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Ich dich nicht
Es ist kalt und ich habe Durst. Wo ist Wasser. Nicht einmal eine faulige Pfütze. Nur Sand. Kein Tier. Kein Halm. Kein Strauch oder Baum. Nur Weite und kein Horizont. Nebel kriecht in meine Glieder. In meinen Lungen knirscht es. Muss mich ausruhen. Mit jedem Atemzug werde ich matter. Zu schwer. Lass mich fallen. Auch wenn das mein Tod ist.
Es ist mein Albtraum.
Ich träume auch andere Dinge, aber blicke kurze Zeit danach nur noch auf ein diffuses Spiel aus Licht und Schatten zurück. Es ist, als ob mein Geist zurückschreckt vor dem, was in der Tiefe schlummert. Warum sollte ich sonst erwachen? Mein Herz klopft laut, pocht empört gegen Rippen, als wäre es sein Recht, geschützt hinter Gittern leben zu dürfen. Irgendwann schlafe ich wieder ein, darauf bedacht, nicht zu träumen, seufze erleichtert, als der Wecker klingelt.
Mein Gesicht ein fahles Oval, die Haare strähnig. Der Spiegel grausam. Ich grinse mein Gegenüber trotzdem freundlich an. Es antwortet mit hochgezogenen Brauen, der rechte Mundwinkel ist leicht nach unten verzogen. Sieh mir in die Augen! Verdammt!
Keine Zeit für die Morgentoilette. Schnell ins Büro. Wo sind meine Autoschlüssel?
Es ist schon warm. Die Erde riecht nach Frühling und die Kastanien stecken ihre Lichter auf. Ich sitze in meinem Auto und die Landschaft schwebt an mir vorbei. Die Tachonadel zeigt konstant 50. Hinter mir Hupen, eine weiße Taube überholt mich. Der Flügelschlag verwirbelt die Blütenpollen auf der Flugbahn. Eine Joggerin läuft zäh wie durch Treibsand auf dem morgendlichen Asphalt. Ich höre sie keuchen. Ihr Gesicht ist beschattet durch eine Kappe. Regina? Drehe an dem Einschaltknopf meines Radios, Welle 1 Nord, die Morgenandacht. Ab Morgen habe ich Urlaub. Der Verkehr wird dichter. Ich konzentriere mich auf die Bremsleuchten vor mir. Endlich komme ich an mein Ziel. Flüchte in das Gebäude und an meinen Schreibtisch. Endlose Aktenberge versprechen Kurzweil, doch als ich die oberste Akte aufschlage, durchzuckt mich direkt über der Nasenwurzel ein Schmerz.
Rauschen. Weiß in meinem Kopf. Schwarz vor meinen Augen. Wir wollen kochen. Ich filetiere den Fisch. Plötzlich Stromausfall. Regina lacht, sucht Kerzen. Ich rudere hilflos mit den Armen. Ich hasse dieses Lachen, da ich nicht weiß, wo oben oder unten ist und stolpere ihr hinterher.
Eine Hand zupft an meinem Ärmel.
„Bine, du siehst aus, als würdest du gleich umkippen!“
„Nein“, antworte ich. „Mir geht’s gut, Helga“, sage ich automatisch hinterher, lächele sie an. Ihre Sommersprossen tanzen auf der Nase.
„Die Blütenpollen reizen wohl heute meine Schleimhäute.“
Die Joggerin überholt mich keuchend. Die Taube kackt auf mein Auto. Die Bilder zerfließen ineinander.
„Bine? Du bist so komisch.“
„Alles in Ordnung Helga, ich war in Gedanken.“
„Na gut, der Reimers hat gesagt, ich soll mit dir die Urlaubsübergabe besprechen.“
„Jetzt? Ich muss aber diesen Vorgang erst abschließen“, stottere ich, bemüht, meine Fassung zu bewahren, als ich Helgas Blick auf meine Aktenberge im Rücken bemerke.
„Entschuldige“, sagte ich und rücke von meinem Schreibtisch ab. Wie von einer Tarantel gestochen springe ich auf und hetze zu den Toiletten.
