuchen, während er erneut ausholt. „Ich habe morgen ein wichtiges Meeting.“ Er trifft mich brutal in den Magen. „Es geht um meine Beförderung.“ Ein Schlag gegen das Schlüsselbein. „Was wird mein Chef wohl denken, wenn ich kein ordentliches Hemd trage?“ Er schlägt mich zu Boden.
Die Bilder in meinem Kopf wüten, während ich an die Anfänge der Gewalt denke. Ich fühle seinen Zeigefinger auf meiner Brust. Ein Rempler, aus Versehen. Die Entschuldigung: „Sorry! Kommt nicht wieder vor.“ Ich glaube ihm. Immer seltener Blumen, stattdessen Anweisungen: „Tu dies, tu das!“ Und wehe, ich mache einen Fehler. Der grobe Griff, wie er meine Arme umklammert, mich schüttelt, als wäre ich eine Stoffpuppe. Dann die erste Ohrfeige, die Hämatome, verzweifelte Tränen in der Einsamkeit des Badezimmers. Seine Beteuerungen, dass er es nie wieder tun wird. Wie er mich auf seinen Schoß zieht, zerknirscht: „Bitte entschuldige. Ich habe die Kontrolle verloren. Jedes Paar hat mal eine Krise, wir kriegen das hin. Es ist der Job, der Stress, der Druck. Das verstehst du doch, oder?“
Wie ich dastehe und nicke. Mich frage, was ich tun könnte, damit es ihm besser geht. Ich strenge mich an, koche seine Lieblingsgerichte, poliere seine Schuhe, bis sie glänzen. Er legt Wert auf gutes Schuhwerk.
Irgendwann die ersten richtigen Prügel. Seine Fäuste, die auf mich einprasseln, die Tritte in meine Seiten. Meine Erschütterung. Das kann nicht sein, denke ich. Das ist nicht Alex. Mein Alex. Warum tut er das? Wie ich dastehe, die Hand an die Wange gepresst. Sie brennt. Meine Augen fassungslos aufgerissen. Für einen Moment lang erstarrt die Welt um mich herum zu Eis. Wie er mich anschaut, den Kopf neigt. Ich löse mich aus dem paralysierten Zustand, weiche vor ihm zurück. Wie er die Hände hebt zum Zeichen der Kapitulation: „Das hätte ich nicht tun sollen, Denise. Ich weiß. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist. Habe mich mit meinem Vater gestritten. Das hat mich wohl mehr mitgenommen, als ich dachte.“ Er redet mit sanfter Stimme auf mich ein, versucht mich einzulullen. Wenig später steht er am Herd, kocht Pasta mit Pesto. Wir sitzen am Küchentisch. Zwanghafter Smalltalk. Ich überlege, wie ich darüber hinwegkommen soll. Die Schmetterlinge sind längst bleischwer geworden, sind kurz vor dem Absterben.
Nach der Prügelattacke hab ich’s versucht. Ich wollte raus, hab meine Tasche gepackt, als er bei der Arbeit war. Bin durch das Treppenhaus, hab mich am Geländer festgekrallt. Raus durch die Tür, auf die Straße, nach rechts schauen, dann nach links. Die Panik, die mich aus heiterem Himmel überfällt. Die Klammer um meine Brust. Die Atemlosigkeit. Wie ich die Blusenknöpfe öffne, um besser Luft zu kriegen. Es hilft nicht. Der Schweiß perlt von meiner Stirn. Ich kann keinen Fuß vor den anderen setzen. Alles dreht sich, der Boden unter mir flimmert, schwankt. Ein Blick zurück, die rettende Haustür hinter mir. Ich renne in die Wohnung, schließe die Tür hinter mir, rolle mich auf dem Teppich zusammen und heule.
Es bleibt nicht bei dem einen Mal. Ausgerissene Haare, geprellte Rippen, ein angeschlagener Zahn. Und immer wieder seine Erklärungsversuche: „Man hat mir die Beförderung verweigert. Hat mir nen Jüngeren vor die Nase gesetzt. Der Typ sagt mir jetzt, wo’s langgeht. Weißt du, was das bedeutet? Nee, du hast ja keine Ahnung. Hockst daheim, gibst mein Geld aus und musst dir über nichts Sorgen machen.“ Wie es durch meinen Schädel rast: Das war deine Idee! Du wolltest, dass ich mich ganz auf den Haushalt konzentriere, auf unsere Ehe, wolltest für mich sorgen, hast es mir verboten.
Wie er sich mit der Hand übers Gesicht fährt, hektisch blinzelt. Ich kann ihm ansehen, wie sehr er kämpft, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich stößt er es hervor, presst es zwischen seinen Zähnen hindurch: „Es tut mir leid.“
Ich kann den Mist nicht mehr hören, kauf’s ihm nicht mehr ab. Sein Lächeln erreicht mich nicht mehr. Die Schmetterlinge sind tot.
Ich traue mich nicht mehr aus dem Haus, bin es leid, die Sonnenbrille zu tragen, obwohl es bewölkt ist, obwohl es regnet. Bin es leid, den Leuten etwas vorzumachen: Ich bin gegen den Türrahmen gelaufen. Oh, ich bin so ungeschickt, bin gestolpert, es hat mich ordentlich hingehauen. Hatte einen Fahrradunfall, hab mich am Herd verbrüht.
Eine Welle der Scham durchflutet mich. Von meinen Freunden hab ich mich längst zurückgezogen. Markiere die Gestresste: Muss mit Alexander zum Geschäftsdinner, hab einen Termin beim Friseur, muss mich um den Haushalt kümmern … Irgendwann hab ich aufgehört, zurückzurufen. Kostet mich zu viel Kraft, immer zu lügen. Die Wahrheit auszusprechen, das pack ich nicht.
Ich kann mir vorstellen, was die Leute sagen werden: Guck dir die Dumme an, lässt sich von ihrem Macker verprügeln. Irgendwas muss die falschmachen. Alexander ist so ein toller Kerl, fleißig, ehrgeizig, dieses charmante Lächeln. Die sollte sich glücklich schätzen.
Oh Mann! Die haben keine Ahnung. Ich presse die Lippen zusammen, muss daran denken, wie ich früher den Kopf geschüttelt hab über Frauen, die sich verprügeln lassen, kein eigenes Ich mehr haben. Warum geht ihr nicht zur Polizei? Sucht euch nen Therapeuten? Flüchtet ins Frauenhaus?
Es erscheint so einfach. „Es ist aus. Ich will die Scheidung!“ So oft hab ich die Worte vor dem Spiegel geübt. Zu ihm gesagt hab ich sie nie. Ja, ich könnte sie aussprechen, entweder sachlich, ruhig – oder sie ihm ins Gesicht speien. Aber was würde das bringen? Noch mehr Prügel? Knochenbrüche?
Wenn ich ehrlich bin, ist es nicht nur die Angst vor den Schlägen, die mich davon abhält. Da ist die Ungewissheit. Was kommt danach? Schaff ich es ohne Alex? Wird er mich stalken, mir etwas antun? Mich büßen lassen? Finde ich einen Job, nach drei Jahren nur zuhause sein? Kann ich mich selbst versorgen?
Allein bei den Gedanken schaudert es mich. Also harre ich aus, warte. Hoffe, dass er meiner überdrüssig wird, seinen Fokus auf eine Andere richtet. Mir ist klar, dass der Moment vielleicht nie kommen wird, dass ich mein Leben selbst in die Hand nehmen sollte, doch ich bin wie gelähmt, ein Nichts, versunken im Sumpf der Resignation. Hab mich irgendwie an diesen Zustand gewöhnt. Es gibt auch bessere Tage. Nicht alles ist schlecht. Alexander kann so liebevoll sein, so fürsorglich. Vielleicht wird alles wieder gut.
Was red ich mir da eigentlich ein? Die Abstände zwischen den Prügeln werden kürzer.
Es gab eine Zeit, in der ich glücklich war. Eine lebenslustige junge Frau in bauschigen Blumenkleidern, stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Wo ist sie geblieben?
Ich hab’s probiert. Vor ein paar Wochen hab ich meinen Mut zusammengenommen und versucht, ihm klarzumachen, wie’s mir geht. Dass ich nicht mehr kann, mir alles zu viel wird.