Erbrochenes klatscht in die Kloschüssel und einige Spritzer treffen mein Gesicht und ich würge eine weitere Welle des Ekels hervor.
Wann hört es auf?
Mit Meeresrauschen im Kopf schlage ich die Tür hinter mir zu. Das Messer in der Hand eile ich zum Auto, trete das Gaspedal durch, die Räder mahlen, im Rückspiegel Regina, die sich krümmt. Die letzte Fähre mein Rettungsanker.
„Was hast du?“
„Nichts!“
„Du schweigst seit vier Stunden.“
„Es ist aus.“
„Was?“
„Du nervst!“
„Aber morgen früh fahren wir doch nach Amrum!“
„Na und?“
„Komm heute Abend zu mir“, sagt sie, „wir reden dann“.
Ich wische mir den Mund mit Klopapier ab. Jemand klopft an die Klotür.
„Bine?“
Die Aktenberge wandern zu Helga.
Ich atme auf und wieder ein. Das Lenkrad ist klebrig. Vor mir zucken kleine Blaulichter, sie wachsen, ein Rettungswagen wie Wind jaulend jagt unter rosa Wetterleuchten Richtung Leuchtturm.
Wie in Trance durch den Feierabendverkehr nach Hause. In der Mikrowelle wärme ich mir ein Fertiggericht, nehme mir eine Cola und falle auf die Couch, drücke den Knopf der Fernbedienung. Bilder flimmern über den Bildschirm. Ich zappe mich durch die Programme, bleibe hängen bei Rote Rosen. Die Lieblingssendung meiner Mutter.
„Wir bekommen heute Besuch“, erwähne ich wie beiläufig, nachdem meine Mutter aufgetischt hat. Mutter presst die Lippen zusammen.
„Eine Freundin, sie heißt Regina.“
„Möchtest du Erdbeeren?“
„Ich liebe sie.“
„Ich hole auch gleich die Schlagsahne dazu.“
„Hast du gehört?“
„Was?“
Ich hasse Regina, ich hasse Mutter. Weil es ebenso schmerzt, wie es gut tut, Reginas Haut auf meiner zu fühlen. Meine Mutter sitzt wie eine Glucke vor uns, Regina streichelt meine Hand. Die Augen meiner Mutter füllen sich mit Tränen. Ich ziehe aus.
Regina und ich. Sie blinzelt tränenschwer und ich hauche ihr einen Kuss auf die Augen, sage, was sie hören will. Sie schluchzt und ich nehme sie in den Arm, wie ein Kind, das man trösten möchte, liebkose sanft ihr Haar.
Mein Handy klingelt.
„Frau Sabine Weichert? Hier Schwester Gertrud von der Heliosklinik.“
„Ja?“
„Frau Magda Reichert hat diese Telefonnummer hinterlegt.“
„Und?“
„Ist das Ihre Mutter?
„Nein. Ist sie gestorben?“
„Tut mir leid, Auskünfte kann ich nur den Angehörigen mitteilen.“
„ Ach so. Wiederhören.“
Wir fahren zusammen nach Amrum.
Ich schalte um zu CSI. In der Werbepause brauche ich was zu trinken. Am besten Wodka.
Regina hat gesagt, ich bin magisch. Ich bin zauberhaft.
Nein, ich bin böse, ich bin gemein, schreie sie an. Sie widert mich an.
Vorsichtig manövriere ich das Auto auf die Fähre. Oben an Deck werfe ich das Messer ins Meer. Ein Blitz spaltet den Horizont und ich spitze die Lippen wie zu einem Abschiedskuss. Mit Reginas Herz in der Hand verlasse ich wie befreit die Insel.
Das CSI Team hat es wieder geschafft. Alle Mörder hinter Schloss und Riegel. Reginas toter Körper wurde aber nie gefunden. Verirrt im Nebel. Das Watt ist tückisch. Die Joggerin hat Reginas Mund.
„Wann haust du endlich ab, Regina!“, schreie ich. Mein Nachbar klopft an die Wand.
„Wichser“, heule ich, „Scheiß Wichser!“