Alexander, wie er den Zeigefinger erhebt: „Du willst eine harmonische Ehe? Dann reiß dich zusammen. Du bist schuld“, sagt er immer wieder. „Warum provozierst du mich? Lass es einfach.“
Und ich, wie ich den Blick senke und flüstere: „Es tut mir so leid, Alex. Passiert nicht noch einmal.“
All die Schuldgefühle. Ich bin nichts wert, schaff’s nicht einmal, meinen Mann zufriedenzustellen. Bin ne jämmerliche Versagerin. Ein Nichts.
Ich stehe auf, gehe erneut durchs Haus, schließe die geöffneten Fenster. Es ist eine unwirtliche Nacht, nicht gemacht, um sich draußen herumzutreiben. Der Nebel kriecht durch die Ritzen, beschlägt die Scheiben. Ich lasse die Jalousien herunter und sperre den Nebel aus, den Sturm, den Regen. Doch meine Dämonen kann ich nicht aussperren. Sie sitzen tief in meinen Eingeweiden, fressen mich langsam von innen her auf. Der Wind frischt auf, wirft sich in unregelmäßigen Abständen gegen das Gebäude, wie ein blindwütiger Angreifer. Es ist Punkt vier. Ich werde immer kribbeliger. Wenn nicht jetzt, wann dann? Pack deine Tasche, Denise! Hau endlich ab!
Vor zwei Tagen hat er mich in die Mangel genommen. Da hab ich’s zum ersten Mal bemerkt. Dieses Funkeln in seinen Augen, die Gier in seinem Blick. Da hab ich’s begriffen. Es macht ihm Spaß, turnt ihn an, mich zu quälen, zu erniedrigen. Er geilt sich an meinen Tränen auf, genießt die Macht, ist wie im Rausch. Hab mir gedacht: Denise, du musst da weg. Das kann übel enden. Im Krankenhaus. Der Leichenhalle. Da ist mir klar geworden, dass ich was tun muss. Ich schaff’s nur irgendwie nicht, mich aus dieser Lethargie zu lösen.
Ich setze mich an den Küchentisch, drehe das Handy in meinen Fingern hin und her, bin kurz davor, Anna zu schreiben, dass sie mich abholen soll. Gestern haben wir miteinander telefoniert. Ich hab mich nicht getraut, ihr zu sagen, dass Alex mich schlägt, hab nur vage Andeutung gemacht.
„Du weißt, egal, was ist, ich bin für dich da, Denise. Immer!“
Mir ist klar, dass sie sich Sorgen macht. Will sie nicht belasten, sie hat genug an der Backe.
Ich greife nach dem Handy, fange an zu tippen, lege es beiseite, stehe auf, tigere durch die Wohnung, lande im Badezimmer, drehe den Wasserhahn auf, spritze mir Wasser ins Gesicht. Für einen Moment lang schließe ich die Augen, gehe zurück in die Küche, nehme das Handy erneut und schreibe: Anna, kannst du mich abholen? Jetzt gleich?
Ich starre auf das Display. Ob sie noch wach ist? Da — die blauen Häkchen. Sie hat die Nachricht gelesen.
Bin in ner Stunde bei dir. Ich beeil mich. Ist Alex da?
Nein, glaub nicht, dass er heute Nacht wiederkommt. Denke, der pennt auswärts. Ich trenn mich von ihm. Geht nicht mehr.
Okay. Wir reden später.
Ich gehe ins Schlafzimmer, ziehe meine Sporttasche unter dem Bett hervor und packe. Stopfe alles wahllos rein, was mir etwas bedeutet. Ich will einfach nur weg.
Und dann plötzlich – Poltern auf der Treppe. Derbe Schuhe, er trägt die mit den Stahlkappen. Der Schlüssel im Schloss. Scheiße! Bitte nicht! Warum kommt er heim? Ich hab so gehofft, dass er wegbleibt. Geistesgegenwärtig kicke ich die Tasche unter die Couch. Sei kein Feigling, Denise! Steh für dich ein, sag ihm, was Sache ist. Anna ist unterwegs, lass dich nicht unterkriegen!
Mehrere Anläufe, ehe er die Tür aufstößt, beinahe aus den Angeln hebt. Meine Nerven zum Zerreißen gespannt, die Sinne auf Anschlag gedreht. Er donnert die Tür hinter sich zu. Sein Blick versengt mich wie ein elektrischer Schlag, während er auf mich zuwankt, die Zähne zusammengebissen, so heftig, dass die Kiefermuskeln hervortreten. „Essen!“, presst er hervor.
Ich spüre, wie meine Schultern beben, fixiere einen Punkt an der Wand, mache den Mund auf, um etwas zu sagen.
Er gibt mir einen leichten Schubser. „Ich habe Hunger. Essen!“
Ich gehe in die Küche, schalte den Ofen ein. Teller, Glas und Besteck liegen schon auf dem Tisch. Während ich den Salat aus dem Kühlschrank hole, zittere ich so sehr, dass ein wenig von dem Dressing überschwappt.
„Was bist du für ein Trampel!“, zischt er angewidert. Sein Blick schnellt umher, er geht rüber ins Wohnzimmer, zieht die Tasche unter der Couch hervor, kommt zurück, wirft sie mir vor die Füße, baut sich drohend vor mir auf. Er schüttelt mich so heftig, dass meine Zähne aufeinanderschlagen, lässt jäh wieder von mir ab. „Hexe! Du und deine scheiß Provokationen. Findest du das witzig? Was soll die verdammte Tasche?“
Ich starre zu Boden, Tränen schießen mir aus den Augen und landen auf meinen Füßen.
„Willst du abhauen? Mich verlassen?“ Er schnellt nach vorn, legt mir die rechte Hand an die Kehle. Ich spüre den Druck. Sein Gesicht so dicht vor meinem. Seine Finger drücken fester zu. „Du wirst mich nicht sitzenlassen, verstanden?“ Er spuckt die Worte hasserfüllt aus. „Wo kommen wir da hin? Mein Ansehen, mein Ruf, hast du daran mal gedacht, Miststück!“
Unter dem Druck seiner Finger beginne ich zu röcheln. Seine Miene gefriert, die Ader auf seiner Stirn schwillt an, ich kann sehen, wie sie pocht.
Und dann geht alles ganz schnell. Seine Faust rast auf mich zu. Ich knalle auf den Boden. Die Salatschüssel zerschmettert, überall Scherben, Rucola, Öl. Ein harter Tritt in die Magengrube. Die Luft weicht aus meinen Lungen, ich stöhne laut auf. In Panik robbe ich rückwärts an die Wand, er folgt mir. Hiebe, die auf mich niederprasseln. Ich versuche, mein Gesicht mit den Händen zu schützen. Die Stahlkappen rammen mich in die Seite, etwas knirscht. Er sagt kein Wort. Ich spüre seinen Hass. Und die Schmerzen. Sie sind überall, brennen auf meiner Haut, dröhnen hinter der Stirn, zerren an meinen Gelenken. Mein Hals wird eng, ich keuche. Meine Brust droht zu zerbersten, mein Herz schlägt wie ein Hammer gegen die Rippen. Ich will schreien: Hau ab! Lass mich in Ruhe! Verpiss dich! Doch da kommt nur ein Krächzen. Mein Mund ist trocken, die Lippen aufgerissen, es schmeckt nach Blut. Warum werde ich nicht ohnmächtig? Einfach vergessen, abdriften, diese grausame Welt verlassen. Ich löse mich los von meinem Körper, nur diese Schmerzen, die sind immer noch da. Und dann … Dann verstummt die Welt, gefriert, während die Finsternis von allen Seiten herantobt, mich ummantelt, festhält. Eine Sekunde lang hab ich das Gefühl zu schweben. Denise, gib nicht auf! Kämpf! Ich beiße mir auf die Unterlippe, der jähe Schmerz verschafft mir ein wenig Klarheit.
Er lässt von mir ab, nestelt an seinen Klamotten, sie landen auf dem Teppich. „Ab ins Bett! Wir gehen schlafen.“
Ich rapple mich hoch, das Nachthemd ist zerrissen, ich falte es, lege es auf die Couch. Mir ist flau im Magen, ich kralle meine Nägel in die Sofalehne, atme tief durch. Ich weiß, was jetzt kommt. Alex, der mir zeigt, dass ich ihm gehöre. Alex, der mir demonstriert, dass ich nichts zu melden habe. Er trommelt mit den Fingerspitzen gegen die Wand, mustert mich. Ich kann die Rädchen in seinem Schädel förmlich rattern hören. Er wippt nervös mit dem Fuß. „Worauf wartest du? Jetzt komm!“
Ich gehe mit hängenden Schultern hinter ihm ins Schlafzimmer, öffne den Schrank, ziehe den Pyjama hervor.
„Den brauchst du nicht!“ Ein hämisches Grinsen, bevor er mich aufs Bett wirft. Ich liege unter ihm, seine Finger verhaken sich in meinen Haaren, dann ballt er eine Hand zur Faust. Wie gerne würde ich ihn von mir runterstoßen. Doch ich liege da, steif wie ein Brett, denn ich weiß – jede Gegenwehr würde ihn nur noch mehr anturnen.
Mit einem Lächeln öffnet er die Faust und streichelt über meine Wange. „Wer hat hier das Sagen? Wer hat hier das Sagen?“, wiederholt er mehrmals. Dann nimmt er mich brutal, drückt meine Arme nach hinten, beißt mir in den Hals, in die Brustwarzen. Kurz bevor er kommt, schlägt er mich ins Gesicht. Dann ist es vorbei.
Ich liege neben ihm, starre an die Decke. Sein Atem, die kurzen Schnarcher zwischendurch – all das verursacht mir Gänsehaut. Jedes Mal, wenn er sich bewegt, zieht sich mein Magen zusammen. Bitte nicht! Wach nicht auf! Alexander hat einen leichten Schlaf. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, aber Anna hat noch nicht geklingelt. Ich blinzle, die Tränen hören auf zu fließen. Ich kann nicht mehr. Die Erschöpfung droht, mich zu übermannen, ich kämpfe dagegen an. Obwohl die Schmerzen mich schier wahnsinnig machen, gleite ich mit letzter Willenskraft über die Bettkante und richte mich auf. Ich mache kein Licht. Der Schrank ist noch offen, ich suche nach meinen Klamotten, streife sie mir über. Egal was. Wo ist mein Handy? Mir wird schwindlig, alarmiert stütze ich mich an der Wand ab. Mein Körper darf mir jetzt nicht den Dienst versagen. Ich schleiche in die Küche. Aua! Ein heftiger Schmerz in der rechten Fußsohle. Ich schwanke, stoße gegen einen Stuhl, der mit einem lauten Poltern auf die Fliesen kracht. Oh nein! Jetzt nichts wie weg. In meinem Kopf dröhnt es, das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich ziehe die Scherbe aus dem Fuß, ignoriere das Blut, ein kurzer Blick auf das Display. Anna wird in etwa zwanzig Minuten da sein. Ich humple in den Flur. Scheiß auf die Schuhe! Ich muss hier raus. Der Griff zur Türklinke. Mach auf, Denise! Geh endlich! Nur noch ein paar Schritte.
„Was hast du vor, Schlampe?“
Das darf nicht wahr sein! Ich hab ihn nicht kommen hören. Mein Körper versteift sich. Er packt mich am Arm, ich reiße mich los, öffne die Tür. Da ist plötzlich Kraft in mir, Adrenalin durchströmt mich. Ich mache einen Schritt hinaus ins Treppenhaus. Er hinterher. Seine Hände an meinen Haaren, er reißt daran.
„Bleib hier! Du bewegst dich nicht! Du atmest nicht mal ohne meine Erlaubnis“, brüllt er.
Er drückt mich gegen die Wand. Ich recke mein Kinn nach vorn, hebe den Blick, sehe ihm in die Augen. „Lass mich endlich in Ruhe!“
Er lacht, ein spöttisches Lachen, voller Hohn. Sein Gesicht zu einer Grimasse verzogen, eine Wolke Alkohol wabert mir entgegen. Ich würge. Dann der Schlag, er trifft mich an der rechten Schläfe.
„Nein!“, schreie ich mit aller Kraft.
Fassungslos glotzt er mich an. Ich weiche ihm aus. Wohin? Flüchten, die Treppe runter? Kann ich es schaffen? Soll ich bei den Nachbarn klopfen? Warum ruft niemand die Polizei? Ich starre in das leere Treppenhaus, nähere mich der Brüstung. Er nimmt Anlauf. In letzter Sekunde schaffe ich es auszuweichen. Er stolpert. Seine Hände am Geländer, seine Gesichtszüge entgleisen, als er den Halt verliert. Ich presse meinen Rücken gegen die Wand. Er brüllt. Ich kann es nicht hören, sehe nur den weit aufgerissenen Mund. Meine Ohren dröhnen, mein Schädel gleicht einem Wattebausch. Dann kippt er. Kopfüber in den Abgrund. Fünf Stockwerke. Jetzt höre ich den Schrei. Gellend. Der Schrei eines Wahnsinnigen.
Stirb!, denke ich für eine Sekunde.
An das, was danach passiert ist, kann ich mich kaum erinnern. Da sind nur Bruchstücke, winzige Splitter. Die Sirenen, der Krankenwagen. Wie sie ihn wegbringen.
Der Sanitäter, der meine Wunden versorgt, mir eine Infusion legt. Anna, die im Krankenwagen mitfährt, beruhigend auf mich einredet. Das Krankenzimmer, der penetrante Geruch nach Desinfektionsmittel, die Schwester, die mich mit Brei füttert. Wie es mir nach und nach wieder besser geht, ich selbstständig essen kann, der Geschmack von Wackelpudding auf meiner Zunge.
Die Polizistin, die ihre Hand auf meinen Arm legt. „Ihr Mann wird den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen. Durch den Unfall ist er querschnittsgelähmt. Er hat außerdem eine schwere Kopfverletzung erlitten, kann sich an nichts erinnern. Er weiß weder, dass er verheiratet ist, noch wer Sie sind. Auf Fotos hat er nicht reagiert. Er kann Ihnen nichts mehr tun. Seine Schwester hat ihn zu sich nach Hamburg geholt.“
„Und was passiert mit mir?“
Sie lächelt. „Rein rechtlich gesehen nichts. Ihre Nachbarin, Frau Degenhart hat uns alles erzählt. Wir wissen von den Schreien, dem Krach, den Schlägen. Frau Degenhart hat durch den Spion geschaut und die Polizei gerufen.“
„Ich kann es nicht fassen. Niemals hätte ich gedacht, dass es einen Zeugen gibt. Ich war mir sicher, dass mir niemand glauben würde.“
Sie drückt meinen Arm. „Wollen Sie Anzeige erstatten?“
„Ich weiß nicht.“
„Denken Sie darüber nach. Sie brauchen das nicht sofort zu entscheiden.“
Ich nicke. „Das mache ich.“
„Da ist Besuch für Sie. Ich lasse Sie jetzt alleine.“
Die Polizistin geht aus dem Zimmer, eine blonde Frau mit wilden Ringellocken kommt herein.
„Anna!“ Ich schluchze, krampfe mich an der Bettdecke fest. „Ich bin so froh, dass du da bist.“
Zwei Wochen später stehe ich in der Wohnung, in der ich mit Alexander gelebt hab. Sie ist fast leer. Ich hab alles gepackt. Alexanders Schwester hat seine Sachen abholen lassen. Mein Blick gleitet zu dem hellen Quadrat an der Wand, an der unser Hochzeitsfoto hing. Meine Gedanken driften ab.
Warum? Diese verdammte Frage stell ich mir jeden Tag. Ich kann’s mir nicht erklären. Finde keine Antwort darauf. Ich sehe meine Eltern vor mir. Wie Mama am Herd steht und für uns kocht. „Das ist mein Leben. Für meine Familie da zu sein füllt mich aus.“ Sie lächelt, trocknet sich die Hände am Geschirrtuch, ihre Wangen gerötet, ihre Augen funkeln.
Sie haben mich nie geschlagen. Es gab mal Hausarrest, aber höchstens ein paar Stunden lang. Oder das Taschengeld wurde gestrichen. Mein Vater hat nicht gesoffen, ich wurde nie missbraucht. Ich erinnere mich an Harmonie, hab die beiden nie streiten gehört. Gesund ist das auch nicht, schießt es mir durch den Kopf. Meine Kindheit, so normal, so behütet. Vielleicht hat Alexander mich deswegen überrumpelt. Ich hab’s nicht kommen sehen.
Warum?
Ich wünsch mir so sehr eine Antwort auf diese verdammte Frage.
Wenn ich jetzt an unsere Zeit zurückdenke, kommt’s mir so vor, als wäre das gar nicht mir passiert. Als hätte ich die letzten Jahre nicht selbst erlebt. Jedenfalls nicht bei vollem Bewusstsein.
Mit einem Mal fröstle ich, schlinge meine Arme um den Oberkörper, atme tief durch.
„Es ist vorbei, Denise. Alles wird gut. Wirst schon sehen.“ Anna reißt mich aus dem Gedankenwirrwarr. Sie lehnt am Türrahmen, den Wischmopp in der Hand.
„Ich frag mich warum. Es macht mich ganz kirre, dass ich’s mir nicht erklären kann.“
„Ach, Süße. Ich kann dich so gut verstehen. Ich frag mich das auch. Aber vielleicht gibt’s auf manche Fragen keine Antworten. Wichtig ist, dass du raus bist aus dem Albtraum. Dein Selbsterhaltungstrieb hat sich gemeldet. Nur das zählt. Du musst das alles erst mal verarbeiten. Lass dir Zeit.“
„Ich hab so Angst. So Angst, dass mir das wieder passiert.“
Anne legt den Wischmopp beiseite, kommt auf mich zu, schließt mich in ihre Arme. Ich lehne meinen Kopf an ihre Schultern, der Duft von ihrem Haarshampoo in meiner Nase. Lavendel. Sie ist da, gibt mir Kraft. Ihre ruhige Stimme, ihre Sanftmut. Ich bin froh, dass sie zu mir hält. Lange stehen wir beieinander, Seite an Seite.
Es tut weh, ihr alles anzuvertrauen, was in den letzten Jahren geschehen ist, doch es muss sein. Zum ersten Mal spreche ich es laut aus: Ich bin ein Opfer.
Anna hält mich fest, bis ich mich aus der Umarmung löse. Die Abendsonne lässt ihr blondes Haar aufleuchten. „Hier, ich hab was für dich.“ Sie öffnet die Hand. Ein tiefblauer Stein liegt darin, glattgeschliffen, glänzende Oberfläche.
Ich lasse mich zu Boden sinken, umschlinge meine Knie, weiß nicht, was ich erwidern soll.
Sie setzt sich neben mich, streckt mir den Stein entgegen. „Das ist ein Lapislazuli. Er hat eine ganz besondere Bedeutung.“
„Welche?“
„Man sagt, dass er das Selbstvertrauen stärkt und hilft, das wahrhaftige Wesen eines Menschen zu erkennen.“
Ein bitteres Lachen. „Das kann ich gut gebrauchen. Was hab ich mich getäuscht.“
„Wir alle. Keiner hat hinter seine Fassade geblickt. Ich dachte, ihr wärt glücklich.“
„Ich hab dir allen Grund gegeben, dass zu denken. All die Ausreden, die Absagen.“ Meine Stimme bricht, ich hole tief Luft, reibe mir über die Augen, fahre fort: „Ich hab mich geschämt, hab mir die Schuld gegeben, dachte, alles wird wieder gut.“
„Mach dir keinen Kopf. Es gibt nichts, wofür du dich bei mir rechtfertigen müsstest. Du kannst nichts dafür.“ Anna lächelt, streichelt mir übers Haar.
Sie richtet sich auf, reicht mir die Hand. Wir stehen voreinander. Sie hält mir den Stein hin, ich nehme ihn. „Lapislazuli“, raune ich.
Sie nickt, verschließt meine Finger über dem glitzernden Blau. „Er wird immer bei dir sein, genau wie ich. Und jetzt komm …“
Ich ziehe die Schultern ein. Aus jeder Ritze des Gebäudes sickert er – der faulige Geruch des Bösen, der Niedertracht, des Leids. Trauer klebt wie dicker Teer an den Wänden. Ein letzter Blick. Stille überall. Wir verlassen diesen Ort. Ich ziehe die Tür hinter mir zu.